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„Yuppie“-Moral. Zur Kritik des neoliberalen Sozialdarwinismus [1987]

Unter Manchesterliberalismus und Sozialdarwinismus, die beide dem 19.Jahrhundert angehören, versteht man etwas Verwandtes: die Vorstellung, dass die moderne kapitalistische Gesellschaft jedem die Möglichkeit bietet, auf der Grundlage der „freien Konkurrenz“ oder des „Kampfes ums Dasein“ das beste an wirtschaftlichen Vorteilen herauszuholen und aus sich das zu machen, was die Entwicklung der Persönlichkeit genannt wird. Die Gesellschaft würde dann in ihrer Gesamtheit den Vorteil daraus ziehen, dass die Begabtesten, Stärksten und Geschicktesten unter der Vielfalt der Individuen auf Grundlage ihrer bevorzugten Qualifikation obsiegen, sich durchsetzen, während die „minderwertigen“ Elemente untergehen, und auf diese Weise der ständig sich wiederholende gesellschaftliche Erscheinungsprozess der Menschheit insgesamt auf eine immer höhere Stufe der Selbstreinigung und menschlichen Artikulation hebt, der Fortschritt also gesichert ist. In der Hauptsache sind sich der alte wie der neue Manchesterliberalismus und Sozialdarwinismus – man könnte mit einiger Reserve auch den Malthusianismus dazu zählen – hierin einig. Gegen diese beiden wissenschaftlichen und ideologischen Strömungen gibt es zunächst zwei Einwände: Erstens, dass die Erfahrung lehrt, wie sehr es wahr ist, dass vielfach die am meisten vergeistigten, um die Verwirklichung der anthropologisch definierbaren Merkzeichen von Kunst, Wissenschaft, Weltanschauung und Moral ringenden und deshalb menschlich am höchsten stehenden Individuen infolge der damit zusammenhängenden Abwendung vom reinen Egoismus, und das bedeutet heute von den einseitig wirtschaftlich orientierten und überhaupt rein egobezogenen Interessen, am kürzeren Strange zu ziehen gezwungen sind und unter die Räder des allgemeinen Raufens um „Erfolg und Glück“ geraten; während zugleich in dummdreister ideologischer Gleichsetzung von „stark“ und „besser“ die angeblich „besseren“ Individuen dem gesellschaftlichen Gesamtleben ihre Verhaltensnormen und „Ideale“ aufprägen und damit der gesellschaftlichen Degradation und Entmenschlichung nicht nur das Wort reden, sondern alle Chancen der ebenso morbiden wie makabren Verwirklichung eröffnen. Zweitens, dass die klassendifferenzierte Organisation der Gesellschaft, sofern sie in der Gestalt der kapitalistischen alle Vorsorge dafür trifft, die Bevorteilung der einen Klasse gegenüber der anderen derart fördert und sichert, dass den einzelnen Individuen in ihrer großen Mehrheit von der Geburt her der Lebensweg vorgeschrieben ist. Besonders in Nordamerika – und von daher auf viele kapitalistische Länder ausstrahlend – hat sich der Manchesterliberalismus gegenwärtig gegen alle Widerstände durchgesetzt und findet seine klarste Inkarnation in den sich selbst so bezeichnenden „Yuppies“, wenn auch nicht nur in diesen, denn es gibt zahlreiche Variationen bis ins Abergläubisch-Religiöse und ins Lumpen-Kriminelle. Diese Strömung zumeist jüngerer Leute zwischen 25 und 45 vertritt die Ansicht, dass unter Wahrung der besten Formen des Benehmens, der Kleidung und der Selbstbeherrschung, die gleichsam als Maske dienen sollen, der eingestandene, ja vergöttlichte Egoismus den Kampf aller gegen alle bis zu jener Höhe hin kultivieren soll, auf der entschieden wird, wer untergeht und wer den Unterlegenen „cool“ missachtend – wie überhaupt „cool“ zu bleiben, allen Handlungen angemessen ist – sich über die anderen siegend erhebt. Mit anderen Worten: Der krasseste Egoismus wird hier zum allein geltenden Maßstab für alles Lebenswerte erhoben. Die Folgen sind verheerend. Die Entfremdung des Menschen von allen wirklich geistigen, ethischen, humanistischen wie ästhetischen Werten hat ein noch nie zuvor dagewesenes Ausmaß angenommen. Nur dass wir uns hüten müssen vor jener Verkehrung, in der das „Yuppie“tum als die Ursache und die kapitalistische Morbidität als die Folge davon erscheint; genau betrachtet verhält es sich natürlich umgekehrt, worauf wir hier nicht näher eingehen können. Ausdruck dieser Morbidität sind: Kriminalität bis in das normale Geschäftsleben hinein, Bildungsrückgang oder besser -rückstand bis auf ein engmaschiges System von Phrasen (nur wenigen z.B. ist es gegeben, zwischen den Begriffen des „Konservativen“, „Liberalen“ und „Sozialistischen“ oder gar „Kommunistischen“ richtig zu unterscheiden, obgleich sie aufgerufen sind zu unterscheiden, nämlich mittels des Wahlrechts). Schon der amerikanische Präsident John F.Kennedy, der weitaus wissender und gebildeter war als Reagan, hat geklagt, dass die Mehrzahl der zum Militärdienst einberufenen jungen Männer wegen geistiger und körperlicher Untauglichkeit zurückgestellt werden müssten; inzwischen ist es noch schlimmer geworden. Einen Nachweis der Richtigkeit unserer Darstellung der heute in den kapitalistischen Ländern vorherrschenden Geistigkeit, besser Ideologie, finden wir in den Empfehlungen des wissenschaftlichen Gutachtens, das der baden-württembergische Ministerpräsident Lothar Späth in Auftrag gegeben hat. Die Ergebnisse sind 1983 unter dem Titel Zukunftsperspektiven gesellschaftlicher Entwicklungen erschienen. Wie die amerikanische Lebensauffassung unter Unterstützung amerikanischer Intellektueller und „Yuppie“-Praktizierer, empfiehlt diese Kommission den Kampf aller gegen alle als Lebensideal: Nicht historisch gewachsene und mit der Klassengesellschaft verknüpfte gesellschaftliche Zustände sind schuld an den zahlreichen Missständen subjektiver und objektiver Art, denn die bestehende Gesellschaft kann im Prinzip als eine heile angesehen werden; schuld ist, so wörtlich, „die persönliche Inkompetenz“. Die Gesellschaft als solche ist, so ausdrücklich, „keineswegs brüchig geworden, vielmehr in hohem Maße gemeinschaftsfähig“. Ist die persönliche Inkompetenz schuld, so übersehe man nicht, wiederum wörtlich, den „Wert der Ungleichheit“, wobei nicht gesagt wird, welcher Art sie ist, nämlich ob, wie wir oben ausführten, in geistiger und moralischer Überlegenheit gelegen, was oft mit persönlicher Hilflosigkeit und deshalb mit dem Ausschluss aus der „Elite“ – „Wert der Ungleichheit“ – verbunden ist, oder in der „Yuppie“-Art, im Egoismus auf den Schwächeren herum zu treten und sich auf diese Weise zu den in der „Ungleichheit“ Oberen herauf zu mogeln, wobei auf die „Zustimmungsfähigkeit“, ja „Zustimmungspflichtigkeit“ der unten Bleibenden gerechnet wird – was auch weitgehend gelingt. (Die in Gänsefüßchen gesetzten Begriffe sind dem Späth-Gutachten entnommen.) Der alte Manchesterliberalismus und Sozialkonservatismus haben hier und heute – von der Warte der heutigen Entwicklungshöhe und der heutigen Einsicht betrachtet – eine sogar zugespitzte Bedeutung erhalten. Dies nicht nur in der Alltagsideologie, in der das Rennen auf dem Paradeplatz der Übervorteilung des anderen allgemein geworden ist, sondern auch in der nihilistischen Wissenschaft, wenn auch unter verschiedenen Begriffen und ideologischen Verschleierungsformen. „Leistung“, „Leistungsgesellschaft“, ja „Selbsthilfe“ der Schwachen und sogar „Selbsthilfeorganisationen“, die mit ihren mageren Bettlergaben das Land überschwemmen, sind die Pflastersteine auf dem Wege der Lösung aller sozialen Probleme. Dies nicht etwa unter der Bedingung der „ursprünglichen Akkumulation“ und ihrer Nachfolge wie im vorigen Jahrhundert zugestandenermaßen noch unvermeidlich, oder nach dem „Dreißigjährigen Krieg“ und Bürgerkrieg (1914 bis 1945) in der Sowjetunion, sondern in den reichsten Ländern der Welt. Nicht zu übersehen sind gerechterweise die zahlreichen, aber das Problem in keiner Weise lösenden Hilfsorganisationen, deren, ideologisch betrachtet, wahrer Zweck darin gelegen ist, dem alles beherrschenden amerikanischen Spießer die Gelegenheit zu geben, seine Schuldgefühle abzutragen und sich vor aller Welt mit seiner „gütigen“ Aktivität wichtig zu machen; er stürbe sonst vor Leere und Langeweile. Die jüngere „Yuppie“-Generation, in welcher Spielart immer, bereitet sich auf das mildtätige Leben der Alten vor. In der Sendung von I.Breuer und D.Mersch „Tanz in der Bannmeile“ (Deutschlandfunk, 15.10.86) formulieren das die Verfasser so: „Es herrscht die Künstlichkeit. In verspiegelten Bars gibt man sich cool wie das Ambiente aus Glas, Aluminium und Marmor. Hier trifft sich eine neue Dekadence und spielt die große Welt. Das Gesicht geschminkt und die Mimik einstudiert. Die Schultern aus Watte und der Rock aus Gummi. Man lebt mondän auf Dispositionskredit.“ Das geht natürlich nicht ab ohne das manchesterliche Ego: Man kriecht vor ihm und betet es an – im Sinne des „Werts der Ungleichheit“. Natürlich gibt es – und dies gerade bei den Jüngeren – das Gegengewicht, den Widerspruch gegen die allgemeine Wucherei, Halsabschneiderei und „Leistungs“moral; nämlich das närrische Gespiele, die hohle Gaukelei mit und ohne Alkohol, die kindische Fastnacht, Musik- und Theatergruppen von groteskem Geplärr als Alltags“kultur“.(1) Der „Moral“ des leistungsstarken Manchesterliberalismus wird eine „Moral“ des Parasitentums entgegengehalten. Beide ergänzen sich als entgegengesetzte Symbole der allgemeinen Vermaterialisierung des ideologischen Bewusstseins, das sich als ganzes begrifflich verschwommen der „Postmoderne“ zuzählt. Und woher kommt das alles?! Ja, wie kommt der grüne Spinat auf das kapitalistische Dach?! Anmerkung: (1) Im neuen Kölner Museum ist auf der zweiten Etage eine riesige weibliche Figur zu sehen: eine dreist-dreckige Beleidigung der Frau! Von den Formen des Nihilismus, dem klugen und dem schmierigen – dumm wäre ein zu schwacher Ausdruck – trifft der letztere auf diese Figur zu.

Erstveröffentlichung unter dem Titel „Sozialdarwinismus“ in: Sozialismus 2/1987, S.22f.