Leo Kofler: Der marxistische Begriff der Freiheit [1951]
Man mache sich nichts vor: Es gibt keine gesellschaftliche Freiheit ohne Freiheit für das Individuum, das nach Autonomie, Selbstbestimmung und Unabhängigkeit strebt, und das, solange es menschliche Geschichte gibt, unter Freiheit die möglichste Freiheit von allen Schranken und Bindungen verstanden hat, versteht und verstehen wird. Im Vergleich zu den vorangegangen Gesellschaftsepochen stellt die bürgerliche Gesellschaft innerhalb der Klassengeschichte die letzte und höchste Form der Freiheit dar. Aber es ist ein Irrtum der bürgerlichen Ideologie, diese Form der Freiheit mit der absoluten Freiheit gleichzusetzen. Denn die bürgerliche Freiheit, die dem Individuum in weitgehendem Maße freie Bewegung gewährt, stellt gleichzeitig eine Form dar, die eine solche Freiheit nur vortäuscht, indem sie unter dem Schein der Freiheit die Weiterexistenz starker freiheitsbeschränkender Bindungen, d.h. wesentliche Elemente der Unfreiheit, nicht bloß zulässt, sondern geradezu voraussetzt. Der Widerspruchscharakter der bürgerlichen Freiheit ist Ausdruck des Widerspruchscharakters der bürgerlichen Klassengesellschaft überhaupt. Er liegt begründet in der Tatsache, dass einerseits in der bürgerlichen Gesellschaft das Individuum – jedes Individuum – als völlig autonomer und gleichberechtigter Warenbesitzer und damit als völlig autonomer und gleichberechtigter Vertragspartner auftritt, andererseits aber der einseitige, d.h. ganze Klassen ausschließende Besitz an den Produktionsmitteln gleichzeitig diese Autonomie und Gleichberechtigung der Individuen aufhebt. Der durch diese Tatsache ausgedrückte Widerspruch ist der Widerspruch zwischen dem bloß rechtlichen (formalen) und dem auf dem Besitz beruhenden faktischen (sozialen) Zustand in der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Aufhebung des Widerspruchs zwischen der formalen Freiheit und der sozialen Unfreiheit bedeutet die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt. Sie ist innerhalb dieser Gesellschaft nicht möglich.
Wenn wir zu Beginn eine wesentliche Bestimmung der Freiheit darin erkannten, dass sie dem Individuum die möglichste Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gewährt, so ist zweifellos der Sozialismus, der die notwendige Folge der Aufhebung des obigen Widerspruchs sein muss, die historische Inkarnation der Freiheit. Auf dieser Höhe der historischen Entwicklung, die nur von Reaktionären und Unwissenden in ihrer historischen Möglichkeit geleugnet werden kann, ist die Freiheit des Individuums sowohl nach der rechtlichen Seite hin (etwa im Gegensatz zur feudalständischen, in juristischer Form auftretender Bindung) wie auch nach der ökonomischen Seite (im Gegensatz zu jeder Bindung) voll herstellt.
Aber es wäre, besonders für die Sozialisten selbst, verhängnisvoll zu glauben, dass mit dieser Bestimmung der Freiheit als der Freiheit des Individuums von Bindungen, durch die es sich anderen Individuen oder objektiven Mächten ökonomisch oder rechtlich unterworfen sieht, auch die letzte Bestimmung des Freiheitsbegriffes gewönnen wäre.
So sehr es wahr und verständlich ist, dass in aller Klassengesellschaft die Sehnsucht nach dem Abschütteln solcher Bindungen die Menschen beherrscht, d.h. dass das einfache Nichtvorhandensein dieser Bindungen, also etwa bloß Negatives, mit Freiheit schlechthin gleichgesetzt wird, so berechtigt ist es auch, einem solchen bloß negativen Freiheitsbegriff mit Misstrauen zu begegnen. Ein solches Misstrauen hat nichts zu tun mit jener reaktionären Verleumdung des Menschen, wonach die der vollen Freiheit teilhaftig gewordenen Individuen sich nur noch der Faulenzerei, Freßsucht und Fleischeslust hingeben und der Entartung anheimfallen werden. Unser Misstrauen gegen den bloß negativen Freiheitsbegriff resultiert vielmehr gerade aus der Überzeugung von der unendlichen Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit. Diese Überzeugung teilen wir grundsätzlich mit den großen bürgerlichen Humanisten der bürgerlichen Aufstiegszeit, die aus den Erkenntnissen des wissenschaftlichen Sozialismus erfließenden wesentlichen Unterschiede in der Auffassung abgerechnet.
Zu den beiden negativen, weil auf die bloße Überwindung von historisch entstandenen gesellschaftlichen Bindungen und Schranken gerichteten Bestimmungen der persönlichen oder formalen und ökonomischen oder sozialen Freiheit kommt die dritte positive Bestimmung hinzu: In ihr begreift sich die Tatsache, dass der Mensch nur dann voll und ganz in den Genuss den Freiheit gelangt und im eigentlichen Sinn des Wortes freies Wesen wird, wenn er auf jener Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung angekommen ist, auf der die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit zu Totalität und Harmonie praktisch geworden ist.
Es bleibt noch in diesem Zusammenhang die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis die beiden negativen Bestimmungen der Freiheit zu ihrer positiven Bestimmung stehen. Die Antwort lautet: In dem Verhältnis der Voraussetzungen zur Verwirklichung der Freiheit. Dabei sind diese Voraussetzungen gleichzeitig nur im Hinblick auf das endgültige Ziel der sozialistischen Freiheit bloße Voraussetzungen, im historischen Prozess selbst wiederum zu verwirklichende Ziele und daher ihrerseits Stufen der Verwirklichung der Freiheit.
Diese dialektische Bezüglichkeit und Widersprüchlichkeit im historisch-konkreten Begriff der Freiheit nicht erkannt oder nicht genügend beachtet zu haben ist der gemeinsame Mangel zahlreicher sonst völlig verschiedener Ansichten über die Freiheit, angefangen von den bürgerlichen Humanisten des 18. Jahrhunderts bis hinauf zu den Vulgarisatoren des Marxismus, die die Freiheit aus dem Fehlen der Unfreiheit erklären.
Erstveröffentlichung unter dem Pseudonym K. Löwe in der Zeitschrift Ziel und Weg, Nr.3, 1. Dezember 1951.
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