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» Warum ich Marxist geblieben bin [1988]

Warum ich Marxist geblieben bin [1988]

Es gibt persönliche und objektive Gründe, die bewirkt haben, daß ich im Gegensatz zu vielen anderen der marxistischen Überzeugung treu geblieben bin. Der persönliche ist kurz zu beschreiben. Er liegt in der ausgezeichneten und in den „goldenen zwanziger Jahren“ auch im Ausland vielbeachteten theoretischen und politischen Erziehung, die uns jungen Leuten das „rote Wien“ angedeihen ließ. Es ist hier nicht der Ort, dies im einzelnen zu schildern. Aber es sei vermerkt, daß es symptomatisch ist für diese Erziehung und Schulung, daß ich, nachdem ich nach heftigen Auseinandersetzungen als Professor in Halle/Saale mit der SED die DDR (übrigens als erster „Dissident“) verließ, mich nicht vom Sozialismus abwandte, sondern bereits 1952 schrieb: „Der stalinistische Terror ist eine Entartungserscheinung, dem nicht historische Notwendigkeit anhaftet. Er wird daher früher oder später überwunden werden. Aber das bedeutet keineswegs Rückkehr zum Kapitalismus. Der Stalinismus wird verschwinden, aber die sozialistische Planwirtschaft wird, diesmal auf demokratische Grundlage gestellt, bleiben.“ (Stalinismus und Bürokratie, demnächst in erweiterter Auflage unter dem Titel Aufbruch in der Sowjetunion im VSA-Verlag, Hamburg). Die Geschichte bleibt nur in den Köpfen der bürgerlichen Nihilisten stehen. Wirft man uns Marxisten Utopismus („Heilsgeschichte“, „Diesseitsreligiösität“, „Eschatologie“ usw.) vor, so ist zu antworten, daß wir den historischen Fortschritt als einen zwar widerspruchsvollen betrachten, aber zugleich als einen, der in asymptotischer (unendlicher) Manier unaufhaltsam sich durchsetzt; damit hängt aufs engste zusammen, daß wir die Meinung vertreten, es gebe keinen dümmeren Utopismus als jenen, der im Glauben an die Ewigkeit des Kapitalismus besteht.

Wenden wir uns, so kurz es geht, den objektiven Gründen zu, weshalb ich Marxist geblieben bin. Mit der Auflösung der mittelalterlichen Ständeordnung, insbesondere seit der französischen Revolution, ist dem einzelnen Individuum jene subjektive Freiheit zugestanden worden, durch die das reine, unverschleierte Sichherausstellen der subjektiven Verhaltensformen den Blick frei machte für den Prozeß des dialektischen Umschlagens der vielfältigen individuellen Handlungen und deren gegenseitigen Beeinflussungen in den objektiven gesellschaftlichen Prozeß, wie er sich in seiner Allgemeinheit über die Köpfe der einzelnen Individuen hinweg durchsetzt. Wir haben es hierbei mit einer Art grundsätzlicher Gesetzmäßigkeit (nicht „Naturgesetzlichkeit“, wie oft unterstellt) zu tun, deren Wesen sich so recht darin zu erkennen gibt, daß der so zustande gekommene objektive gesellschaftliche Prozeß seinerseits zur Grundlage dessen wird, in welcher Weise sich die einzelnen Individuen „frei“ entscheiden und handeln. Das auf dieser Grundlage des ständigen Umschlagens des individuellen Handelns der vielen Subjekte in den objektiven Prozeß und umgekehrt des Umschlagens dieses objektiven Prozesses – der als „Umstände“ erlebt wird – in das subjektive Denken und Handeln sich aufbauende System bildet den Historischen Materialismus. Dieses System des Historischen Materialismus, das sich im bisher gesagten bei weitem nicht erschöpft und das ich in verschiedenen meiner Schriften eingehend analysiert habe, ist ebenso unumstößlich wie das System der Naturgesetze, das die äußere Natur kennzeichnet. Eine solche in der Jugend erworbene und vielfach sich bewahrende Einsicht kann man nicht ablegen wie einen Mantel.

Die zweite Natur

Ideologische Bindungen an die bürgerliche Gesellschaft sind es vor allem, die sich dem Verständnis der dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehung verschließen (ähnlich wie es seinerzeit solche Bindungen gewesen sind, die das Weltbild eines Galilei der Verdammung überließen). An diesem Orte seien einige wenige Konsequenzen umrissen, um zu zeigen, daß man an diesem theoretischen System festhalten muß, wenn man etwas von der Wesenheit der Geschichte begriffen haben will. Der mit Bewußtsein begabte Mensch, sagt Marx im Kapital – er spricht beispielhaft vom Baumeister -, hat im Gegenteil zu bewußtlos tätigen Biene seinen Plan „schon fertig im Kopf, bevor er ihn in der Wirklichkeit durchführt“. Nur der Mensch verhält sich somit teleologisch (bewußt zielgerichtet), woraus die menschliche Arbeit resultiert. Um sich auf dieser Linie der Artikulation zu anderen Menschen verhalten zu können, bedarf der Mensch der Sprache. Bewußtsein, Telos, Arbeit und Sprache stellen deshalb die den Menschen als solchen definierenden Grundbestimmungen dar. Wobei Sprache sich durch Begriffe definiert, über die das instinkt-regulierte Tier nicht verfügt, deshalb auch keine Sprache im eigentlichen Sinne hat. (Der Unsinn, zu behaupten, daß Arbeit und Sprache schon vor dem Menschen existiert haben, bleibt Jürgen Habermas vorbehalten – Rekonstruktion des Historischen Materialismus, S.151).

Es fällt schwer, sich von solchen Vorstellungen zu lösen, insbesondere, wenn sie mit historischem Inhalt gefüllt werden und auf die bürgerliche Gesellschaft Anwendung finden, also Aktualität gewinnen. Etwas zu allgemein gefaßt, kann man sagen, daß sich daraus die marxistische Ideologienlehre ergibt. Diese hier zu beschreiben, ist nicht möglich, jedoch ein Kernproblem möge den Sachverhalt demonstrieren. In jeder Gesellschaft, deren Entwicklungsgrundlage die erreichte Höhe der Mittel bildet, derer der Mensch bedarf, um lebensmäßig und kulturell sich abzusichern, d.h. der „Produktivkräfte“, wird dieser Mensch zum integrierten Bestandteil der jeweiligen „Umstände“, wie wir bereits gesehen haben, obgleich er diese Umstände zugleich selbst schafft. Die Integration in diese Umstände und mit dieser eng verbunden, die Identifikation mit diesen Umständen gelingt (in sozialpsychologischer Manier) vor allem durch die erlebnismäßige Verinnerlichungen dessen, in das der Einzelne hinein geboren wurde und an das er sich gewöhnt hat, das er mit einem Wort als eine Art „Natur“ begreift – weshalb Marx auch von der „zweiten Natur“ sprechen kann (wenn auch in erster Linie bezogen auf den Kapitalismus). Die Gesamtheit der zur Identifikation gelangenden Vorstellungen macht die Ideologie einer bestimmten Zeit aus, die ihrerseits wiederum die Voraussetzung bildet für die teleologischen Setzungen und dementsprechenden Handlungen der Individuen.

Ist die Identifikation mit den bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen das sozialpsychologische Produkt ihrer Verinnerlichung, so sind die daraus entspringenden Handlungen nichts anderes als die in gegengleicher Richtung zum Vorschein kommende Veräußerlichung. Wir sprechen von der Dialektik von Verinnerlichung und Veräußerlichung. (In einem anderen Zusammenhang spricht Marx von der „Dialektik von Versubjektivierung und Verdinglichung“.) Die Einsicht in diesen Zusammenhang ist deshalb gerade heute von großer Wichtigkeit, weil sich mit ihrer Hilfe zeigen läßt, daß Klassenherrschaft nicht ausschließlich vom „ökonomischen Interesse“ abhängt, wie von dogmatischer Seite behauptet, sondern dieses Interesse selbst stärkstens unterstützt wird durch den aufgewiesenen dialektischen Vorgang der Verinnerlichung und Veräußerlichung, dem nicht nur die unterdrückten Klassen (mit Ausnahme von Zeiten revolutionärer Bewußtmachung) unterworfen sind, sondern auch die herrschenden, wenn auch zu deren Vorteil. Würde sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft auf nichts anderes aufbauen, als an dem bewußten ökonomischen Interesse, hätte sie keinen so lange andauernden Bestand. Die herrschenden Klassen sind infolge des aufgewiesenen sozialpsychologischen und damit auch ideologischen Prozesses der Verinnerlichung und Veräußerlichung zutiefst durchdrungen von der Idee der Richtigkeit ihrer „Ordnung“ und damit ihres Denkens und Handelns. (Nicht ohne Grund bemerkt Marx, daß auch die Herrschenden vom Sozialismus befreit werden müssen.)

Zwei Internationalen

Wenn man schon die Frage stellt, weshalb Marxisten trotz mancher Misere, die scheinbar ihre Ansichten widerlegt, Marxisten geblieben sind, so muß für einen Augenblick auch auf die historischen Bedingungen der Gegenwart eingegangen werden. Der Faschismus hat es zuwege gebracht, trotz seiner äußerlichen Niederlage, hinsichtlich der alten europäischen Arbeiterbewegung und ihrer hervorragenden Kader – über deren Mängel, die nicht zu leugnen sind, hier nicht geredet werden kann – ein Trümmerfeld zu hinterlassen; ein Trümmerfeld, auf dessen Ruinen sich die bürgerlich-kapitalistische Gesellschaft neu konstituieren und festigen konnte. Die Festigung gelang in erster Linie weil dank des Faschismus keine ernsthafte und das heißt, keine klassenkämpferische Opposition mehr entstehen konnte.

Aber das bedeutet nicht, daß der Klassenkampf völlig verschwunden ist, im Gegenteil, er hat sich überraschenderweise in eine völlig neue Qualität gekleidet und damit sogar an Schärfe zugenommen. Es ist das eingetreten, was eintreten mußte, denn die vom Historischen Materialismus in ihrer Gesetzmäßigkeit erfaßte Weltgeschichte kann mancherlei unberechenbare Umwege einschlagen, aber sie läßt sich nicht betrügen. Während vordem der Klassenkampf sich wesentlich auf den verschiedenen nationalen Böden abspielte und sich von daher die beiden marxistischen Internationalen konstituierten, verkehrte sich die politische Weltsituation in unserer Zeit ins gerade Gegenteil. Die Welt ist wieder gespalten in zwei „Internationalen“, nämlich in eine sozialistische-marxistische und in eine bürgerlich-konservative – in eine revolutionäre und eine reaktionäre -‚ wobei sowohl auf der Verhandlungsebene, wie wir sie kennen, wie auch auf der Ebene des Mißtrauens und der politischen wie kulturellen Konkurrenz einschließlich der entsprechenden Ideologien ein harter klassenkämpferischer Ton herrscht, wenn man genau hinzuhören versteht. Die großen Gestalten eines Gorbatschow und eines Deng-Xiao-Ping, beide Symbole einer neuen Zeit, eines Aufbruchs in Richtung eines antistalinistischen Sozialismus, bestärken jeden tiefer blickenden Marxisten, daß nicht der geringste Grund besteht, dem Marxismus den Rücken zu kehren. Man kann die neue Form des Klassenkampfes auch noch schärfer so definieren, daß man sagt, daß die beiden einander gegenüberstehenden Blöcke, die Nato und der Warschauer Pakt beide hochgerüstet, entgegengesetzte Klasseninteressen vertreten: die Nato vertritt das Klasseninteresse der Weltbourgeoisie und der Warschauer Pakt jenes des Weltproletariats. Das Tröstliche an dieser an sich gefährlichen Weltlage liegt in der Gewißheit, daß es angesichts der schrecklichen Waffen, über die die heutigen Großmächte verfügen, zu keinem Kriege kommen wird; daß der Verhandlungs- und Konkurrenzweg der einzig mögliche Weg der klassenkämpferischen Auseinandersetzungen bleiben wird. Aber es gibt noch einen weiteren objektiven Grund für das Festhalten an der marxistischen Theorie. Er liegt im normativen Trend, in der zukunftsweisenden Perspektive, die sich nur in ihrer Allgemeinheit fassen läßt, weil niemand wissen kann, wie sich die künftige Geschichte des genaueren entwickeln wird.

Es ist bekannt, daß Marx und Engels eine herbe Kritik an den menschlichen Verfallserscheinungen des Kapitalismus geübt haben. So wirft Marx z.B. im Kapital vor, daß die kapitalistische Gesellschaft dem Individuum, besonders dem arbeitenden, die Möglichkeit raubt, seine „physischen und geistigen Lebenskräfte“ vielseitig zu entfalten. Auf der gleichen Linie liegt sein Ausspruch: „Nur der Mensch produziert nach dem Maße der Schönheit“, wobei hier unter „Schönheit“ genau dasselbe verstanden wird, was Thomas Mann (im Doktor Faustus oder im Zauberberg) darunter versteht, wenn er schreibt, was wir brauchen ist „das Ideal des schönen Menschen“; oder Gorki, der geradezu davon spricht, daß „die Menschen lernen (müssen), ihr Leben mit dem heiligen Geist der Schönheit zu beseelen“; oder Gorbatschow, der diesen Sachverhalt konkreter formuliert mit den Worten: „Unsere größte Kostbarkeit ist die allseitige Entwicklung des Menschen.“ Der geistvolle Aphorist Lichtenberg hat gemeint, „wer nur von Chemie was versteht, versteht auch von dieser wenig“.

Nachdruck aus: Forum Wissenschaft Heft 4/1988, S.54f.