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» Der Arbeiter und die sterbende Zeit. Zum Problem der Trauer, Entfremdung und Freizeit im Arbeiterdasein [1958]

Der Arbeiter und die sterbende Zeit. Zum Problem der Trauer, Entfremdung und Freizeit im Arbeiterdasein [1958]

Drei zusammenwirkende Faktoren sind es, die die das Leben des Arbeiters durchziehende Grundstimmung der Trauer hervorrufen: 1. das Milieu, das sich aus der Arbeitsstätte samt Umgebung und den Zufahrtsstraßen und -mitteln (z.B. typische Arbeiterzüge) zusammensetzt, 2. das Wissen des Arbeiters um seine soziale und menschliche Inferiorität und 3. das Ausgeliefertsein des Arbeiters an ein beherrschendes Phänomen seines Lebens, an die sterbende Zeit.
Um dieses Phänomen zu verstehen, müssen zwei Begriffe geklärt werden, der Begriff der Arbeit und der Begriff der hier in Frage stehenden (nicht bloß physikalischen) Zeit.

Es ist ein weitverbreiteter Irrtum zu meinen, dass die Begriffe Arbeit und Arbeiter in direkter Wechselwirkung derart zueinander stehen, dass sich der Arbeiter schlechthin durch die Tatsache seiner Arbeit bestimmt und eben wegen dieses Merkmals, Träger der Arbeit zu sein, sich von den übrigen Menschen erkennbar unterscheidet. Die Wahrheit ist vielmehr, dass der Arbeiter deshalb ein arbeitendes Wesen ist, weil er Mensch im allgemeinen Sinne ist. Dagegen als Arbeiter im spezifisch gesellschaftlichen Sinne ist er ein der Arbeit – genauer: ihrer ursprünglichen Bestimmung, wie noch zu zeigen – entfremdetes Wesen. Denn in ihm äußert sich die Arbeit, sofern wir sie als ursprüngliche, anthropologische Wesenheit des Menschseins begreifen, geradezu als Nichtarbeit, d. h. als Verderbnis der ursprünglichen Eigenheit des Menschen, als eine ihn verwüstende Erscheinung. Wie ist das genauer zu verstehen?

Arbeit und Spiel
Der mit Bewusstsein begabte Mensch, der kraft dieses Bewusstseins sich Ziele zu setzen vermag, deren Verwirklichung er dadurch nachstrebt, dass er Elemente der Wirklichkeit (Objekte) verändert, erscheint aus diesem Grunde bereits seiner Natur als Mensch nach als ein tätiges oder arbeitendes Wesen. In anthropologischer „Absicht“ ist es der Zweck der Tätigkeit (gleich Arbeit) des Menschen, „selbstverwirklichend“ zu wirken, d. h. die menschlichen Kräfte, Anlagen und Gaben und damit den Menschen selbst zu harmonischer Entfaltung zu bringen. Eine solche Arbeit heißt schöpferische Arbeit, und sie zeigt überall da die Tendenz zum Schöpferischen, wo sie ihren freien, weil auf die Selbstverwirklichung ausgerichteten Charakter behält, nicht der menschlichen Bestimmung fremden, ihr „entfremdeten“ und in dieser Gestalt zumeist aufgezwungenen Zielen dient. Im Bereiche einer solchen freien Tätigkeit oder Arbeit erhält diese eine neue Eigenschaft dahingehend, dass sie gleichzeitig mit dem zusammenfällt, was wir als Spiel zu bezeichnen pflegen (wovon die sinnlose Spielerei, die übrigens gleichfalls eine Form der Arbeit darstellt, scharf zu unterscheiden ist). Es ist daher durchaus richtig zu sagen, dass die eigentliche anthropologische Wesenheit des Menschen sich darstellt im Spiel; die Begriffe Tätigkeit, Arbeit und Spiel gelangen hier zu voller Identität.

Zwar ist der Arbeiter, weil er Mensch ist, tätig, zwar arbeitet er, aber unter den entfremdeten Bedingungen seiner Existenz – und er ist nur da „Arbeiter“, wo Entfremdung herrscht (unter nicht entfremdeten Bedingungen hebt er sich als besonderer „Arbeiter“ auf) – seine Arbeit ist genau das Gegenteil von Arbeit im ursprünglichen und eigentlichen Sinne, oder was dasselbe bedeutet, vom freien Spiel. Der Arbeiter ist die personale Verkörperung der Entfremdung vom Spiel, er ist ihr Gegenteil. Die wesenhafte Identität von Mensch und Arbeit, die wir als wesenhafte Identität von Mensch und Spiel nachgewiesen haben, ist gestört, weil der Arbeiter in seiner Arbeit nicht mehr als wahrer Mensch erscheint, sondern als verdorbener Mensch. Jetzt versteht man, warum der Arbeiter in den meisten Fällen sich in der Arbeit unbehaglich und erst außerhalb der Arbeit wohl zu fühlen pflegt. Hinzuzufügen ist nur, dass infolge der Formung des Arbeiters durch seine entfremdete Arbeit auch die Freizeit als Zeit der freischöpferischen Tätigkeit zu misslingen pflegt, obgleich aus der niemals ganz ersterbenden Abwehr gegen das vollständige Unterliegen unter die Entfremdung gelegentlich sogar starke Residuen einer solchen Tätigkeit zu beobachten sind.

Entfremdung, Trauer, Langeweile
Der Begriff der Arbeit, mit dem wir es heute zu tun haben, ist also ein solcher der Entfremdung. Will man unbedingt eine enge Verknüpfung zwischen den Begriffen Arbeit und Arbeiter behaupten, so ist das nur insofern möglich, sofern eine solche Verknüpfung zwischen der entfremdeten Arbeit und dem Arbeiter besteht. Durch sie erscheint der Arbeiter selbst als der Entfremdung unterworfen, nicht frei, als ein unter ihrer Last Leidender, als ein Verworfener, dessen Bewusstsein dementsprechend kein glückliches, sondern nur ein unglückliches sein kann, und dessen Grundstimmung die Trauer ist. Langeweile und Trauer, sagt der große Industriesoziologe Georges Friedmann (Die Zukunft der Arbeit, S.47ff.), durchziehen den Arbeitstag des modernen Industriearbeiters.

Wie die Trauer dem entfremdeten Tun, so entspringt die Langeweile der entfremdeten Zeit. Seit Bergson und Heidegger sind wir genötigt, uns mit ihrem intuitionistisch und irrationalistisch vereinseitigten und auch subjektivistisch aufgeblasenen Zeitbegriff auseinanderzusetzen. Aber wie immer wir den Zeitbegriff fassen mögen, psychologisch oder „philosophisch“, es bleibt bei genauer Untersuchung von ihm letztlich nichts übrig als das subjektive Erleben der Zeit, d.h., die objektive, nach physikalischen Maßstäben ablaufende Zeit kann von den einzelnen Individuen je nach den Umständen, unter denen sie abläuft, verschiedenartig erlebt werden. Auf dieses psychologische Faktum reduziert sich das „Geheimnis“ der angeblich irrationalen Zeit. Aber dieser mystische Irrationalismus löst sich auf und wird rational durchschaubar, sobald wir die Zeit von der Abstraktion, in die sie die Metaphysiker hineingestellt haben, befreien und wieder in Beziehung zu jenen konkreten Faktoren bringen, ohne die sie als Zeit ein leeres Phantom bleibt, nämlich zu dem in ihr Geschehenden, zu ihrem Inhalt. Die Zeit, die der Arbeit des modernen Arbeiters zugehört, müssen wir natürlich in Beziehung zur Tätigkeit dieses Arbeiters bringen. Nicht die Zeit für sich löst das „Rätsel“ ihrer Wesenheit, sondern das in ihr ablaufende Geschehen, in unserem Falle die sie ausfüllende Tätigkeit. Das, was die „reine“ Zeit sein soll, erhellt sich nur in ihrer Beziehung zu dem vom Menschen in ihr Vollzogenen. Anthropologisch betrachtet, ist Zeit nichts anderes als eine Erscheinungsweise des Tuns des Menschen, ohne das es keine Zeit geben kann. (Selbst das „Nichtstun“ erscheint so als eine Art des Tuns.)

Flucht in die Freizeit
Aus dem Gesagten lässt sich nun ohne Schwierigkeit schließen, dass entsprechend den von uns herausgearbeiteten extremen Möglichkeiten des Tätigseins, und zwar der schöpferisch-spielenden und der unschöpferisch-entfremdeten, auch die Zeit den Charakter des einen oder des anderen erhält, sich als erfüllte schöpferische oder als entfremdet sterbende Zeit darbietet und als solche auch von Menschen erlebt wird.

Praktisch kann das Tun allerdings niemals rein als das eine oder das andere dieser Extreme auftreten, denn weder gibt es nur schöpferisches oder nur unschöpferisches Tun. Jede Tätigkeit, auch die der Bestimmung des Menschen am meisten entfremdete, jedes Spiels bare, zeigt spontane Züge des Schöpferischen, wie auch umgekehrt die schöpferische Tätigkeit Momente des Unschöpferischen enthält. Aber gerade diese dialektische Spannung zwischen dem Schöpferischen und dem Unschöpferischen aller menschlichen Tätigkeit (worin sich übrigens die anthropologische Position des Menschen widerspiegelt, nach allen Seiten „offen“ zu sein, – entgegen dem vulgär-optimistischen wie auch dem nihilistischen Menschenbild) zwingt dem Menschen jene Unruhe auf, die eine Art Kampf gegen das Tote und um das Lebendige in seiner Arbeit darstellt.

Deshalb bleibt sich selbst unter der Bedingung der stärksten Gewöhnung an den entfremdeten Arbeitsprozess der Arbeiter mehr oder weniger bewusst, in welcher Situation er menschlich steht. Es erklärt sich daraus auch weitgehend, dass, einer französischen Untersuchung zufolge, nicht nur 73 Prozent der Hilfsarbeiter, sondern sogar 78 Prozent der mittelqualifizierten Arbeiter und 59 Prozent der hochqualifizierten mit guter Bezahlung aus ihrem Beruf auswandern möchten. Es mag gewiss die Lohnfrage ein Faktor sein, die dem Arbeiter das Streben aufdrängt, seinen Beruf zu verlassen, aber der Tieferblickende weiß, dass es ebenso sehr das durch Langeweile und Trauer gekennzeichnete Unbefriedigende ist, das die gleiche Wirkung ausübt. Diesem Zustand entspringt die bekannte Sehnsucht des Arbeiters, seine Arbeit möglichst rasch zu beenden, oder das Verlangen nach gesetzlicher Verkürzung der Arbeitszeit. Die Arbeitszeit selbst erlebt der Arbeiter zumeist als eine für ihn sinnlose Zeit, als eine dahinsterbende, mit der sein eigenes Leben stückweise unerfüllt bleibt und dahinstirbt. Die entfremdet-unmenschliche Arbeit äußert sich in nichts eindeutiger als in der sterbenden Zeit. Das Dahinsterben des Arbeiterlebens in der sterbenden Zeit wird aber erst recht in seiner Bedeutung verständlich, wenn man sich gegenwärtig macht, dass es der wichtigste Teil seines Lebens ist, den der Arbeiter seiner Berufstätigkeit hingibt, weil darin der beste Teil seiner Kräfte aufgeht. In der allgemeinen Tragik der sozialen und menschlichen Situation des Arbeiters ist das ein wesentliches Moment. Darüber hilft ihm auch die ständige Flucht in die Freizeit wenig, weil er auch nach der Arbeitszeit das bleibt, was er in ihr geworden ist: ein kapitalistisch entfremdetes und menschlich unterdrücktes Wesen. Deshalb kann ihm die von ihm so sehr ersehnte Verkürzung der Arbeitszeit allein aus seiner Misere nicht heraushelfen. Hier hilft nur eine grundlegende Veränderung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen.

Rathenau und Marx
Schon Walther Rathenau hat das Problem der sterbenden Zeit gekannt (wir zitieren nach dem Vortrag von Kasnarich-Schmid, Recklinghausener Gespräche des DGB 1957, in welchen übrigens auch viel reaktionärer Unsinn geredet wurde):

„Wer mechanische Arbeit am eigenen Leib kennengelernt hat, … das Grauen, wenn eine verflossene Ewigkeit sich auf einen Blick auf die Uhr als eine Spanne von zehn Minuten erweist, wer das Sterben eines Tages nach einem Glockenzeichen misst, wer Stunde um Stunde seiner Lebenszeit tötet, mit dem einzigen Wunsch, dass sie rascher sterbe, wird zugeben, dass eine Kürzung der Arbeitszeit, gleichviel, was an ihre Stelle tritt, für den mechanisch Arbeitenden ein Lebensziel bedeutet.“

Rathenau hat den Tatbestand glänzend beschrieben, aber er hat keine ausreichende Erklärung zu geben vermocht. Heute wissen wir, nicht zuletzt auch durch die Herausgabe der Frühschriften von Karl Marx und die Vermeidung des üblichen Hinweglesen über die entsprechenden Stellen der Marxschen Spätschriften, besonders des Kapitals, dass wir ohne tiefensoziologische und anthropologische Hilfsmittel nicht auskommen.

Erstveröffentlichung in: Die Andere Zeitung, 20.3.1958, S.6 [Nachdruck in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, Hamburg 2000].

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