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» Georg Lukács und das ideologische Bewusstsein [1956]

Georg Lukács und das ideologische Bewusstsein [1956]

Vor wenigen Wochen ist der marxistische Literarturhistoriker und Theoretiker Georg Lukács 70 Jahre alt geworden. Rechnet man die Anfangszeit, in welcher der historische Materialismus von Marx und Engels entwickelt wurde, und die letzten Jahrzehnte, in welchen der bedeutendste marxistische Theoretiker unserer Zeit Georg Lukács seine Arbeit leistete, mit ein, so kann man sagen, dass der historische Materialismus hundert Jahre brauchte, um sich zur reifen Theorie auszubilden, die Kunst der Anwendung auf konkrete Probleme der Ideologie zu erlernen und seine Verifizierung in einer umfassenden ideologietheoretischen Arbeit – eben bei Lukács – zu finden. Gewiss gab es allerhand bedeutende Ansätze zu einer solchen Arbeit. Wir erinnern nur an die Untersuchungen Mehrings zur preußischen Geschichte, die ihren Höhepunkt in der Lessinglegende erreichte. Aber in der Anwendung des historischen Materialismus auf Fragen der Literatur oder der Philosophie blieb Mehring an der Oberfläche haften.

Mit seinem 1923 erschienenen Werk Geschichte und Klassenbewusstsein gelang Lukács, dem Angehörigen der ungarischen Adelsklasse und bis ungefähr 1918/19 noch bürgerlich orientierten Philosophen und Ästhetiker, der große Durchbruch, der in zahlreichen, teils genialen Essays über Fragen der Literaturtheorie und -geschichte fortgesetzt wurde. Lukács entwickelte in strenger Anwendung des historischen Materialismus und in Anknüpfung an die Marxsche Theorie des künstlerischen Realismus eine marxistische Ästhetik auf Grund der Lehre von der dialektischen Beziehung von Kunst und Leben, der daraus folgenden Überwindung des Formalismus bei gleichzeitiger Anerkennung der Bedeutung der Form als eines Elements in aller hochstehenden Kunst und schließlich der Aufdeckung der dialektischen Beziehung zwischen dem Allgemeinen („Typischen“) und Besonderen (in der Persönlichkeit des Künstlers und in den Objekten künstlerischen Schaffens, den Gestalten, Schicksalen und gesellschaftlichen Gegebenheiten).

Lukács vertritt den Standpunkt, dass ungeachtet der künstlerischen Notwendigkeit, im Gegensatz zum Naturalismus das gesellschaftlich Typische zum Objekt der künstlerischen Darstellung zu machen, das echte Kunstwerk sich in Abgrenzung gegen den abstrakten und leeren Formalismus durch die künstlerische Gestaltung der konkreten Vielfalt der Beziehungen zwischen dem Individuellen und dem Typischen auszeichnet, worin eben die „realistische“ Erfülltheit der Schilderung besteht. Die dialektische Gleichzeitigkeit der Schilderung des Eingesponnenseins des einzelnen im Ganzen und des Sichausdrücken des Ganzen, der gesellschaftlichen Totalität, im Schicksal des einzelnen ergibt allein eine Erfassung der tiefsten Seinsformen und Probleme der menschlichen Existenz, die der Wirklichkeit in ihrer Lebendigkeit, Dramatik und tragischen Widersprüchlichkeit entspricht. Erst dadurch wird jene künstlerische Form der Darstellung gefunden, die nicht nur tief hinab leuchtet in das Gefüge der verworrenen und verknoteten menschlichen Schicksalhaftigkeit und damit die Erzählung „wahr“ macht – nur so vermag sie auch die von allen Künstlern erstrebte Wirkung auf den Leser zu erzielen, indem sie ihn packt, aufwühlt und begeistert.

Alle echte Kunst ist deshalb auch demokratisch. Die den Menschen vereinseitigende und verzerrende, weil an seiner Totalität vorbeigehende „Tiefen“kunst unserer Zeit, etwa die Dichtung Benns oder Prousts, bleibt aristokratisch, indem wie dem dekadenten Subjekt zur selbstgefälligen Rechtfertigung seiner Verzweiflung und Ausweglosigkeit, seiner Abwendung von den echten Fragen des Lebens, seiner Flucht vor den wahren Problemen der Zeit dient und deshalb von dem großen Publikum nicht verstanden wird. Dass gelegentlich trotzdem bei wirklich begabten Künstlern nichtrealistischer Prägung auch realistische Züge durchbrechen und in ihrem Werk zu bedeutender Wirkung gelangen können, hat Lukács auch erkannt. So ist z.B. nicht zu bezweifeln, dass die Tatsache der modernen Entfremdung des Menschen bei Kafka trotz aller sonstigen unrealistischen Versubjektivierung durchaus begriffen wird und eine beherrschende Rolle spielt.

Was bei der Lektüre der Lukásschen Arbeiten, besonders der literaturtheoretischen, am meisten in Erstaunen versetzt, das ist die Art und Weise, wie in jeder Zeile die Dialektik lebendig wird, entgegen der abgegriffenen Schablone, zu der sie oft degradiert wurde, wie sie sich phrasenlos auslebt und dem Leser im konkreten Raume der Tatsachen überzeugend demonstriert, was sie zu leisten vermag. Wenn bei so hochbegabten marxistischen Denkern wie Hilferding oder Rosa Luxemburg die Dialektik sich überwiegend in der Analyse der gesellschaftlichen und ökonomischen Welt erschöpfte – welche Analyse in sich eine bedeutende Leistung darstellt –‚ so erkennt Lukács, dass der historische Materialismus sich am Ganzen, am gesellschaftlichen Sein und am gesellschaftlichen Bewusstsein, exemplifizieren muss, schon weil das gesellschaftliche Sein sich im historischen Raume des Bewusstseins bedient, um sich stets von neuem zu reaktivieren oder zu verändern. Für Lukács ist daher die Welt der Ideologien (der falschen und richtigen) kein bloßes Spiegelbild, in welchem sich das Sein mechanisch und undialektisch reflektiert, sondern ein wesentliches Element des Seins selbst, seiner Selbstsetzung „durch den menschlichen Kopf hindurch“, wie Engels sich ausdrückt.

So zeigt Lukács einmal, dass die gesellschaftlich-ökonomische Tatsache der Arbeitsteilung, der in früheren Epochen die Herrschenden nicht unterworfen waren, eine bestimmte kritische Stellungnahme, eine kritische Ideologie hervortreibt, die aber gleichzeitig dazu dient, dieselben Zustände zu verklären und zu festigen. In dem Aufsatz „Marx und das Problem des ideologischen Verfalls“ sagte er darüber: „Die kapitalistische Arbeitsteilung unterwirft sich also nicht nur sämtliche Gebiete der materiellen und geistigen Tätigkeit, sondern ragt tief in die Seele eines jeden einzelnen Menschen hinein und verursacht in ihr die tiefstgehenden Deformationen, die dann in den verschiedenen ideologischen Äußerungsweisen in verschiedener Form zutage treten … Oberflächlich gesehen gibt es in der Verfallsperiode ein ununterbrochenes romantisches Wehklagen über das Überhandnehmen des Spezialistentums: eine dekorativ-romantische Verherrlichung der großen Gestalten vergangener Epochen, deren Leben und Tätigkeit noch einen allumfassenden Universalismus gezeigt hat … Der Grundton all dieser Verherrlichungen und Lamentationen ist jedoch: die immer enger werdende Spezialisierung sei das ‚Schicksal‘ unserer Epoche, ein Schicksal, dem niemand entgehen könne.“

Bei aller Anerkennung der riesigen geistigen Leistung von Lukács, dessen Scharfsinn sich auf ein gewaltiges und universales Wissen stützt, sei auch eine kritische Bemerkung erlaubt. Es scheint mir, dass eine gewisse Lücke – um nicht zu sagen: Mangel – im Lebenswerk von Lukács vorhanden ist. Lukács hat kein einziges theoretisch systematisches Werk des Marxismus geschaffen, nicht einmal sein Werk Geschichte und Klassenbewusstsein kann als solches gelten.
Jeder Marxist weiß, dass Werke fehlen, in denen die Dialektik oder der historische Materialismus in ihren rein theoretischen Aspekten, aber zum geschlossenen System geordnet, dargestellt werden. Alle nach dieser Richtung weisenden Versuche vor Lukács – Mehring, Plechanow, Bucharin, Thalheimer, Max Adler, Kautsky, Stalin – sind daran gescheitert, dass sie in „verstandesmäßig“-analytischer Weise den historischen Materialismus beschrieben, statt ihn in zusammenschauend-dialektischer Weise systematisch darzustellen.

Sie haben ihn nicht in seinem komplizierten Gefüge, wie er gerade bei Marx und Engels (wo er nur in zerstreuten Äußerungen vorliegt) gemeint ist, neu abgeleitet, sondern bloß mehr oder weniger geistvoll rekapituliert. Hat schon Marx geplant, eine systematische Dialektik zu schreiben, so wäre Lukács der Kopf, diesen Plan durchzuführen. Doch es blieb Schülern, die von Lukács zwar lernen, ihn aber nicht erreichen konnten, überlassen, Versuche nach dieser Richtung zu machen; und deren sind nur recht wenige.

Zum Verhältnis von Lukács und seinen Schülern noch ein Wort, weil sich heute schon Missverständnisse auftun, die gefährlich werden könnten. Wenn vor kurzem Peter von Oertzen forderte, die marxistischen Autoren müssten über Lukács hinausgelangen, so ist das ein Missverständnis. Man kann über Lukács ebensowenig hinausgelangen wie als Marxist über Marx. Lukács ist eine Säule der Orientierung in der Arbeit der Nachfolger, aber keine Grenze, die man beliebig erweitern kann. Man kann Lukács auch nicht nachahmen. Man kann sich die Ergebnisse seiner Forschung aneignen – selbständig denkend aneignen – und von ihm lernen, wie man dialektisch richtig und nicht scheindialektisch-phrasenhaft sich an Probleme der Vergangenheit oder der Gegenwart machen kann, um sie zu durchleuchten. Es ist Tatsache, dass sich marxistische Autoren noch viel zu wenig mit den komplexen Erscheinungen sozial-ideologischer Natur des Mittelalters (ich denke vor allem an die religiösen Bewegungen und Ideologien) und der beginnenden Neuzeit beschäftigt haben. Ein marxistisches Durchdenken der modernen irrationalistischen Literatur oder, um noch ein Beispiel zu nennen, der Erscheinungen der Bürokratie unserer Zeit tut not und wird von Lukács viel zu lernen haben. Aber es wird, wenn es auch selbständig vorgehen muss, Lukács nicht übertreffen können. Lernen kann man von Lukács auch, dass zwischen bedeutenden ideologischen Systemen, die zu untersuchen sind, und unbedeutenden unterschieden werden muss. Die bedeutenden sind in ihrer Gänze zu durchleuchten; bei den unbedeutenden genügt es, außer ihrer konkreten gesellschaftlich-ideologischen Rolle die Falschheit ihrer theoretischen Prämissen aufzudecken, woraus sich die Haltlosigkeit des ganzen Systems ergibt. Auch das bedeutende System mag falsch sein, aber es kann verborgene Tiefen und Aussagen enthalten, deren Aufdeckung und Klärung von großer Wichtigkeit für das Verständnis der Gesellschaft und ihres Denkens sein kann; das unbedeutende System erkennt man daran, dass es solche Aussagen gar nicht oder nur in unzulänglichem Maße enthält. In diesem Sinne bedeutend kann auch eine reaktionäre und menschenfeindliche Theorie sein, aber dann muss sie erst recht zum Objekt einer gründlichen Erforschung und Widerlegung werden.

Die Unterscheidung zwischen bedeutenden und unbedeutenden ideologischen Aussagen tendiert wie die Beachtung der Verschiedenheiten und Nuancierungen überhaupt auf Beachtung des Individuellen im allgemeinen ideologischen Prozess. Nun ist es wiederum Lukács, der verdienstvoll zeigt, wie auch hinsichtlich der Philosophie sich die unendliche Vielfalt des Individuellen durchaus gleichzeitig als Element des Typischen begreifen lässt, d.h. wie Allgemeines und Besonderes trotz ihrer scheinbaren Ausschließlichkeit sich mit Hilfe der materialistischen Dialektik als Einheit verstehen lassen, ohne dass aber das eine oder andere in irgend einer Weise beschnitten oder gar eliminiert würde. In solchen Werken wie Existentialismus und Marxismus, Der junge Hegel und ganz besonders in der Arbeit Zerstörung der Vernunft konkretisiert Lukács diese Methode. Im zuletzt genannten Werk ordnet sich die große und von Lukács stets individuell behandelte Verschiedenheit der wissenschaftlichen Ideen seit dem vorigen Jahrhundert letztlich ein in den großen gegensätzlichen Strom des Verhältnisses von Vernunftdenken und Irrationalismus und schließlich sogar von Materialismus und Idealismus.
Überschaut man die Leistung von Lukács, so kann man sagen: Lukács und sein Werk sind selbst zu einem wichtigen Element der modernen Bewusstseinsbildung geworden. Das beweist allein schon der Streit um Lukács, der nicht zuletzt auch veranlasst ist durch die Tatsache, dass er wie kein anderer marxistischer Theoretiker es verstanden hat, die Aufmerksamkeit der bürgerlichen Welt auf sich zu ziehen und sie zur Beschäftigung mit marxistischem Gedankengut zu zwingen. Dieser Streit wird aber noch dadurch verschärft, dass Lukács trotz aller Schwierigkeiten, die ihm seitens der stalinistischen Bürokratie bereitet wurden, ausharrte. Nicht wenig wird das Wissen dazu beigetragen haben, dass er im Westen seine Arbeit niemals vollendet hätte. Auch die bürgerliche Demokratie hat ihre Haken, deren für einen marxistischen Wissenschaftler lebensgefährlichen Spitzen Lukács sich nicht aussetzen wollte. Vielleicht ist es gut so, denn vielleicht wird der Humanismus und der überall lebendige demokratische Geist seines Systems wesentlich dazu beitragen, jenen heute überlebten Terrorismus des Ostens abzubauen, der in seinen propagandistisch gegen den Sozialismus wirkenden Ausstrahlungen auf die westliche Welt uns Sozialisten anhängt wie ein Klotz am Bein.

Erstveröffentlichung in: Die Andere Zeitung, 16.2.1956, S.4.