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» Historischer Materialismus und marxistische Soziologie

Historischer Materialismus und marxistische Soziologie

Zur Entwicklung des Dialektikverständnisses bei Leo Kofler
von Werner Seppmann

I. Durch die fortschreitende Arbeit an einer Kofler-Biographie ist viel neues und unbekanntes Material zu Tage gefördert worden. Einige lebensgeschichtliche Aspekte erscheinen nun in einem anderen Licht und bisher verschüttete Zusammenhänge können nachgezeichnet werden. An einigen Punkten wird nach meinem bisherigen Kenntnisstand durch diese Rekonstruktionsarbeit auch deutlich, wie weit Selbstdarstellungen und die Rationalisierungsanstrengungen einer konkreten historischen Person von den tatsächlichen Gegebenheiten und Ereignissen abweichen können. Im Zeitgeist-Denken werden solche Differenzen, die manchmal auch den Charakter von Ungereimtheiten haben, bekanntlich zum Anlaß genommen, um die Möglichkeit von Interpretation und eines verstehenden Verhältnis zur sozialen Realität grundsätzlich in Frage zu stellen. Auf dieses Glatteis sollten wir uns nicht begeben, sondern im Gegenteil Entdeckungen und neue Erfahrungen als Herausforderung begreifen, uns intensiver mit der Sache selbst zu beschäftigen, uns Gedanken darüber machen, welchen Status innerhalb eines intellektuellen Entwicklungsweges solche Widerspruchsmomente haben. Ziel von Interpretation kann natürlich nicht quantitative Vollständigkeit, sondern das Aufspüren von Einflüssen, grundsätzlichen Entscheidungen, Wendungen und Brüchen sein.

Es gibt einen aktuellen Anlaß der nochmaligen Beschäftigung mit den intellektuellen Entwicklungsstationen Leo Koflers. Im Nachlaß ist ein Manuskript aufgetaucht, dessen Existenz bisher unbekannt war. Dieser Text aus den späten 30er Jahren kann als Vorarbeit zu dem methodologischen Grundlagenwerk „Die Wissenschaft von der Gesellschaft“ bezeichnet werden, das Kofler bekanntlich in seinen Schweizer Exiljahren fertiggestellt hat und das 1944 im Berner Franke-Verlag unter dem Pseudonym Stanislaw Warynski erschienen ist. Arbeitsgrundlage in der Schweiz waren u.a. Exzerpte und Textfragmente, die noch vor 1938 in Wien entstanden waren und die ihm der Vater ins Exil nachschicken konnte. Es gibt in diesem wiederentdeckten Text nicht wenige Passagen, die offensichtlich in das Buchmanuskript eingegangen sind, dennoch dokumentiert es eine überraschende Abweichung von Koflers dort dokumentiertem Dialektik-Verständnis. Man kann sogar, ohne den Sachverhalt künstlich zuzuspitzen, von einem Perspektivwechsel seit seiner Wiener Zeit sprechen. Damit dieser „Bruch“ in Koflers Denken deutlich wird, muß zunächst der Kontext, in dem das Begründungsprojekt einer dialektischen Soziologie angesiedelt ist, zumindest in seinen Umrissen rekonstruiert werden.

II. Alle Anwesenden wissen ja, daß Leo Kofler in Wien aufgewachsen ist und daß er nach seinem Kontakt mit der sozialistischen Arbeiterbewegung auch mit deren Theoretikern konfrontiert wurde und relativ schnell ein intensives Schüler-Verhältnis zu Max Adler entwickelt hatte. Max Adler war innerhalb der Marxismus-Diskussion seit der Jahrhundertwende in einem ganz bestimmten Sinne eine Ausnahmeerscheinung. Marxismus, wie er im späten 19. Jahrhundert verstanden wurde, war ein sehr einseitiges Gebilde: Er war mehr oder weniger eine Evolutionstheorie, die sehr stark ökonomisch argumentierte und weitgehend ohne Dialektik auskam. Es existierte ein wechselseitiges Einflußverhältnis von Theorie und Politik: Politische Erfahrungen beeinflußten die Theorieproduktion und theoretische Legitimationsmodelle flankierten die Politikmuster, die noch nicht revisionistisch waren, jedoch schon den Keim des späteren Revisionismus und auch des ökonomistischen Dogmatismus in sich trugen.

Wenn wir uns die damaligen Zeitumstände vergegenwärtigen, ist zunächst auffallend, daß die Arbeiterbewegung sich in einer Phase des historischen Aufstiegs befand. Bei den Wahlen konnten die sozialistischen Parteien immer mehr Stimmen auf sich vereinigen. Deshalb war es vielleicht auch keine so falsche Einschätzung, wenn viele politische Akteure davon überzeugt waren, ohne revolutionären Bruch in die entscheidenden Machtpositionen hineinwachsen zu können: Wenn die Bewegung automatisch immer stärker würde, könne sich irgendwann die Machtfrage ganz von alleine lösen. Für dieses Politikverständnis existierten einschlägige theoretische Untermauerungen, die sich sehr wohl auf Marx berufen konnten – wenn es auch ein systematisch falsch verstandener Marx war. Wenn seine Kapitalanalyse nur wortwörtlich gelesen wird und ihre methodischen Prämissen nicht berücksichtigt werden, sieht es tatsächlich so aus, als ob der Kapitalismus auf eine Katastrophe zuläuft und durch seine eigenen Bewegungsformen irgendwann nicht mehr weiterkommt. Aus dem Elend der bestehenden Welt erwächst nach diesem Verständnis zwangsläufig der Sozialismus. Max Adler hat gegen dieses fatalistische Verständnis von Geschichte argumentiert. Um jedoch der Vorstellung der historischen Entwicklung als eines selbsttätigen Subjekts, das sozusagen die Entwicklung präjudiziert und dem historischen Personal seine Implikationen aufdrückt, eine theoretische Alternative entgegenzusetzen, mußte er sich zunächst mit den grundlegenden Frage des historischen Materialismus auseinandersetzen: Wie funktioniert Gesellschaft und was sind die Triebkräfte der historischen Entwicklung? Um die ökonomistische Verengung des Marxschen Theorierahmens zu problematisieren, war es zusätzlich auch nötig, seinen philosophischen Voraussetzungen größere Aufmerksamkeiten zu schenken. Wie verdienstvoll diese Pionierarbeit war, läßt sich nur ermessen, wenn berücksichtigt wird, wie wenig von den philosophischen und methodologischen Begründungstexten des Marxismus im Übergang zum 20. Jahrhundert überhaupt schon bekannt waren. Die grundlegenden philosophischen und methodologischen Texte waren zum größten Teil überhaupt noch nicht publiziert. Selbst die „Deutsche Ideologie“ wurde erst in den 20er Jahren allgemein zugänglich. Das wichtige Vorwort zur „Kritik der politischen Ökonomie“ war bekannt, aber die „Grundrisse“ zum Beispiel, sozusagen eine Kompaktausgabe des „Kapitals“ mit permanenter methodischer Reflexion, ist erst ab 1953 zugänglich gewesen; die erste Edition, in den 30er Jahren in der Sowjetunion erschienen, war durch den Faschismus und die Kriegswirren für den westlichen Marxismus nicht greifbar. Wir müssen deshalb berücksichtigen, daß Adler und später auch Lukács vor der Aufgabe standen (teilweise gilt das auch noch für den Kofler der frühen Schriften), die philosophische Substanz des Marxschen Denkens ohne Kenntnis dieser Begründungstexte zu rekonstruieren. Trotz der fragmentarischen Quellenlage gelang es Adler, die Bedeutung des Historischen Materialismus als Grundlage der Marxschen Theorie aufzuweisen, ohne bei der traditionellen Polarität von Materialismus und Idealismus, Basis und Überbau stehenzubleiben. Gleichzeitig hat er dem Marxismus durch die Präzisierung der Kategorie des gesellschaftlichen Bewußtseins ein gesellschaftstheoretisches Fundament gegeben. Natürlich wirkte das wie eine Provokation und hat zu einem vordergründigen Idealismusvorwurf geführt, der seine Legitimation aber noch aus jenem objektivistischen Verständnis des sozialen Geschehens bezog, das Adler einer fundamentalen Kritik unterzogen hatte: Schon im Marxschen Verständnis von Sein und Bewußtsein – so führt Adler aus – ist mit dem das Bewußtsein bestimmende Sein ein gesellschaftliche Sein gemeint, das mit einem mechanistischen Materialismusverständnis überhaupt nicht mehr erfaßt werden kann.

Die besondere Qualität des gesellschaftlichen Seins ist nur durch die konstituierende Rolle des handelnden Menschen zu erfassen. Und der tätige Mensch wiederum ist nicht ohne sein antizipatorisches Verhalten, d.h. seine Fähigkeit zu begreifen, die Dinge zu reflektieren und daraus Handlungsintentionen zu entwickeln. Mit dem traditionellen Materialismus ist sich Adler einig, daß die gesellschaftlichen Prozesse kausaler Natur sind, aber diese Kausalität muß als von grundsätzlich anderer Qualität begriffen werden, als die in den Naturprozessen. Naturobjektivität wird von Adler nicht negiert, jedoch ist sie nur ein Moment im Gesamtprozeß der Reproduktion des gesellschaftlichen Seins.

Beispielhaft expliziert Adler diese Problematik an den drei Kausalitätsformen: der mechanischen Kausalität, der biologischen Kausalität und der sozialen Kausalität. Wenn ich etwas bewegen bzw. verändern will, geschieht das im Wirkungsbereich der Naturkausalität auf rein mechanische Weise. Wenn ich mit der Hand ein Buch vom Tisch stoße, ist das mechanische Kausalität. Die biologische Kausalität, ist von diesem unmittelbaren Ursache-Wirkungs-Modell schon etwas entfernt. Steche ich mit einer Nadel einen Menschen, reagiert er auf diesen Reiz mit einer Bewegung oder der Artikulation seines Schmerzes. Sehr groß ist der Unterschied zur sozialen Kausalität. Wenn eine Veränderung innerhalb einer sozialen Relation bewirkt werden soll, kann das durch rein kommunikative Aktivitäten erreicht werden. Ich rufe jemanden zu mir, ohne dasßich einen unmittelbaren Kontakt mit diesem Gegenüber habe – und trotzdem können wir von der kausalen Qualität dieser bewußtseinsvermittelten Sozialbeziehung sprechen.

Die Kategorie des Bewußtseins, die jetzt im Mittelpunkt steht, ist in entscheidenden Punkten etwas anderes als die Bewußtseins-Kategorie der philosophischen Tradition. Dieses Bewußtsein ist eine sozial-ontologische und keine erkenntnistheoretische Größe; es ist kein isoliertes Bewußtsein mehr, kein Bewußtsein an sich, das bei Kant, sehr dezidiert bei Fichte und in gewisser Weise auch noch bei Hegel eine Rolle spielt. Noch weniger ist es mit den abstrakten Zurichtungen in den phänomenologischen Bewußtseinstheorien des 20. Jahrhunderts vergleichbar, denn es ist in zweifacher Weise auf Objektivität bezogen. Als soziales Bewußtsein reagiert es auf die objektiven Lebensumstände und besitzt durch seine antizipatorischen Fähigkeiten gleichzeitig eine konstitutive Rolle im Prozeß der sozialen Selbsterzeugung menschlicher Lebensverhältnisse.

Dieses sozial-ontologische Verständnis ist für Kofler trotz seiner radikalen Kritik an Adler in anderen Fragen konstitutiv geblieben: Alles soziale Geschehen begreift er als bewußtseinsvermittelt. So verpflichtend für Kofler auch dieses Gesellschaftsverständnis bleibt, um so nachdrücklicher distanziert er sich jedoch von der Adlerschen Charakterisierung der Dialektik als eines ausschließlichen Bewußtseinsprinzip. Denn in diesem entscheidenden Punkt bleibt das Adlersche Denken den Prämissen der Kantschen Transzendentallogik verpflichtet. Er konzediert zwar die Existenz dialektischer Bewegungsformen, sie werden jedoch als Ordnungsprinzipien des Bewußtseins klassifiziert, mit denen ein diffuses Erfahrungsmaterial „bearbeitet“ wird. Wenn wir die historischen Erfahrungen nach diesem Prinzip organisieren, haben wir nach Adler zwar ein Mittel zur Hand, um Tendenzen zu erkennen; mit der objektiven Realität haben diese Strukturierungsprinzipien jedoch nicht viel zu tun, denn im sozialen Sein existiere nur das Prinzip der Widersprüchlichkeit. Adlers Denken bleibt in einem entscheidenden Punkt den Festlegungen einer idealistischen Erkenntnislehre verpflichtet: Alles was wir erkennen können, ist durch die Strukturen unseres Denkens vorgeprägt. Das subjektive Bild von der Welt sei ein vermitteltes, dessen prinzipieller Realitätsgehalt verborgen bleibt.

In der „Wissenschaft von der Gesellschaft“ zentriert sich Koflers Adler-Kritik auf dieses erkenntnistheoretische Problembewußtsein. Zur Fundierung seiner Kritik greift Kofler auf Lukács epochales Werk „Geschichte und Klassenbewußtsein“ zurück. Das 1923 veröffentlichte Buch hat bekanntlich auf die meisten Protagonisten einer kritischen Sozialphilosophie einen großen Einfluß ausgeübt – gleichgültig ob zu sich positiv oder ablehnend dazu verhalten haben. Die besondere Leistung von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ war die Rehabilitierung der Dialektik. Sie wurde unübersehbar wieder in das Zentrum des Marxismus gerückt. Dialektik wird entsprechend der Marxschen Konzeption als Prozeßdenken innerhalb des historischen Konstitutionszusammenhangs skizziert. Die theoriegeschichtliche Legitimität dieser Rekonstruktion der Marxschen Methodologie ist von einer ebenso disparat wie erstaunlich zusammengesetzten Allianz bestritten worden, in der uns Althusser neben Adorno, Stalins Shadanow neben Wolfgang Fritz Haug begegnen. Die vorgebrachten Einwände sind bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehbar, weil das Konstruktionsprinzip der Hegelschen Dialektik zu Mißverständnissen geradezu einlädt. Es ist ein idealistisch konstruiertes System mit einem impliziten Absolutheitsanspruch (was ja einigen unserer anti-hegelianischen Gewährsleuten doch eigentlich ganz sympathisch erscheinen müßte!). Es ist auch der Vorwurf nicht von der Hand zu weisen, daß Hegel innerhalb der Systemkonstruktion dem einzelnen Moment und der Empirie nicht den Stellenwert einräumt, der diesem nach dem methodischen Selbstverständnis zukäme. Jedoch ist es sinnvoll, so wie es Marx getan hat, dezidiert zwischen System und Methode bei Hegel zu unterscheiden. Denn dann wird deutlich, daß inmitten dieser idealistischen Widersprüche und trotz des Absolutheitsanspruches des Systemdenkens der rationale Kern einer dialektischen Methodologie enthalten ist. Marx wollte diese methodologischen Prinzipien bekanntlich ja sogar in einer Abhandlung zur Logik zusammenfassen; leider hat er das, wie viele andere Dinge, dann doch nicht realisiert, bzw. wie wir nach dem neuesten Erkenntnisstand sagen müssen: nicht zu Ende gebracht. Denn in der neuen „Marx-Engels-Gesamtausgabe“ werden ja auch zu diesem Problemkomplex weitere Vorarbeiten präsentiert.

III. Nach diesen theoriegeschichtlichen Streifzügen können wir wieder zu dem ausgegrabenen Text zurückkommen, der uns einen Blick in die „Werkstatt“ des Koflerschen Denkens zum damaligen Zeitpunkt gestattet. Das Manuskript mit dem Titel „Ideologie und Mythos“ ist gemäß einer handschriftlichen Notiz Koflers 1979 wieder bei ihm gelandet. Es war schon seit längerem im Besitz eines alten Wiener Kollegen mit Namen Feierabend, zu dem Kofler – aus welchen Gründen auch immer – ein recht distanziertes Verhältnis hatte. An der Authentizität dieses Textes ist nicht zu zweifeln: In einigen Teilen ist die Brillanz des Koflerschen Denkens zu erkennen, durchgängig aber der ihm eigene, der Sache nicht immer dienliche Sprachduktus vorhanden. Auch gewisse terminologische Besonderheiten und sein „kreativer“ Umgang mit Zitaten sind unübersehbare „Echtheitskriterien“. Leo Kofler hat (wohl 1979) handschriftlich auf dem Titelblatt vermerkt: „ca. Wien 1937-38“. Die 38 hat er später durchgestrichen und korrigierend vermerkt: „ca. Wien 1937 von mir fertiggestellt“.

Auf das explizite Thema „Ideologie und Mythos“ dieser 63 Manuskriptseiten möchte ich nicht näher eingehen, weil es für unseren Zusammenhang nicht von unmittelbarer Bedeutung ist. Viele Passagen zu diesem Inhaltskomplex sind in die „Wissenschaft von der Gesellschaft“ eingegangen. Es gibt aber einen Abschnitt mit einem knappen methodologischen Hinweis, der gegenüber dem das Buches mehr als nur eine Differenz aufweist. Kofler vertritt dort eine Position, die seinem Problemverständnis in der „Wissenschaft“ exakt entgegengesetzt ist. Im Manuskript von 1937 kritisiert er Lukács´ Verständnis der Dialektik als Seinsprinzip und beruft sich positiv auf die Adlersche Position: „Auch Lukács setzt also die empirisch-antagonistische Gesetzlichkeit mit Dialektik gleich, während doch, wie wir modernen Denkern entnehmen, z.B. Max Adler, nach Max Adler die Dialektik nichts anderes sein kann, als eine theoretische Methode, die Realität nach besonderen, das heißt eben dialektischen Prinzipien zu ordnen versucht“.

Konfrontieren wir diese Positionen aus dem Jahre 1937 mit seinem Dialektik-Begriff der frühen 40er Jahre, können wir bei Kofler innerhalb eines halben Jahrzehnts einen theoretischen Perspektivwechsel, eine Metamorphose seines Denkens feststellen. Welche konkreten Einflüsse zu dieser Wende vom Adlerianer zum, wie man heute abschätzig sagt, „Hegel-Marxismus“ (der aber immerhin den unschätzbaren Vorteil besitzt, objektivistische Generalisierungen und subjektivistische Selbstermächtigungen systematisch zu erschweren) geführt haben, entzieht sich nach dem bisherigen Forschungsstand unserer Kenntnis. Wir können noch nicht einmal darüber spekulieren, denn obwohl dieses Manuskript einen interessanten Blick sozusagen in die Koflersche Denkwerkstatt erlaubt, vermittelt es nur eine Momentaufnahme. Die Vermittlungsschritte bleiben (vorläufig?) verborgen; wir kennen nur das Resultat dieses methodischen Perspektivwechsels: Kofler begreift nur wenige Jahre später durch die Vermittlung von Lukács mit Marx Totalität als Wirklichkeitskategorie, an der sich das reproduzierende Denken orientieren muß: „Das Konkrete ist konkret, weil es die Zusammenfassung vieler Bestimmungen ist, also Einheit des Mannigfaltigen“, wie es bei Marx programmatisch in der „Einleitung zur Kritik der politischen Ökonomie“ heißt. Konstitutiv für Koflers Dialektik-Verständnis ist von nun an die Auffassung einer Wechselwirkung zwischen Subjekt und Objekt in der Praxis des Geschichtsprozesses, die sich in dem 37er Manuskript zwar schon andeutet, aber noch wesentlich idealistisch interpretiert wird. Wenn ich die nicht ganz schlüssigen Hinweise richtig deute, wird dort diese Wechselwirkung nicht aus der Perspektive praktischer Antizipation, sondern von der gedanklichen „Konstruktion“ des Zusammenhangs her begriffen, obwohl der Übergang zu einem „ontologischen“ Dialektik-Verständnis sich schon andeutet. Denn immerhin wird der im Adlerschen Sinne falsch konzipierten „sogenannten Realdialektik“ (Kofler) von Lukács attestiert, die theoretische „Selbsterkenntnis der Gesellschaft“ zu leisten. Für sein konkretes Vorhaben der Entwicklung „einer die Wirklichkeit umwaelzende Methode“ (Kofler) wirke sich nach seiner Einschätzung diese „Abweichung“ jedoch nicht negativ aus. Lukács gelänge es, so Kofler in dem Manuskript, „Theorie und Praxis nicht bloß begrifflich, fuer sich allein, sondern in ihrer ursprünglichen Bezogenheit im sozialen Verhältnisganzen der Gesellschaft“ zu denken. Indem ihm diese Fähigkeit konzediert wird, nimmt Kofler natürlich einen Widerspruch zu seiner eigenen Argumentation in Kauf. Denn es müßte natürlich gefragt werden, ob entgegen seiner Einschätzung in diesen Zusammenhang, Lukács diese Leistung nicht trotz, sondern ausschließlich wegen seiner „realdialektischen“ Methodologie erbringt! Zumal bei Kofler an dieser Stelle unklar bleibt, wie anders, denn durch eine solche theoretische Disposition Erkenntnis zur „Selbsterkenntnis der Gesellschaft“ mutieren kann.

IV. Was in dem Manuskript „Ideologie und Mythos“ noch widersprüchlich und unbegründet bleibt, wird in der „Wissenschaft von der Gesellschaft“ einer Klärung zugeführt: Die Subjekt-Objekt-Dialektik wird als Resultat des tätigen Weltverhältnisse der Menschen begriffen. Mensch und Gesellschaft werden, ebenso wie Denken und Sein, als Momente von synchroner Wirksamkeit erfaßt: Die oft mißverstandene „Einheit von Subjekt und Objekt“ bedeutet deshalb nichts anderes, als die „fortwährende Wechselbeziehung zwischen den durch die gesellschaftliche Struktur gegebenen, im Rahmen der bestehenden Gesellschaft entwickelten Bedingungen einerseits und der gleichzeitig aktiven Umgestaltung dieser Bedingungen durch die Gesellschaft andererseits.“ (Kofler)

Die historischen Subjekte werden als gleichermaßen aktiver und passiver Bestandteil des gesellschaftlichen Ganzen gedacht. Der Mensch reagiert zwar auf objektive Umstände, die selbst aber wiederum Produkt des menschlichen Handels sind. Deshalb sind sie – und das ist eigentliche sozialtheoretische Quintessenz des Koflerschen Buches – auch der Erkenntnis zugänglich. Der theoretische Erkenntnisakt ist ebenso wie die auf praktische Aufgaben zielende Reflexion selbst ein Moment des gesellschaftlichen Ganzen: „Denn Denken kann für die Dialektik nicht bloß bedeuten, nachträglich das bereits Vollzogene anschauen, sondern ist selbst ein Faktor im Prozeß, ein ununterbrochenes, für alle Geschichte wesenhaftes Sichselbstbegreifen und damit aktiven Teilnahme am Geschehen, eben Tätigkeit oder Erzeugung.“ (Kofler)

Inhaltlich bestimmend für Koflers „Paradigmenwechsel“ war zweifellos die Auseinandersetzung mit der Dialektik-Konzeption in Lukács´ „Geschichte und Klassenbewußtsein“, dessen fundamentale Bedeutung für ein reflektiertes Marxismus-Verständnis ihm – nach seiner Erinnerung – erst über Umwege bewußt geworden sei. Ich denke, daß in diesem Punkt Koflers Schilderung seiner Lukács-Rezeption plausibel ist: Er hat mehrfach geschildert, daß sein nachhaltiges Interesse an Lukács erst durch dessen literaturwissenschaftliche Arbeiten geweckt wurde. Es ging dabei vorrangig um Aufsätze zur deutschen Literatur, die Lukács in der russischen Emigration verfasst hatte. Kofler wurde nach seinen eigenen Worten durch diese Arbeiten mit einer neuen Art des historisch-dialektischen Denkens konfrontiert. Zu bezweifeln jedoch ist Koflers Behauptung, daß vorher für ihn „Geschichte und Klassenbewußtsein“ keine Rolle gespielt hätte. Die dezidierte Auseinandersetzung mit Lukács in seinem Manuskript von 1937 legt eine andere Einschätzung nahe. Aber evident ist, daß Kofler nach Abfassung dieses Manuskriptes die Lukács´sche Positionen mit anderen Augen gesehen hat und mit ihrer Hilfe sein eigenes Methodenverständnis sich grundlegend verändert hat.

Was sich bei Kofler herauskristallisiert, ist ein Verständnis der Dialektik als Realitätsprinzip, das aber innerhalb des historischen Raumes durch bewußtseinsvermittelndes Handeln konstituiert wird. Zum Problem einer Natur-Dialektik verhält sich Kofler „neutral“, d.h. sie erscheint ihm innerhalb seiner gesellschaftstheoretischen Fragestellung als nicht von vorrangiger Bedeutung. Für Kofler ist Dialektik primär historische Dialektik und Gesellschaft strukturierte Totalität, deren Substanz darin besteht, das die Menschen auf ihre gesellschaftlichen Umstände reagieren und zielgerichtet handeln. Dieses zielgerichtete Handeln macht ja die Quintessenz des menschlichen Bewußtseins und des sozialen Seins aus: „Sobald man annimmt, daß alles gesellschaftliche Geschehen sowohl in seiner Bedingtheit wie auch in seiner Aktivität niemals anders denn als menschliches Geschehen verstanden werden muß, enthüllt der gesellschaftliche Prozeß eine neue Seite des gesellschaftlichen Wesens: Gesellschaftlichkeit wird immer und in jeder Hinsicht als auf dem Boden des Bewußtseins sich vollziehend erkannt, und nirgends wird der Rahmen des rein Menschlichen überschritten. Die Gesellschaft muß demnach auch als bewußtseinsbegabte (geistige) Einheit, oder was das gleiche bedeutet als ‚Praxis‘ gefaßt werden.“ (Kofler) Mit diesen Bestimmungen wird die Marxsche Auffassung vom Handeln des Menschen als dem übergreifenden und konstitutiven Element des gesellschaftlichen Prozesses konkretisiert.

Unmittelbarer Bezugspunkt aller menschlichen Aktivitäten sind die unmittelbaren Lebensumstände, diese stellen aufgrund ihrer bewußtseinsvermittelten Qualität keine mechanistischen Abhängigkeitsverhältnisse dar, sondern enthalten immer alternative Entwicklungsperspektiven. Die Annahme sozialer Gesetze bedeutet nicht, wie immer wieder unterstellt wird, die automatische Setzung eines Ableitungsmechanismus. Selbst die mechanische Kausalität der Natur führt im sozialen Kontext nicht zu zwangsläufigen Konsequenzen. Wenn mir ein Stein auf den Kopf fällt, läuft dieser Vorgang zwar nach einer strengen Gesetzmäßigkeit ab, aber aus dieser Gesetzmäßigkeit kann nicht abgeleitet werden, daß jeder Stein auf einen menschlichen Kopf fällt. Meistens fallen sie sowieso daneben, und wenn sie dann schon ihre Richtung auf den menschlichen Kopf nehmen, gehört es zu den besonderen Fähigkeiten des Menschen, auf den fallenden Stein zu reagieren und seinen Kopf zur Seite zu bewegen.

V. Die von Kofler in der „Wissenschaft von der Gesellschaft“ akzentuierte Subjekt-Objekt-Beziehung ist der Kern eines dialektischen Totalitätsverständnisses, das alle gesellschaftlichen Aktivitäten und Äußerungsformen als synchrone und wechselseitig sich bedingende Momente eines einheitlichen Prozesses begreift. Totalität wird also nicht philosophisch-spekulativ, sondern prozessual-dialektisch begründet. Diese Logik der Totalität grenzt sich zum kontemplativen Materialismus mit seinem hierarchischem Wirklichkeitsverständnis dadurch ab, daß sie die historischen Subjekte als gleichermaßen aktiven und passiven Teil des Ganzen begreift. Das methodologisch vorwärtsweisende Moment dieser Konzeption liegt mit den Worten Lukács darin, „daß hier das Subjekt weder ungewandelter Zuschauer der objektiven Dialektik des Seins und der Begriffe … noch ein praktisch orientierter Beherrscher ihrer rein gedanklichen Möglichkeiten … ist, sondern daß sich der dialektische Prozeß, die Auflösung des starren Gegenüberstehens starrer Formen wesentlich zwischen Subjekt und Objekt abspielt.“

Ohne eine solche Akzentuierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, als der Basis des gesellschaftlichen Geschehens, bleibt materialistisches Denken immer der Gefahr objektivistischer Rückfälle ausgeliefert. Letztlich sind auch die Intentionen des Marxschen Denkens nicht nachvollziehbar, wenn die dialektischen Kategorien nicht als Ausdruck einer realen Bewegung begriffen werden. Diese methodische Positionierung macht die selbstreflexive Seite konkreter Dialektik aus: Das Verhältnis des Menschen zur Welt wird von der historisch-dialektischen Wirklichkeitswissenschaft als ein Prozeß des tätigen und konstituierenden Verhaltens begriffen. „Wie die Gesellschaft den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert“, hat Marx dieses Verständnis zusammengefaßt. Einer solchen theoretischen Akzentuierung des Sozialen liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Individuelles alleine aus der Bewegungstendenz des Allgemeinen nicht zu begreifen ist. Es bringt sich Hegels Erkenntnis aus der „Phänomenologie des Geistes“ zur Geltung, daß das Erkenntnissubjekt das Ganze noch nicht besitzt, wenn es die Totalität bloß in einer abstrakten Weise denkt. Entgegen der trivialen Gleichsetzung des dialektischen Interpretationsverfahrens mit weltanschaulicher Nivellierung vernachlässigt das sozialtheoretische Denken in Marxscher Tradition jedoch weder die konkreten Differenzierungsformen des „Allgemeinen“ noch die Unverwechselbarkeit des Individuellen: Für ein historisch-dialektisches Denken, das diesen Namen verdient, ist der Bezug auf das Allgemeine niemals Selbstzweck, sondern der „Umweg“, um das Einzelne zu begreifen. Nur durch die theoretische „Vermittlung“ läßt sich das Einzelne überhaupt erst in seiner Einzelheit erschließen. Da Individuelles und Allgemeines nicht in einem polaren Gegensatz zueinander stehen, kann auch das Erkenntnisbemühen, wenn es einen Sachverhalts oder den differenzierten Charakter einer Einzelheit angemessen begreifen will, nicht von den realen Vermittlungsstrukturen absehen. „Selbstreflexives“ Denken muß berücksichtigen, daß „das Einzelne gerade als Einzelnes desto sicherer und wahrheitsgemäßer erkannt wird …, je reicher und tiefer seine Vermittlungen zu dem Allgemeinen und Besonderen aufgedeckt werden.“ (G. Lukács)

Obwohl die einzelnen Momente funktional in den sozialen Kontext eingebunden sind, besitzen sie jedoch eine eigenständige Dynamik (eine Bedeutung, die nicht restlos im „Ganzen“ aufgeht). Es werden deshalb nicht – wie modephilosophisch unterstellt wird – „Begriff und Sinnlichkeit“ aufeinander reduziert, sondern in ihrer eigenständigen Bedeutung reflektiert. Aber gleichzeitig ist dem dialektischen Denken bewußt, daß auch die Unverwechselbarkeit des Einzelnen ohne den Blick auf den Zusammenhang nicht zu begreifen ist. Um einer Sache gerecht zu werden, müssen alle seine Seiten und Aspekte, alle Zusammenhänge und Vermittlungen reflektiert werden, zumal – wie es in Lukács´ „Ontologie“ heißt – „Allgemeinheit und Einzelheit … in jeder konkreten Konstellation simultan-polar auftreten: jeder Gegenstand ist immer zugleich ein allgemeiner und einzelner.“ Es ist also auch dem dialektischen Denken evident, daß das Einzelne nicht in der Vermittlung aufgeht, sich niemals „restlos als Kreuzungs- und Kombinationspunkt der Besonderheiten und Allgemeinheiten fassen oder gar aus ihnen einfach ‚ableiten‘ [läßt]. Es bleibt immer ein Rest über, der weder deduzierbar noch subsumierbar ist. Dieser steht aber um so weniger dem anderswie Erkannten als krasser unaufhebbarer Zufall gegenüber, je ausführlicher und genauer die … vermittelnden Besonderheiten und Allgemeinheiten erkannt werden.“ (G. Lukács)

In Koflers Lebenswerk wird diese Totalitätsauffassung forschungspraktisch untermauert: Theoretischer Bezugspunkt ist zwar die Gesellschaft als gegliedertes Ganzes, jedoch ohne die konkreten Differenzierungsformen zu vernachlässigen. Das ganze Werk von Kofler steht ja dafür, daß er sich kompromißlos der Anstrengung des Begriffes überzogen hat, um die mehrfach gegliederten Bestimmungsfaktoren und wechselseitigen Einflußverhältnise des Sozialen nachzuspüren. Besonders deutlich ist diese „Obsession“ natürlich in seiner hochdiffenzierten Theorie ideologischer Herrschaftsreproduktion, von der Demirovic in seinem Vortrag vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt hat, daß sie letztlich alle geistigen Gebilde auf Kapitalismus reduziere. Selbst wenn Kofler solchen Unsinn produziert hätte, wäre im Kontext seiner Gesellschaftstheorie immer noch ein konkret definierter Kapitalismus der Bezugspunkt. Denn er hat mit großer Ausdauer nicht nur alle sozialen Grundklassen, die Bürokratie, die herrschenden Schichten und die wichtigsten ideologischen „Funktionärsgruppen“ analysiert, sondern immer auch die Vermittlungsverhältnisse zwischen ihnen im Blick behalten. Aber das war nur die analytische Voraussetzung seiner Ideologietheorie, die etwa mit der Kategorie des „repressiven Menschenbildes“ auch den Einfluß historischer und sozio-kulturelle Tiefenstrukturen berücksichtigt hat und durch die eindrucksvoll belegt wird, in welch nachdrücklicher Weise in jeder Gegenwart die ganze Vergangenheit mitgeschleppt wird. Nachvollziehbar wird auch, wie fundamental Rationalität und Irrationalität, Denken und Fühlen an der Konstitution von Weltbildern beteiligt sind. Auch das ein Beispiel konkreter Totalitätsbetrachtung und nicht das schlechteste Ergebnis einer „selbstreflexiven Dialektik“!

Eine Bemerkung am Rande: Wer sich mit diesen Problemen auf dem aktuellen Niveau der Marxismus-Diskussion auseinandersetzen will, der kommt nicht darum herum, sich mit Lukács´ „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ zu beschäftigen. Ein sperriger Text, voller Wiederholungen, aber so grundlegend für ein dialektisches Verständnis der sozialen Prozesse, daß er nur um den Preis intellektueller Selbstblokaden ignoriert werden kann. Denn in der „Ontologie“ wird noch einmal der marxistische Totalitätsbegriff in seiner ganzen Breite expliziert, so daß solche – ich will es einmal vorsichtig ausdrücken – verengenden Interpretationen, wie Demirovic sie formuliert hat, unverständlich werden. Lukács und Kofler vorzuwerfen, sie würden mit Hilfe des Totalitäts-Begriffs alle sozialen Bereiche nicht nur zur „ökonomischen Basis vermitteln“, sondern – so Demirovic – sie „gleichzeitig aus deren Erfordernissen“ erklären, ist rational nicht nachzuvollziehen.

Würden die referierten Textpassagen aus der „Wissenschaft von der Gesellschaft“ in ihrem argumentativen Kontext zur Kenntnis genommen, ergäbe sich ein wesentlich differenzierteres Bild. Exakt drei Seiten weiter könnte unser kritischer Kritiker dann erfahren, daß Kofler den Begriff „ökonomische Basis“ in dem unterstellten Sinne überhaupt nicht benutzt, sondern stattdessen in einem synonymen Sinne von „ökonomischen“ und „gesellschaftlichen Verhältnissen“ spricht. Was aber unter „gesellschaftlichen Verhältnissen“ historisch-materialistisch zu verstehen ist, haben ich ja zumindest andeutungsweise dargestellt. Nehmen wir Koflers Gesellschaftsverständnis und Lukács Reflexionen über die ontologischen Grundlagen des gesellschaftlichen Seins einerseits und Demirovics Vorwurf andererseits gleichermaßen ernst, wird der marxistischen Dialektik von Lukács und Kofler vorgeworfen, daß sie jede soziale Aktivität in der einen oder anderen Weise zur Gesellschaft vermittelt sieht.

Nun gut, ich denke, mit diesem Vorwurf kann sie leben!

IV. Was in dem Manuskript „Ideologie und Mythos“ noch widersprüchlich und unbegründet bleibt, wird in der „Wissenschaft von der Gesellschaft“ einer Klärung zugeführt: Die Subjekt-Objekt-Dialektik wird als Resultat des tätigen Weltverhältnisse der Menschen begriffen. Mensch und Gesellschaft werden, ebenso wie Denken und Sein, als Momente von synchroner Wirksamkeit erfaßt: Die oft mißverstandene „Einheit von Subjekt und Objekt“ bedeutet deshalb nichts anderes, als die „fortwährende Wechselbeziehung zwischen den durch die gesellschaftliche Struktur gegebenen, im Rahmen der bestehenden Gesellschaft entwickelten Bedingungen einerseits und der gleichzeitig aktiven Umgestaltung dieser Bedingungen durch die Gesellschaft andererseits.“ (Kofler)

Die historischen Subjekte werden als gleichermaßen aktiver und passiver Bestandteil des gesellschaftlichen Ganzen gedacht. Der Mensch reagiert zwar auf objektive Umstände, die selbst aber wiederum Produkt des menschlichen Handels sind. Deshalb sind sie – und das ist eigentliche sozialtheoretische Quintessenz des Koflerschen Buches – auch der Erkenntnis zugänglich. Der theoretische Erkenntnisakt ist ebenso wie die auf praktische Aufgaben zielende Reflexion selbst ein Moment des gesellschaftlichen Ganzen: „Denn Denken kann für die Dialektik nicht bloß bedeuten, nachträglich das bereits Vollzogene anschauen, sondern ist selbst ein Faktor im Prozeß, ein ununterbrochenes, für alle Geschichte wesenhaftes Sichselbstbegreifen und damit aktiven Teilnahme am Geschehen, eben Tätigkeit oder Erzeugung.“ (Kofler)

Inhaltlich bestimmend für Koflers „Paradigmenwechsel“ war zweifellos die Auseinandersetzung mit der Dialektik-Konzeption in Lukács´ „Geschichte und Klassenbewußtsein“, dessen fundamentale Bedeutung für ein reflektiertes Marxismus-Verständnis ihm – nach seiner Erinnerung – erst über Umwege bewußt geworden sei. Ich denke, daß in diesem Punkt Koflers Schilderung seiner Lukács-Rezeption plausibel ist: Er hat mehrfach geschildert, daß sein nachhaltiges Interesse an Lukács erst durch dessen literaturwissenschaftliche Arbeiten geweckt wurde. Es ging dabei vorrangig um Aufsätze zur deutschen Literatur, die Lukács in der russischen Emigration verfasst hatte. Kofler wurde nach seinen eigenen Worten durch diese Arbeiten mit einer neuen Art des historisch-dialektischen Denkens konfrontiert. Zu bezweifeln jedoch ist Koflers Behauptung, daß vorher für ihn „Geschichte und Klassenbewußtsein“ keine Rolle gespielt hätte. Die dezidierte Auseinandersetzung mit Lukács in seinem Manuskript von 1937 legt eine andere Einschätzung nahe. Aber evident ist, daß Kofler nach Abfassung dieses Manuskriptes die Lukács´sche Positionen mit anderen Augen gesehen hat und mit ihrer Hilfe sein eigenes Methodenverständnis sich grundlegend verändert hat.

Was sich bei Kofler herauskristallisiert, ist ein Verständnis der Dialektik als Realitätsprinzip, das aber innerhalb des historischen Raumes durch bewußtseinsvermittelndes Handeln konstituiert wird. Zum Problem einer Natur-Dialektik verhält sich Kofler „neutral“, d.h. sie erscheint ihm innerhalb seiner gesellschaftstheoretischen Fragestellung als nicht von vorrangiger Bedeutung. Für Kofler ist Dialektik primär historische Dialektik und Gesellschaft strukturierte Totalität, deren Substanz darin besteht, das die Menschen auf ihre gesellschaftlichen Umstände reagieren und zielgerichtet handeln. Dieses zielgerichtete Handeln macht ja die Quintessenz des menschlichen Bewußtseins und des sozialen Seins aus: „Sobald man annimmt, daß alles gesellschaftliche Geschehen sowohl in seiner Bedingtheit wie auch in seiner Aktivität niemals anders denn als menschliches Geschehen verstanden werden muß, enthüllt der gesellschaftliche Prozeß eine neue Seite des gesellschaftlichen Wesens: Gesellschaftlichkeit wird immer und in jeder Hinsicht als auf dem Boden des Bewußtseins sich vollziehend erkannt, und nirgends wird der Rahmen des rein Menschlichen überschritten. Die Gesellschaft muß demnach auch als bewußtseinsbegabte (geistige) Einheit, oder was das gleiche bedeutet als ‚Praxis‘ gefaßt werden.“ (Kofler) Mit diesen Bestimmungen wird die Marxsche Auffassung vom Handeln des Menschen als dem übergreifenden und konstitutiven Element des gesellschaftlichen Prozesses konkretisiert.

Unmittelbarer Bezugspunkt aller menschlichen Aktivitäten sind die unmittelbaren Lebensumstände, diese stellen aufgrund ihrer bewußtseinsvermittelten Qualität keine mechanistischen Abhängigkeitsverhältnisse dar, sondern enthalten immer alternative Entwicklungsperspektiven. Die Annahme sozialer Gesetze bedeutet nicht, wie immer wieder unterstellt wird, die automatische Setzung eines Ableitungsmechanismus. Selbst die mechanische Kausalität der Natur führt im sozialen Kontext nicht zu zwangsläufigen Konsequenzen. Wenn mir ein Stein auf den Kopf fällt, läuft dieser Vorgang zwar nach einer strengen Gesetzmäßigkeit ab, aber aus dieser Gesetzmäßigkeit kann nicht abgeleitet werden, daß jeder Stein auf einen menschlichen Kopf fällt. Meistens fallen sie sowieso daneben, und wenn sie dann schon ihre Richtung auf den menschlichen Kopf nehmen, gehört es zu den besonderen Fähigkeiten des Menschen, auf den fallenden Stein zu reagieren und seinen Kopf zur Seite zu bewegen.

V. Die von Kofler in der „Wissenschaft von der Gesellschaft“ akzentuierte Subjekt-Objekt-Beziehung ist der Kern eines dialektischen Totalitätsverständnisses, das alle gesellschaftlichen Aktivitäten und Äußerungsformen als synchrone und wechselseitig sich bedingende Momente eines einheitlichen Prozesses begreift. Totalität wird also nicht philosophisch-spekulativ, sondern prozessual-dialektisch begründet. Diese Logik der Totalität grenzt sich zum kontemplativen Materialismus mit seinem hierarchischem Wirklichkeitsverständnis dadurch ab, daß sie die historischen Subjekte als gleichermaßen aktiven und passiven Teil des Ganzen begreift. Das methodologisch vorwärtsweisende Moment dieser Konzeption liegt mit den Worten Lukács darin, „daß hier das Subjekt weder ungewandelter Zuschauer der objektiven Dialektik des Seins und der Begriffe … noch ein praktisch orientierter Beherrscher ihrer rein gedanklichen Möglichkeiten … ist, sondern daß sich der dialektische Prozeß, die Auflösung des starren Gegenüberstehens starrer Formen wesentlich zwischen Subjekt und Objekt abspielt.“

Ohne eine solche Akzentuierung des Subjekt-Objekt-Verhältnisses, als der Basis des gesellschaftlichen Geschehens, bleibt materialistisches Denken immer der Gefahr objektivistischer Rückfälle ausgeliefert. Letztlich sind auch die Intentionen des Marxschen Denkens nicht nachvollziehbar, wenn die dialektischen Kategorien nicht als Ausdruck einer realen Bewegung begriffen werden. Diese methodische Positionierung macht die selbstreflexive Seite konkreter Dialektik aus: Das Verhältnis des Menschen zur Welt wird von der historisch-dialektischen Wirklichkeitswissenschaft als ein Prozeß des tätigen und konstituierenden Verhaltens begriffen. „Wie die Gesellschaft den Menschen als Menschen produziert, so ist sie durch ihn produziert“, hat Marx dieses Verständnis zusammengefaßt. Einer solchen theoretischen Akzentuierung des Sozialen liegt die Erkenntnis zugrunde, daß Individuelles alleine aus der Bewegungstendenz des Allgemeinen nicht zu begreifen ist. Es bringt sich Hegels Erkenntnis aus der „Phänomenologie des Geistes“ zur Geltung, daß das Erkenntnissubjekt das Ganze noch nicht besitzt, wenn es die Totalität bloß in einer abstrakten Weise denkt. Entgegen der trivialen Gleichsetzung des dialektischen Interpretationsverfahrens mit weltanschaulicher Nivellierung vernachlässigt das sozialtheoretische Denken in Marxscher Tradition jedoch weder die konkreten Differenzierungsformen des „Allgemeinen“ noch die Unverwechselbarkeit des Individuellen: Für ein historisch-dialektisches Denken, das diesen Namen verdient, ist der Bezug auf das Allgemeine niemals Selbstzweck, sondern der „Umweg“, um das Einzelne zu begreifen. Nur durch die theoretische „Vermittlung“ läßt sich das Einzelne überhaupt erst in seiner Einzelheit erschließen. Da Individuelles und Allgemeines nicht in einem polaren Gegensatz zueinander stehen, kann auch das Erkenntnisbemühen, wenn es einen Sachverhalts oder den differenzierten Charakter einer Einzelheit angemessen begreifen will, nicht von den realen Vermittlungsstrukturen absehen. „Selbstreflexives“ Denken muß berücksichtigen, daß „das Einzelne gerade als Einzelnes desto sicherer und wahrheitsgemäßer erkannt wird …, je reicher und tiefer seine Vermittlungen zu dem Allgemeinen und Besonderen aufgedeckt werden.“ (G. Lukács)

Obwohl die einzelnen Momente funktional in den sozialen Kontext eingebunden sind, besitzen sie jedoch eine eigenständige Dynamik (eine Bedeutung, die nicht restlos im „Ganzen“ aufgeht). Es werden deshalb nicht – wie modephilosophisch unterstellt wird – „Begriff und Sinnlichkeit“ aufeinander reduziert, sondern in ihrer eigenständigen Bedeutung reflektiert. Aber gleichzeitig ist dem dialektischen Denken bewußt, daß auch die Unverwechselbarkeit des Einzelnen ohne den Blick auf den Zusammenhang nicht zu begreifen ist. Um einer Sache gerecht zu werden, müssen alle seine Seiten und Aspekte, alle Zusammenhänge und Vermittlungen reflektiert werden, zumal – wie es in Lukács´ „Ontologie“ heißt – „Allgemeinheit und Einzelheit … in jeder konkreten Konstellation simultan-polar auftreten: jeder Gegenstand ist immer zugleich ein allgemeiner und einzelner.“ Es ist also auch dem dialektischen Denken evident, daß das Einzelne nicht in der Vermittlung aufgeht, sich niemals „restlos als Kreuzungs- und Kombinationspunkt der Besonderheiten und Allgemeinheiten fassen oder gar aus ihnen einfach ‚ableiten‘ [läßt]. Es bleibt immer ein Rest über, der weder deduzierbar noch subsumierbar ist. Dieser steht aber um so weniger dem anderswie Erkannten als krasser unaufhebbarer Zufall gegenüber, je ausführlicher und genauer die … vermittelnden Besonderheiten und Allgemeinheiten erkannt werden.“ (G. Lukács)

In Koflers Lebenswerk wird diese Totalitätsauffassung forschungspraktisch untermauert: Theoretischer Bezugspunkt ist zwar die Gesellschaft als gegliedertes Ganzes, jedoch ohne die konkreten Differenzierungsformen zu vernachlässigen. Das ganze Werk von Kofler steht ja dafür, daß er sich kompromißlos der Anstrengung des Begriffes überzogen hat, um die mehrfach gegliederten Bestimmungsfaktoren und wechselseitigen Einflußverhältnise des Sozialen nachzuspüren. Besonders deutlich ist diese „Obsession“ natürlich in seiner hochdiffenzierten Theorie ideologischer Herrschaftsreproduktion, von der Demirovic in seinem Vortrag vor einem Jahr an dieser Stelle gesagt hat, daß sie letztlich alle geistigen Gebilde auf Kapitalismus reduziere. Selbst wenn Kofler solchen Unsinn produziert hätte, wäre im Kontext seiner Gesellschaftstheorie immer noch ein konkret definierter Kapitalismus der Bezugspunkt. Denn er hat mit großer Ausdauer nicht nur alle sozialen Grundklassen, die Bürokratie, die herrschenden Schichten und die wichtigsten ideologischen „Funktionärsgruppen“ analysiert, sondern immer auch die Vermittlungsverhältnisse zwischen ihnen im Blick behalten. Aber das war nur die analytische Voraussetzung seiner Ideologietheorie, die etwa mit der Kategorie des „repressiven Menschenbildes“ auch den Einfluß historischer und sozio-kulturelle Tiefenstrukturen berücksichtigt hat und durch die eindrucksvoll belegt wird, in welch nachdrücklicher Weise in jeder Gegenwart die ganze Vergangenheit mitgeschleppt wird. Nachvollziehbar wird auch, wie fundamental Rationalität und Irrationalität, Denken und Fühlen an der Konstitution von Weltbildern beteiligt sind. Auch das ein Beispiel konkreter Totalitätsbetrachtung und nicht das schlechteste Ergebnis einer „selbstreflexiven Dialektik“!

Eine Bemerkung am Rande: Wer sich mit diesen Problemen auf dem aktuellen Niveau der Marxismus-Diskussion auseinandersetzen will, der kommt nicht darum herum, sich mit Lukács´ „Ontologie des gesellschaftlichen Seins“ zu beschäftigen. Ein sperriger Text, voller Wiederholungen, aber so grundlegend für ein dialektisches Verständnis der sozialen Prozesse, daß er nur um den Preis intellektueller Selbstblokaden ignoriert werden kann. Denn in der „Ontologie“ wird noch einmal der marxistische Totalitätsbegriff in seiner ganzen Breite expliziert, so daß solche – ich will es einmal vorsichtig ausdrücken – verengenden Interpretationen, wie Demirovic sie formuliert hat, unverständlich werden. Lukács und Kofler vorzuwerfen, sie würden mit Hilfe des Totalitäts-Begriffs alle sozialen Bereiche nicht nur zur „ökonomischen Basis vermitteln“, sondern – so Demirovic – sie „gleichzeitig aus deren Erfordernissen“ erklären, ist rational nicht nachzuvollziehen.

Würden die referierten Textpassagen aus der „Wissenschaft von der Gesellschaft“ in ihrem argumentativen Kontext zur Kenntnis genommen, ergäbe sich ein wesentlich differenzierteres Bild. Exakt drei Seiten weiter könnte unser kritischer Kritiker dann erfahren, daß Kofler den Begriff „ökonomische Basis“ in dem unterstellten Sinne überhaupt nicht benutzt, sondern stattdessen in einem synonymen Sinne von „ökonomischen“ und „gesellschaftlichen Verhältnissen“ spricht. Was aber unter „gesellschaftlichen Verhältnissen“ historisch-materialistisch zu verstehen ist, haben ich ja zumindest andeutungsweise dargestellt. Nehmen wir Koflers Gesellschaftsverständnis und Lukács Reflexionen über die ontologischen Grundlagen des gesellschaftlichen Seins einerseits und Demirovics Vorwurf andererseits gleichermaßen ernst, wird der marxistischen Dialektik von Lukács und Kofler vorgeworfen, daß sie jede soziale Aktivität in der einen oder anderen Weise zur Gesellschaft vermittelt sieht.

Nun gut, ich denke, mit diesem Vorwurf kann sie leben!

VI. Nur auf den ersten Blick erscheint es als Widerspruch, wenn uns Demirovic als Medizin gegen die sozialontologischen Akzentuierungen einer konkreten Dialektik das Denken Althussers empfiehlt, das von einem tiefen und theoretisch unüberwindbaren Selbstwiderspruch geprägt ist. Einerseits – dort wo er Sozialphilosophie betreibt – ist er strenger Determinist, als „Praxisphilosoph“ jedoch assoziiert er eine vom der „Strukturtotalität“ abgetrennte Welt subjektivistischer Selbstermächtigung. Im historischen Raum werden die Menschen als Puppen stilisiert, die nach dem Gesetz der ökonomische Strukturverhältnisse tanzen. Und dann gibt es einen „Bruch“ bei Althusser, nachdem ihm wohl aufgegangen ist, daß nicht alle gesellschaftlichen Phänomene mit diesem abstrakten Interpretationsmechanismus erfaßt werden können, es offensichtlich ein Leben jenseits dieser Determinationsmaschinerie gibt, das nun – undeutlich genug – den Reflexionsformen einer „expressiven Totalität“ überantwortet wird. Diese Hinwendung zum Besonderen und Individuellen (auf die uns Demirovic offensichtlich aufmerksam machen will), ist zwar jenseits des struktur-marxistischen Interpretationsrasters angesiedelt, aber ebenfalls „unbelastet“ vom Verständnis des wechselseitigen Vermittlungsverhältnisses von Subjekt und Objekt. Deshalb ist diese Parteinahme für die „Differenzen“ Ausdruck eines nicht zufälligen Schwankens zwischen Objektivismus und Subjektivismus. Denn weil für Althusser das Subjekt eine theoretische Leerstelle ist, kann das Individuelle nur als abstraktes „Alternativprinzip“ zum gesellschaftlichen Geschehen begriffen werden.

Dieser knappe Exkurs führt nun direkt wieder zu unserem Thema zurück, denn die Antinomien des strukturmarxistischen Denkens weisen uns auf die Grundprobleme eines dialektischen Gesellschaftsverständnisses zurück, wie es schon in den Hegelschen Reflexion über das Verhältnis vom Allgemeinen zum Besonderen aufscheint: Kritiker dialektischen Denkens behaupten steif und fest, daß durch die am Ganzen orientierte Grundeinstellung der historisch-materialistischen Methodologie das Besondere und Individuelle überhaupt nicht mehr zur Kenntnis genommen würde. Der Vorwurf ist sicherlich nicht in allen Fällen unberechtigt, es gibt Denker, es gibt ganze Denkschulen die zwar nicht dialektisch, jedoch vom Standpunkt einer abstrakten Totalität denken. Dazu gehört auch, wie wir gesehen haben, die von Althusser entscheidend beeinflußte strukturmarxistische, die ironischer Weise – trotz aller Distanzierung – ihr Weltbild nach dem Muster eines Hegelschen Weltgeistes konstruiert. In ihren Interpretationsmühlen spielt tatsächlich das Individuelle und spielen auch die Subjekte überhaupt keine Rolle mehr. Das hat zwar noch etwas mit Materialismus (wenn auch einem abstrakten und sehr unzeitgemäßen), nichts aber mit einem problemorientierten Gesellschaftsverständnis zu tun. Was diesem Denken fehlt, ist die Kategorie der Vermittlung, die zentrales Element der Hegelschen Dialektik ist und auch für das marxistische Sozialverständnis konstitutiv geblieben ist. Während der Vermittlungsprozeß bei Hegel noch idealistisch akzentuiert ist, wird in der historischen-materialistischen Dialektik das tätige Weltverhältnis als die gleichermaßen konstituierende und vermittelnde Instanz reflektiert. Bevor ich diesen Problemstrang weiter verfolge, will ich einen Satz aus der Hegelschen Logik vorlesen, der das Verhältnis vom Besonderen und Allgemeinen thematisiert und durch den deutlich wird, welchen Unsinn man heute in akademischen Diskursen (nicht nur über Dialektik und das Totalitätsprinzip) so von sich geben kann, ohne das es nur einen korrigierenden Zwischenruf gibt: „Es kommt alles darauf an, das Wahre nicht nur als Substanz, sondern ebenso sehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken.“ Hier wird nun nicht mehr und nicht weniger betont,als daß ebenso wie die einzelnen Momente auf ihre konstituierenden Bedingungen bezogen werden müssen, diese Bedingungen ohne die einzelnen Momente selbst keine Existenz hätten. Der konkrete Erkenntnisprozeß ist also nicht als Subsumption, sondern als Vermittlung gedacht! Ich habe es schon gesagt: Man kann Hegel natürlich vorwerfen, daß er seinen methodologischen Prinzipien nicht gerecht geworden ist, aber das ist ein anderes Problem, daß von der virulenten „Hegel-Kritik“ nicht abgedeckt wird. Denn sie behauptet, das es überhaupt keine Differenzierung, sondern nur ein mechanistisches, totalisierendes Einerlei gäbe. Diese Sichtweise zielt aber an der Sache der Hegelschen Dialektik vorbei. Sie ist deshalb intellektuell genau so unakzeptabel wie die von Demirovic formulierten Ökonomismus-Vorwürfe gegen Lukács und Kofler.

VII. Selbst wer mit einem „hegel-marxistischen“ Methoden- und Realitätsverständnis seine Probleme hat, dürfte nicht ignorieren, daß die Positionen von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ und „Der Wissenschaft von der Gesellschaft“ nicht das letzte Wort ihrer Autoren sind. Es hat sich aber in der „Frankfurter Schule“ vor allen Dingen gegenüber Lukács zur schlechten Übung entwickelt, so über „Geschichte und Klassenbewußtsein“ reden, als ob der Autor spätestens 1930 gestorben wäre. Es gibt aber glaubwürdige Indizien, daß er bis 1983 weiter philosophiert und publiziert und ein höchst differenziertes wissenschaftliches Werk hinterlassen hat, in dem auch tatsächliche oder eingebildete Einseitigkeiten aus „Geschichte und Klassenbewußtsein“ revidiert wurden. Man kann selbst bei schlechtestem Willen nicht so darüber sprechen, als ob die in den 20er Jahren entwickelten Position das letzte Wort der Marxismus-Diskussion wären. Was nun wiederum nicht heißt, daß ein kritischer Marxismus ohne „Geschichte und Klassenbewußtsein“ denkbar wäre: Das Buch ist sein Fundament. Die Abwehrhaltung von Adorno und Horkheimer gegen diesen Lukács von „Geschichte und Klassenbewußtsein“ hat wahrscheinlich viel damit zu tun, daß sie ihm viel mehr zu verdanken haben, als sie sich selbst und ihrem Publikum eingestehen wollen. Selbst Adornos „Negative Dialektik“ (die uns Demorovic als mustergültiges Beispiel einer selbstreflexiven Dialektik empfohlen hat) ist in weiten Teilen noch ein Reflex auf diesen frühen Lukács. Darüber müßte natürlich ausführlicher diskutiert werden, als wir es hier können. Ich möchte trotzdem soviel sagen, daß gegenüber dem „orthodox-marxistischen“ Problemverständnis einige entscheidende Unterschiede ins Auge springen:

– Die „Negative Dialektik“ bleibt im meta-theoretischen Raum angesiedelt und arbeit sich nicht am historischen Material und den Problemen der konkreten Gesellschaft ab. Ihr Pathos der „Verweigerung“ ist eine auf das Bewußtsein beschränkte Negation; die kultivierte abstrakte Verweigerung ist mit einem Rückzug aus der konkreten Geschichte bedeutungsgleich.

– Die „Negative Dialektik“ reflektiert konsequenterweise deshalb auch nicht die Rolle der Subjekte als gleichermaßen passiven und aktiven Teil des sozialen Geschehens. Es wird in diesem Zusammenhang nochmals deutlich, daß die „Kritische Theorie“ keine Subjekttheorie besitzt. Sie analysiert subjektive und beschreibt subjektivistische Befindlichkeiten, aber das Subjekt als Motor des gesellschaftlichen Prozesses kommt als theoretische Kategorie nicht vor.

– Als bloß „negative“ verzichtet Dialektik auf einen normativen Bezugspunkt, der es ihr ermöglicht zu begründen, weshalb das Bestehende veränderungsbedürftig ist.

Diese inhaltliche Ausprägung der „Negativen Dialektik“ ist die Konsequenz jener skeptischen Geschichtsmetaphysik, die in der „Dialektik der Aufklärung“ expliziert wurde und die den eigentlichen Gegensatz zu Koflers Geschichts- und Gesellschaftsverständnis darstellt. Ich halte es für intellektuell wenig befruchtend, wenn Demirovic auf diese philosophischen Gegensätze zwischen der Frankfurter Schule und Kofler überhaupt nicht eingeht. Denn es handelt sich um Positionsbestimmungen, die auch die soziologische Praxis und das Dialektikverständnis beider Seiten bestimmen. Adorno hat in seinen Vorlesungen zur „Philosophischen Terminologie“ selbst darauf verwiesen, daß weltanschauliche Grundmuster die „Vorstellungen vom Wesen und vom Zusammenhang der Dinge, der Welt, des Menschen“ mitprägen. Sowohl Koflers „revolutionärer Humanismus“ als auch die „Kritische Theorie“ sind durch normative Prämissen beeinflusst; beide argumentieren von geschichtsphilosophischen Grundannahmen aus. Aber es ist eben ein Unterschied, ob sie praxisphilosophisch und humanistisch orientiert sind, oder wie bei Adorno aus dem Dunstkreis bürgerlichen Vergeblichkeitsdenkens stammen. Es ist von entscheidender Bedeutung für die intellektuelle Sprengkraft einer Theorie, ob Geschichte als offenes Projekt begriffen, oder als Sphäre des Immergleichen und der „unaufhörlichen Regression“ (wie es wörtlich bei Horkheimer und Adorno heißt) stilisiert wird.

Die kategorische Behauptung, daß die Annahme eines schicksalhaften Umschlags der Vernunft in Repression zu den dialektischen Denkvoraussetzungen einer über sich selbst aufgeklärten Aufklärung gehöre, hat nicht selten die diskursive Funktion, ein intensiveres Nachdenken über die Dialektik historischer Entwicklung zu verhindern und soziale Veränderungsintentionen zu diskreditieren. Den Ansprüchen einer kritischen Gegenwartstheorie kann ein solcher Ansatz deshalb nur unzureichend gerecht werden.