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» Das Experiment des perfekten Kapitalismus [1956]

Das Experiment des perfekten Kapitalismus [1956]

Es gibt einige Länder mit einem relativ gut funktionierenden oder, wie Apologeten der bürgerlichen Ordnung gelegentlich sagen, mit einem mehr oder weniger perfekten Kapitalismus. Nicht nur wird gerne auf die USA hingewiesen, sondern vor allem ziehen kleinere, abgerundetere, durch einen langen Frieden vor anderen bevorzugte Länder, wie z.B. die Schweiz und Schweden, die Aufmerksamkeit auf sich. Letztere sind kleinen Präzisionswerken vergleichbar, die zwar sehr empfindlich sind, aber im Großen und Ganzen reibungslos funktionieren.

Es ist offensichtlich, dass sie ihre Vorzugsstellung einem besonderen, durch glückliche historische Umstände und durch geschickte Ausnützung dieser Umstände errungenen Vorsprung auf dem internationalen Markte zu verdanken haben. Betrachten wir die Schweiz, das nach dieser Richtung interessanteste unter den erwähnten Länder, etwas näher, so bemerken wir, dass hier mehrere glückliche Umstände zusammengewirkt haben: die frühzeitige Entwicklung einer, den teuren Transportwegen der Berggegend angepassten und sich der Konkurrenz auf den ausländischen Märkten als weit überlegen erweisenden Feinindustrie; die lange Friedenszeit, die das Vertrauen des Auslands steigerte und fremde Kapitalien in größtem Maße in das Land zog (internationaler Kundendienst der Banken, Versicherungsgesellschaften usw.); die erstaunlich großen Investitionen in anderen Ländern, was nichts anderes bedeutet als die Ausnützung fremder Arbeitskraft und die Ansammlung der auf diese Weise gewonnenen Profite im eigenen Lande – nicht ohne Grund bezeichnet man die Schweiz als „Kolonialland ohne Kolonien“; die durch die Extraprofite ermöglichte großartige Technisierung und Rationalisierung, die den Vorsprung vor dem Auslande noch verschärfen; die ebenfalls mit Hilfe dieser Extraprofite hervorragend ausgebildete Facharbeiterschicht; und schließlich ist noch zu erwähnen die grenzenlose Auspressung der Arbeitskraft der arbeitenden Klassen – in keinem Lande wird so schwer gearbeitet wie in der Schweiz -‚ welcher Umstand einigermaßen verdeckt wird durch die Tatsache, dass die Arbeitenden, besonders die relativ breite Schicht der Arbeiteraristokraten, teilhaben an den Extraprofiten und der relative Wohlstand ihnen das Bewusstsein gibt, dass die dargebrachten Opfer ihren guten Sinn haben.

Der Unterschied zwischen der Schweiz und Schweden ist u.a. der, dass hier eine sozialdemokratische Regierung darauf bedacht ist, die Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie nicht nur zu sichern, sondern auch fortzuführen und auszubauen. Man denke etwa an die im Vergleich zu anderen Ländern gesteigerte Einflussnahme der schwedischen Gewerkschaften auf alle Fragen des Landes und die wenn auch nicht restlos beseitigte, so doch weitaus stärker als anderswo gelockerte Beeinflussung und Lenkung der Presse seitens kapitalistischer Interessen- und Machtgruppen, die es auch in Schweden gibt. Es darf hierbei nicht übersehen werden, dass Schweden trotz seiner „sozialistischen“ Regierung keinerlei grundlegende Veränderungen seiner gesellschaftlichen Struktur erfahren hat und deshalb ein in jeder Hinsicht kapitalistisches Land geblieben ist.

Das menschliche Missbehagen
Das Studium der bezeichneten drei hochkapitalistischen, in ihrer ökonomischen Stellung bevorzugten und an der Spitze marschierenden Länder erscheint uns deshalb besonders interessant, weil sich an ihnen die Frage eingehend studieren lässt, wie sich im Kapitalismus die menschliche Situation des Menschen, seine spezifisch menschlichen Probleme gestalten unter der Voraussetzung, dass seine ökonomischen Probleme (wenigstens im Vergleich zu anderen Ländern) einer relativen Lösung zugeführt sind, d.h. ein relativ hoher Grad der Bedürfnisbefriedigung und der wirtschaftlichen Sättigung erreicht ist. Diese Frage ist veranlasst durch die vielen „rätselhaft“ erscheinende Tatsache, dass eben diese Länder geradezu in Konkurrenz miteinander stehen, was ihre Weltrekorde an Ehescheidungen, Selbstmorden und Geisteskranken, aber ebenso die Ausbreitung des Alkoholismus, der Rauschgiftsucht und der Prostitution (in der Schweiz der Homosexualität) betrifft. Die neueste Meldung dieser Art beschäftigt sich mit der erschreckenden Zunahme der polizeilich registrierten, also nicht aller, Rauschgiftsüchtigen in den USA. Mit einer Höchstzahl unter allen Ländern des Westens sind heute in den USA 60.000 registriert. 1945 entfiel eine rauschgiftsüchtige Person auf 10.000 Einwohner. Es ist hierbei zu beachten, dass in dieser Zahl alle Säuglinge und Kinder mitgezählt sind, d.h. die Zahl der Erwachsenen, die für den Genuss von Rauschgift hauptsächlich in Frage kommen, auf etwa die Hälfte der Gesamtzahl angesetzt werden muss. Sagt also die Statistik weiter, dass es 1956 nur noch 3.000 Personen sind, auf die ein Rauschgiftsüchtiger kommt, was eine Verdreifachung in zehn Jahren bedeutet, so muss in Wahrheit das Verhältnis 1:1.500, bestenfalls 1:2.000 an genommen werden. Besonders bedenklich ist, dass 13 Prozent aller registrierten Personen unter 21 Jahre alt sind. Überhaupt greift die Entartung auf die Jugend über, was besonders in dem bekannten Problem der Halbstarken sichtbar wird.
Alle diese Erscheinungen sind veranlasst durch eine tieferliegende Ursache, nämlich durch ein vornehmlich im Bereiche des individuellen Lebens sich äußerndes und quälendes Missbehagen, das natürlich seinerseits noch erklärt werden muss. Die Schweizer bezeichnen dieses allgemeine und von ihnen offen eingestandene Gefühl des Missbehagens als „Malaise“. Über die eigentlichen und letzten Gründe dieser seelischen und geistigen Pest zerbrechen sie sich seit langem vergeblich den Kopf. Besonders seit Kriegsende entwickelte sich eine breit angelegte, fast die gesamte Presse durchziehende, öffentliche Diskussion, an der sich zahlreiche angesehene Persönlichkeiten des wissenschaftlichen, religiösen und politischen Lebens beteiligten. Die unmittelbare Veranlassung gab eine Erklärung der ersten englischen Lehrerdelegation, die die Schweiz nach dem Kriege wieder besuchte. Diese Erklärung ging dahin, dass der Schweizer auf den Ausländer den Eindruck eines hyperindividualisierten, egozentrischen und alles eher denn glücklichen Menschen mache. Trotz mancherlei geistvoller Analysen war das Resultat der Diskussion kläglich, womit wieder einmal bewiesen ist, dass die gesellschaftlich bedingte Befangenheit im ideologischen Oberflächenschein keine Wahrheitserkenntnis zulässt, besonders nicht, wenn diese geeignet ist, die Fundamente der kapitalistischen Klassengesellschaft in das Licht der Kritik zu ziehen.

Sind sie zu satt?
Die beliebteste Erklärung für das weitverbreitete und tiefsitzende Missbehagen mit allen seinen Folgen der menschlichen Unzulänglichkeiten in den ökonomisch bevorzugten Ländern geht dahin, dass die Menschen zu fett und zu sorglos leben, ihnen daher der Stachel zu ernster Besinnung fehle und sie daher allzu leicht „auf dumme Gedanken“ kämen. Doch ist diese Erklärung unhaltbar. Seit jeher waren Wohlhabenheit und Sattheit die Voraussetzung für die Entwicklung der Kultur und der Individualität ihrer Träger. Seit jeher waren es die herrschenden und satten Klassen, aus denen sich überwiegend die Heroen des Geistes, der Kultur und des Ethos rekrutierten, und in Zeiten des Aufstiegs und der Blüte nahmen die Angehörigen der wohlhabenden Klassen in ihrer Masse geistig und menschlich an dem Hochstand ihrer Klasse teil. Die klassischen Beispiele sind die griechische Antike und die Zeit der Renaissance, über deren Bürgertum sich Engels anerkennend äußerte. Nicht zufällig gibt es z.B. unter den Religions-, Ordens- und Sektenstiftern zahlreiche Söhne reicher Kaufleute (hier sei nur verwiesen auf Buddha, Mohammed, Augustinus, Petrus Waldus, Dominikus, Franziskus, Ignatius von Loyola). Das „Fett“, dass die herrschenden den arbeitenden Klassen abnahmen, gab ihnen die Freiheit, sich ungebunden zu betätigen und ihre Persönlichkeitswerte zu entwickeln. Haben auch die herrschenden Klassen aller gesellschaftlichen Epochen ihre Zeiten der Dekadenz und der Verkommenheit gehabt und waren auch in den Augenblicken des Hochstandes nicht alle ihre Angehörigen gleichermaßen Exponenten dieses Hochstandes, so ist doch die kurzschlüssige Behauptung, Sattheit wirke an sich lebenshemmend und erzeuge notwendig Missbehagen, eine voreilige Folgerung. Alles kommt auf die konkreten gesellschaftlichen Bedingungen an, die allein darüber entscheiden, wohin das ökonomische Wohlbefinden ausschlägt.

Überprüfen wir diese Bedingungen in den Ländern des höchstentwickelten Kapitalismus, so erweist es sich zunächst, dass eine durchschnittliche oder (bei bestimmten Schichten) weitgehende Verbesserung des Einkommens nicht, wie zu erwarten, spontan das Individuum veranlasst, die nunmehr zur Verfügung stehenden reichhaltigeren materiellen Mittel in den Dienst einer sinnvollen Lebensgestaltung und hochwertigen Betätigung in der Freizeit zu stellen, sondern eher das Gegenteil zutrifft. Dafür lassen sich weder psychologische noch anthropologische noch sonstige außergesellschaftliche Gründe anführen. Eindeutig entscheidend bleiben für dieses merkwürdige und „verkehrte“ Verhältnis zwischen ökonomischem Besserbefinden und individuellem Missbehagen solche Momente, die sich organisch aus dem individuell ausweglosen Unterworfensein der Menschen unter die spezifischen Lebensnormen des Kapitalismus ergeben. Nur wenn wir von diesen Normen, denen letztlich niemand entfliehen kann, ausgehen, wird verständlich, weshalb in der hochkapitalistischen Gesellschaft die Verfügbarkeit über größere materielle Mittel und die damit verbundene grundsätzliche Möglichkeit einer vermehrten individuellen Bewegungsfreiheit durchschnittlich mit Notwendigkeit in eine noch größere Fessel umzuschlagen pflegt und das Individuum in eine noch trostlosere Situation drängt. Betrachten wir die wichtigsten dieser Momente in der erforderlichen Reihenfolge, obgleich sie in der Realität einander durchdringen und in ihrer Gesamtheit ein kompliziertes Gebilde der Verquickung von materiellen, sozialen, seelischen und geistigen Elementen darstellen.

Die „Vermassung“
Es besteht kein Zweifel, dass an die Spitze dieser Betrachtung die extreme Individualisierung des gesellschaftlichen Kontakts zu stellen ist. Dass diese extreme Individualisierung, ja Pulverisierung unter der Bedingung der kapitalistischen Eigentums- und Klassenverhältnisse, die unter der Parole der „freien Konkurrenz“ den bestialischen Kampf aller gegen alle zur Folge haben, unvermeidlich in eine ebenso extreme Entindividualisierung und Vermassung umschlagen muss, kann hier im einzelnen nicht dargestellt werden; ich habe diesen Punkt in meiner Schrift Marxistischer oder ethischer Sozialismus? ausführlich besprochen. Dieser Interessante und für das Verständnis der menschlichen Situation im Kapitalismus grundlegende Zusammenhang von Verwandlung der Individuen in seelisch und geistig isolierte, egozentrische Teilchen und ihrer gleichzeitigen Unterwerfung unter einen, die individuelle Entfaltung behindernden Prozess der Vermassung erhält einen verschärften Akzent durch die ebenso extreme Vermaterialisierung, die ihrerseits hauptsächlich aus zwei Wurzeln gespeist wird. Erstens aus dem Zwang des Einzelnen, in den Mittelpunkt seines Strebens die im Kapitalismus stets bedrohte materielle Lebenssicherung zu stellen, der gegenüber die übrigen Interessen sekundär, oft sogar als nichtig erscheinen. Die zweite Wurzel sind die Konkurrenz-, Produktivitäts- und Absatzbedürfnisse der kapitalistischen Ökonomie, die sich genötigt sieht, mit Hilfe aller zur Verfügung stehenden Beeinflussungsmittel sich das Individuum bis in die seelische Sphäre hinein zu unterwerfen und es glauben zu machen, dass sein Glück und sein Wohlbefinden ausschließlich von der steigenden Befriedigung der an sich unbegrenzten materiellen Bedürfnisse abhängt. Der naturgemäße Drang nach Befriedigung der materiellen Bedürfnisse schlägt unter der Bedingung der egoistischen Vermaterialisierung des Einzelnen in die unstillbare Sucht um, alles der auf das Materielle ausgerichteten Seite in der menschlichen Existenz zu unterwerfen. Alle übrigen Regungen und Bedürfnisse werden überdeckt oder verdrängt, und es setzt sich eine Lebensauffassung durch, die die endlose Jagd nach materiellen Gütern zum beherrschenden Moment erhebt. Eine solche Lebensauffassung projiziert bewusstseinsmäßig den für das einzelne Individuum bei Strafe des Untergangs bestehenden Zwang zur Unterwerfung unter das vermaterialisierte Massendasein als Freiwilligkeit und macht so die Entmenschlichung vollkommen.

In die Tretmühle des kapitalistischen Massendaseins eingespannt, bleibt dem einzelnen Individuum in seiner großen Zahl – beim Intellektuellen variiert die Sachlage etwas, aber nicht wesentlich – bestenfalls nur die Möglichkeit, sich noch mehr auf sein Ich, seine Isolierung zurückzuziehen und so zu versuchen, sich individuell über die „Masse“ zu erheben. Möge ein solcher Versuch mit den Mitteln der Steigerung der materiellen „Behaglichkeit“ oder mit jenen der Kultivierung und „Verfeinerung des subjektiven Innenlebens“ vorgenommen werden – meist geht beides zusammen -, die Folge ist selbstverständlich eine noch größere Verengung des Umkreises echten menschlichen Sichauslebens, echten Betätigens und echter Entfaltung der Persönlichkeit bis zu jener Höhe, auf welcher man „das Bewusstsein seiner selbst gewinnt“ und jenen Raum menschlichen Seins betritt, in welchem allein der Mensch als Mensch frei zu atmen vermag, zu wahrer, auch innerer Freiheit gelangt und das gesuchte Glück findet. Die Folge ist eine noch größere Vereinsamung und Verzweiflung.
Das Vermögen zur tätigen und erfüllten Geselligkeit bildet ein zentrales und tragendes Moment dessen, was wirklich menschliches (und nicht deformiertes) Leben ist, und der unglückliche Zustand des Menschen setzt am ehesten da an, wo der Mensch glaubt, der Gemeinschaft und all dem, was sie aufgibt, den Rücken kehren zu müssen. Der Widerspruch des unglücklichen Zustandes wird immer offenbarer: Je mehr das der kapitalistischen Lebensform wehrlos ausgelieferte hyperindividualisierte Individuum die Überzeugung gewinnt, dass es sein Glück nur in sich selbst finden kann und bestrebt ist, sich auf sich selbst zurückzuziehen, je mehr es glaubt, in sich selbst jenen Ruhepunkt zu finden, den es in der menschenfeindlichen Atmosphäre des Kampfes aller gegen alle nicht zu finden vermag, desto mehr verliert es sich, desto mehr entfremdet es sich seinen eigentlichen Bedürfnissen, deren es sich allerdings niemals voll bewusst wird, weil man ihm das Bewusstsein davon im kapitalistischen Kulturbetrieb raubt. Auch der Kulturbetrieb zeigt zudem seine besondere Dialektik. Vom geselligen Wirtshaus bis zum Karneval entpuppen sich diese Institutionen als letzte Residuen der menschlichen Gemeinschaftlichkeit, der der Mensch letztlich seiner Natur gemäß doch nicht ganz zu entfliehen vermag, wenngleich sie unter der Bedingung der kapitalistischen Entfremdung und Entmenschlichung wiederum nur die Form einer schlechten Gemeinschaftlichkeit annehmen kann. Hält es der Mensch, wenigstens in seiner großen Masse, dauernd im Zustand der Isolierung nicht aus, so flieht er zwar in die Institute der Geselligkeit, aber indem er sie dem kapitalistischen „Kultur“betrieb überlässt, gibt er den geschilderten Tendenzen zur Vermassung und Vermaterialisierung des Menschen nur ein neues Mittel in die Hand, den Menschen menschlich nicht zu sich kommen zu lassen. Das Surrogat vergiftet noch mehr und steigert nur noch, statt es zu beheben, das Gefühl des seelischen und geistigen Alleinseins.

„Freiheit“ und „Schuld“
Möge die Sehnsucht nach menschlicher Freiheit ihre Befriedigung im versubjektivierten Bereiche des geheiligten Ich oder im Bereiche des kulturbetrieblichen Sichauslebens der Pseudogeselligkeit suchen – in beiden Fällen, die gleichzeitig eng mit einander verschlungen sind, erweist sich die vermeintlich gewonnene Freiheit erst recht als ein Kerker. Er bleibt es, auch wenn man selbst an ihm mitbaut. Die aus der kapitalistischen Ökonomie erfließende sachliche Gewalt über den Menschen, die die proklamierte Freiheit zur Farce macht, ergreift fortschreitend alle Bereiche und Äußerungsformen des menschlichen Lebens, das sich unterwirft, weil die bürgerliche Freiheit zum gewissesten Mittel der Unfreiheit geworden ist. In diesem Zusammenhang erscheint ein Ausspruch von Marx besonders interessant:
„In der Vorstellung sind die Individuen unter der Bourgeoisherrschaft freier als früher, weil ihnen ihre Lebensbedingungen zufällig erscheinen. In der Wirklichkeit sind sie natürlich unfreier, weil mehr unter sachliche Gewalt subsumiert.“

Diese sachliche Gewalt bleibt nicht beim Ökonomischen stehen, sondern ergreift den ganzen Menschen. Indem er sie aber nicht erkennt, weil ihr das bürgerlich formale Bewusstsein der individuellen Freiheit widerspricht, erscheint das menschliche Versagen dann als eigene Schuld und niemals als Schuld der Ordnung: niemand hat einem etwas getan, man hat sich selbst verdorben. Dieser Schein sichert die Gesellschaft und ihre Klassenordnung vor der Rache des unglücklichen Einzelnen, der sein Missbehagen zunächst verdrängt, um es bei Gelegenheit an anderen oder sich auszulassen. Er lässt es aus an der Familie durch Renitenz und Trennung, an sich selbst durch Rausch und Selbstmord und an der Gemeinschaft durch Verbrechen oder Flucht in den Irrsinn. Hier suche man die wahren Gründe für die Rekorde an Ehescheidungen, Selbstmorden, Rauschgiftsüchtigen und Geisteskranken in den perfekten Ländern des Kapitalismus. Die materielle Verbesserung des Lebens hebt auf dem weiterbestehenden Boden der kapitalistischen Klassenstruktur die Entmenschlichung des Menschen nicht auf, sondern gibt dem Individuum gerade erst die Möglichkeit, diese Entmenschlichung zu forcieren und zu vollenden.

Nicht nur eine Magenfrage
Der „verworfene Materialismus“ entsteht also nicht erst, wie Marx einmal zeigt, im schlechten Sozialismus, wo der „Neid“ regiert und „die alte Scheiße“ fortwirkt, sondern er gelangt zur höchsten Blüte in der reifsten Epoche des Kapitalismus. Der so belastete Mensch wird damit zu einem schwierigen Problem der künftigen sozialistischen Ordnung. Nur wo die Interessen des Einzelnen und die Interessen der Gemeinschaft in der Wirklichkeit und nicht nur im falschen Bewusstsein harmonisieren, nur da kann die Gesellschaft etwas wollen und tun, das das Individuum befreit und menschlich erhöht. Sich selbst kann das Individuum nicht am Schopfe aus dem Sumpf ziehen. Deshalb ist die Lösung der menschlichen Probleme im Kapitalismus nicht möglich. Diese Erkenntnis sei jenen Sozialisten eine Warnung, die wie die schwedischen meinen, mit traditionellen bürgerlich-demokratischen Methoden die soziale Frage, die nicht nur eine Magenfrage, sondern ebenso eine Menschenfrage in toto ist, einer Lösung zuführen zu können. Die USA, die Schweiz und das „sozialistische“ Schweden sind die Beweise. Es ist das ein Gesetz jeglicher kapitalistischen Ordnung: wo der Mensch materiell unbefriedigt ist, lebt er in Elend und kann menschlich nicht zu sich kommen; wo er materiell über eine bestimmte Grenze hinausgelangt, da kommt er erst recht menschlich nicht zu sich, weil er unter dem Drucke der jedem Kapitalismus eigenen Lebensbedingungen die ihm zur Verfügung stehenden Mittel nur so zu gebrauchen vermag, dass seine menschliche Missbildung nicht gemildert, sondern im Gegenteil noch gesteigert wird. Er erkauft seine bessere materielle Versorgung mit einer vertieften Unbefriedigtheit seiner menschlichen Existenz.

Schon der junge Marx übte Kritik an der kleinbürgerlichen – heute sozialdemokratischen – Forderung nach einer gerechteren Verteilung der Güter. Marx nimmt scharf Stellung gegen Proudhon, der nicht versteht, dass selbst durch eine gerechtere Verteilung materiellen Güter das Prinzip des „verworfenen Materialismus“, wie Marx die versachlichende und entmenschlichende Dynamik des Kapitalismus nennt, nicht überwunden werden kann. Es kann sich nicht darum handeln, etwa eine „ungefähre Gleichheit des Besitzes“ herzustellen, was ohnehin utopisch wäre, sondern nur darum, den Menschen überhaupt von der knechtenden Wirkung des Eigentums zu befreien. Diese Befreiung kann ihrerseits nur vollzogen werden, wenn sich die Gesellschaft als Organisation freier Individuen, d.h. als demokratisch-freiheitliche Gesellschaft in den Besitz der Produktionsmittel setzt. (Entgegengesetzte Wirkungen der Vergesellschaftung der Produktionsmittel in östlichen Ländern hängen vornehmlich mit der ökonomischen und gesellschaftlichen Unentwickeltheit dieser Länder zusammen.) Man darf nicht vergessen, dass der Gedanke der gerechteren Verteilung des Eigentums ohne Änderung der strukturellen Bedingungen gar kein sozialistischer Gedanke ist, sondern ein kleinbürgerlicher, und dass ihn auch wohlmeinende bürgerliche Denker vertreten haben, so etwa, abgesehen vom 18.Jahrhundert, Carlyle, Lorenz von Stein und einige Kathedersozialisten. Kein Sozialist wird sich der Verbesserung des Einkommens im Kapitalismus verschließen, wenn er sich auch dessen bewusst bleiben wird, dass einer solchen Verbesserung nur in Ausnahmefällen ein größerer Raum zur Verfügung stehen kann. Der Gedanke aber wird ihn stets beschäftigen, dass unter den unveränderten kapitalistischen Bedingungen das Individuum sein Sinnen und Trachten nicht auf die Vermenschlichung seines Daseins richten kann, sondern nur auf die nackte Ausnutzung des vorhandenen Zustandes der Unterworfenheit unter eine durch Privateigentum an den Produktionsmitteln, Klassenherrschaft, vereinseitigende Arbeitsteilung und die Erkenntnis behinderndes Spezialistentum entfremdete und unmenschliche Welt.

Zu den oben geschilderten Momenten der Pulverisierung, Vermassung und Vermaterialisierung kommt noch das Unterworfensein des Individuums unter die seine Persönlichkeit deformierende Wirkung der kapitalistischen Arbeitsteilung, die Degradation des Menschen zu einer mehr oder weniger mechanischen Funktion im Dienste des kapitalistischen „Realitätsprinzips“ hinzu. Je stärker die Arbeitsteilung und die damit verbundene Notwendigkeit, wertvolle und echt menschliche Züge des Menschen zugunsten einer ökonomisch geforderten Funktion zu vernachlässigen oder zu unterdrücken, gestaltend in das Leben eingreift, desto weniger besitzt dieser Mensch die Fähigkeit und die Kraft, der Entfremdung kritisch zu begegnen und ihr Widerstand zu leisten.
In geistvoller Weise hat Herbert Marcuse, der bekannte Philosoph und Soziologe, gezeigt, wie die komplizierte und von bestimmten Herrschaftsinteressen durchwirkte Verflochtenheit des gesellschaftlichen Prozesses es zustande bringt, sich den Menschen in der Weise zu unterwerfen, dass es ihn in das Bewusstsein zwängt, seinen eigenen Zielen und Interessen, seinem eigenen Glücke nachzustreben, während er in Wahrheit niemals an diese Ziele gelangt und niemals dieses Glück erreicht. Auf diese Weise wird er bewusstlos getrieben, jenen Aufgaben zu dienen, die ihm das menschenfeindliche Realitätsprinzip aufgibt. Es ist also im perfekten Kapitalismus nicht nur die Unmenschlichkeit perfekt, sondern auch die Unfähigkeit, sie gedanklich zu reflektieren, auch die Unbewusstheit ist perfekt.

Materialismus und Humanismus
Das Grauen läuft heute selbst den Verantwortlichen – die es sind, weil sie an den Grundlagen nichts ändern wollen – kalt über den Rücken. Daher mahnt neuerdings ein Hirtenbrief zur Besinnung und Abkehr „vom praktischen und dialektischen Materialismus“. Aber die Täuschung ist offenbar, wenn der praktische Materialismus des bürgerlichen Menschen mit dem dialektischen Materialismus, also einer Denkform, die diesen Materialismus von der Wurzel her bekämpft und daher umwälzt, gekoppelt wird. Daran ändert nichts der Hinweis auf den Osten, denn die Versäumnisse der östlichen Marxisten machen den Marxismus nicht unwahrer als die Versäumnisse der Kirche das Christentum unwahr machen. Die Attacke auf den gefürchteten Gegner soll die eigene Schwäche und Ohnmacht gegenüber den unmenschlichen Problemen der bestehenden Ordnung, gegen die man kein Wort findet, verdecken.
Will man den wahren Gegensatz der Auffassungen klar bezeichnen, so genügt es, die falsche Dialektik solcher Hirtenbriefe mit der echten Dialektik des Sozialismus zu konfrontieren: es ergibt sich hierbei der Unterschied zwischen einer jesuitischen und einer dialektischen Dialektik. Die erstere vertritt trotz allen Jammers das Prinzip des „praktischen Materialismus“, die letztere den Humanismus. Die erstere wird es daher miterleben müssen, dass die den Menschen zerstörenden Tendenzen in unserer Gesellschaft sich in den folgenden Jahren noch verstärken werden. Die letztere wird allem pseudokritischen Gejammer zum Trotz beweisen können, dass sie als einzige Richtung im modernen Denken die wahren Wurzeln des praktischen kapitalistischen Materialismus aufzudecken vermochte und rechtzeitig gewarnt hat.

Erstveröffentlichung in: Die Andere Zeitung, 5.4.1956, S.4.