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Dialektik der konservativen und progressiven Intelligenz. Wolfgang Abendroth zum 70.Geburtstag [1977]

Der auffälligste Akt in der Begegnung zwischen dem Herrn Pozzo und dem Knecht Lucky in Becketts „Godot“ ist der Befehl an den Knecht: „Denke, Schwein, denke!“ Lucky beginnt einen endlos langen und monotonen Vortrag, der sich aus Sprachfetzen aus den verschiedensten Wissenschaftsgebieten zusammensetzt. Damit lüftet er das Geheimnis des Knechts Lucky. Es ist nicht der gewöhnliche Knecht des sozialen Alltags, der Proletarier, sondern der eigentliche Knecht des klassengesellschaftlichen Reproduktionsprozesses, der ideologische Demiurg seiner Fortdauer, der konservative Intellektuelle, der sich hinter Lucky verbirgt. – Ihm steht entgegen Brechts Galilei. Während Lucky planlos reproduktiv verfährt und sich darin völlig selbstsicher gibt, ist Galilei ängstlich, und sein Verhalten ist das der Planung der Zukunft. Er symbolisiert den progressiven Intellektuellen.

Mit dem Aufweis dieses Gegensatzes stellt sich auch das Problem, wie über das Teildenkertum Luckys wahre Erkenntnis zu gewinnen ist, im Durchschauen des Ganzen, im Verständnis des „Weltprozesses“. Erst durch eine solche Erkenntnisform wird der Intellektuelle frei von den ideologischen Identifikationen mit der verdinglichten Wirklichkeit oder, was dasselbe bedeutet, frei im Durchschauen. Nur der die Totalität durchschauende Geist kann seinen inneren Lucky überwinden.

Theoretisch verbirgt sich dahinter die folgende Frage: Warum ist der methodologische Ansatz der dialektischen Totalität bereits an sich kritisch, dagegen die Setzung von Prämissen, die abseits des Totalitätsstandpunktes gewonnen werden, bereits an sich konservativ? Das heißt: Warum ist bereits die Art und Weise, methodologisch vorzugehen, der Wegweiser ins integrative oder progressive Lager? Ohne hier (wie ich es anderweitig getan habe) eine ausführliche Analyse anbieten zu können, sei die Antwort zusammengefasst.

Entgegen der Setzung einer speziellen, das heißt aus der Totalität des Geschehens heraus gehobenen einseitigen Prämisse, aus der dann alle übrigen Aussagen systemgerecht abgeleitet werden, kann das Prinzip der Totalität selber als Prämisse vorausgesetzt werden. Totalität als Totalität dialektischer Widersprüchlichkeit verstanden, impliziert den wichtigsten, weil die Bewegung, den Prozess affizierenden Widerspruch, nämlich den zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit, zwischen Existierendem und seiner Veränderung über seinen bestehenden Rahmen hinaus. Dagegen erfüllt sich der Sinn der Setzung einer speziellen Prämisse – sei es einer geistigen à la Scheler, einer biologischen à la Lorenz, einer metaphysischen à la Heidegger, einer soziologischen à la Weber usw. –gerade darin, die Selbstreproduktion des Ganzen nur als ständige Wiederkehr Ein-und-Desselben begreifbar zu machen.

Es kann der Eindruck entstehen, dass dieser Einwand gegen das Teildenkertum nur einen Vorwand bildet, um das Totalitätsdenken sophistisch aufzuwerten. Doch ist bislang die Methode des Totalitätsdenkens nur sophistisch „widerlegt“ worden.

Ich wähle zum Exempel eine verständnislose Invektive gegen diese Methode, die Golo Mann in der Zeit zum Besten gegeben hat. [1] Golo Mann bemüht sich, den Nachweis zu führen, dass der Begriff der Totalität in der marxistischen Geschichtsauffassung sich dadurch ad absurdum führt, dass angesichts der unendlichen Tatsachenwelt eine Auswahl der Fakten unvermeidlich bleibt. Er unterstellt also dem Begriff der Totalität beschämenderweise die Vorstellung von der Summe von allem. Gerade Golo Mann, der in einem überdimensionalen Buch über Wallenstein den Beweis liefert, wie wenig er in der Lage ist, dem ungeheuren Material der von ihm behandelten Epoche zu entrinnen, wendet somit den Begriff der Totalität in dem von ihm selbst kritisch angemerkten Sinne an; er versteht somit nicht, dass der marxistische Totalitätsbegriff zunächst von der definierten Struktur einer Gesellschaftsordnung, den sogenannten Produktionsverhältnissen, ausgeht, um dann folgend die den Historiker interessierenden und das heißt ausgewählten Erscheinungen sowohl aus dem Prozess dieser Struktur herzuleiten, wie sie zugleich in ihn zurückzuversetzen; dies zu dem Zweck, um das Wesen dieser Erscheinungen neu zu definieren und zu erhellen.

Leistet sich Golo Mann den theoretischen Spaß, für seine Forschung gerade den von ihm selbst verworfenen Begriff einer völlig missverstandenen Totalität in Anwendung zu bringen, so neigen die meisten Theoretiker der Setzung einer Prämisse außerhalb der Totalität zu, was sie nicht minder in die reaktionäre Irre führt.

Es ist im Prinzip völlig gleichgültig, welche speziellen Phänomene zu Prämissen gewählt werden: ob die Rolle oder die Schicht, ob der Mensch als Mängelwesen oder die biologistisch definierte Aggression, ob der Geist oder die Natur, ob die Struktur oder eine ohne nähere Begründung vorausgesetzte Begriffskonstruktion in der Systemtheorie. Der Marxismus setzt nicht, wie ein verbreitetes Missverständnis wissen will, die Klasse an den Anfang seiner Ableitungen, sondern die Klassenverhältnisse, sofern diese mit der Totalität bestimmter gesellschaftlicher Verhältnisse zusammenfallen. Man gestatte mir eine kurze kritische Betrachtung einer Prämisse, der man die Zufälligkeit und Willkür nicht auf den ersten Blick ansieht.

Es geht hierbei um den subjektivistisch-irrational mystifizierten Begriff des „Verstehens“. Mit diesem Begriff des „Verstehens“ ausgerüstet, richtet Gadamer in seinem Buch Wahrheit und Methode die „Mahnung an das wissenschaftliche Bewusstsein, sich seine Grenzen einzugestehen“. Dass dies einen Rückfall in den subjektivistischen (und das heißt antiwissenschaftlich-willkürlichen) Irrationalismus der alten Mystiker bedeutet, will er nicht zugeben. Deshalb umgeht er offenbar, den Vorwurf der Wissenschaftsfremdheit und der irrationalistischen Schwärmerei fürchtend, die Bezeichnung des Irrationalismus wie der Teufel das Weihwasser: In dem sehr umfangreichen Register zu seinem Buch kommt das Wort Irrationalismus überhaupt nicht vor; der ihm verwandte Begriff der Intuition nur ein einziges Mal, dies zudem in der Einleitung, jedoch nirgends im Haupttext. – Da ist schon Karl Barth, der sich zur „verstehenden“ Auslegung des Römerbriefs äußert, ehrlicher und anständiger. Er sagt: Die kritisch-historische Methode hat ihr Recht; wenn er aber zu wählen hätte zwischen dieser und der („verstehenden“) Inspirationslehre, so würde er „entschlossen zu der letzteren greifen“. Fragt man sich, worauf Gadamer mit seinem Versteckspiel hinaus will, so gibt der Text seines Buches eine eindeutige Antwort: methodisch auf die Rückbesinnung auf das bereits von Rickert geforderte Sichbegnügen mit dem irrational-intuitiven „Verstehen“ der zersplitterten Einzelphänomene; und inhaltlich auf die Rehabilitierung des Konservatismus, Pessimismus, Nihilismus und Relativismus. Mit der abseits des dialektischen Totalitätsdenkens gesetzten Prämisse des mystischen „Verstehens“ der zerrissenen Wirklichkeit lässt sich eben alles und jedes, was ideologisch ohnehin schon vorgegeben ist und a posteriori „bewiesen“ werden soll, begründen. Der intellektuell-reaktionäre Pferdefuß gibt sich maskiert, aber konsequent.

Der methodologischen Extravaganzen, hinter denen sich nichts weiter als die Extravaganzen des ideologischen Konservatismus verbergen, gibt es viele. Auf dem Wege zum Luxushotel „Antimarxismus“ wird die intellektuelle Ungeniertheit eines Gadamer nur noch vom Konvertiten Habermas überboten. In seinem Kampfe gegen den marxistischen Totalitätsbegriff gerät er in ein Netz von Aussagen, die man nur als Solipsismus oder Unsinn deklarieren kann.

Bevor wir auf diese Aussagen eingehen, sind einige sporadische Hinweise zu den das Habermassche System begründenden Thesen vonnöten (bei späterer Gelegenheit soll gründlicher darauf eingegangen werden).

Anknüpfend an den subjektiven Idealismus übernimmt Habermas seine radikale Transzendentalität (Bewusstseinsimmanenz), in dessen Licht, wie wir bald sehen werden, er zu dem Schluss gelangt, Marx habe sich in den „Widerspruch“ verstrickt, Natur einmal als unabhängig vom Bewusstsein existent anzunehmen, gleichzeitig aber für den Bereich der Arbeit das Hineingezogensein der Natur in das Bewusstsein zu behaupten. Im Gegensatz zu Kant und Fichte fasst aber Habermas den Begriff des Transzendentalen nicht rein formal, sondern er gibt ihm einen Inhalt: das menschliche Gattungsinteresse, mit dem transzendental verknüpft sind die drei Reproduktionsinteressen der Arbeit, der Sprache und der Herrschaft.

Diese Spekulation, die sich als solche daran erkennen lässt, dass die drei Begriffe ohne weiteres durch andere auswechselbar sind, gerät zugleich in einen ebenso heillosen Zirkel, da das nach Habermas bloß transzendental Gegebene sich in nichts anderem als in der Transzendentalität begründet und umgekehrt. Des weiteren: Da diese Interessen (die in Erkenntnisinteressen ausmünden) als in der Natur des Menschen angelegt erscheinen, kommen sie, wie Thomas Meyer in seiner ausgezeichneten Schrift Zwischen Spekulation und Erfahrung [2] richtig erkennt, Trieben oder Instinkten gleich und lassen deshalb nur eindeutige Resultate zu. Eine Vielfalt oder Differenziertheit der Meinungen ist hier ausgeschlossen, was wiederum der Habermasschen (übrigens völlig unbegründeten) These vom „freien Disput“ widerspricht.

Diese wenigen Bemerkungen müssen genügen, obgleich auch andere Thesen der Kritik wert wären, z.B. der in der Einleitung zur zweiten Auflage von Erkenntnis und Interesse gegebene Hinweis auf die klärende Wirkung von Tierversuchen – wohlgemerkt hinsichtlich des Menschen! – ‚ der, wie übrigens auch an anderen Stellen des Habermasschen Schrifttums, auf einen starken Zug zum vulgären Materialismus verweist. [3] Wie so oft bleibt auch hier die ideologische Komponente des vulgären Idealismus der vulgäre Materialismus.

Nun zu den antimarxistischen Reminiszenzen einige Hinweise:

  1. Für Marx und Engels macht alles seinen Durchgang durch das menschliche Bewusstsein (Problem der „Transzendentalität“: „Die Wurzel für den Menschen ist der Mensch selbst“; „es macht alles seinen Durchgang durch den menschlichen Kopf, sogar Essen und Trinken“). Das schließt nicht aus, dass die Naturrealität als unabhängig vom Bewusstsein existierend begriffen wird; zugleich in der Arbeit als in das sie reflektierende Denken (Bewusstsein) hineingezogen („transzendental“). Da es sich in beiden Fällen um unterschiedliche Fragestellungen und Betrachtungsweisen handelt, bedeutet dies keinerlei Widerspruch, wie jeder ABC-Schütze der Philosophie einsehen kann. Habermas dagegen entdeckt einen solchen Widerspruch und wirft ihn Marx vor. [4]
  2. Als Bewusstseinsbegabtes und daher sich teleologisch verhaltendes Wesen macht der Mensch nach Marx seine Geschichte stets selbst (Beispiel: Baumeister – Biene im Kapital usw.). Das schließt nicht aus, dass er sie nur selten rational („mit vollem Bewusstsein“) macht; Marx sagt z.B. im Kapital: „Sie wissen es nicht, aber sie tun es“. Das „Machen“ der Geschichte heißt hier so viel, dass der Mensch im Gegensatz zum instinktregulierten Tier stets bewusstseinsmäßig handelt und anders (in geschichtlicher Relevanz) gar nicht handeln kann; weshalb er eben seine Geschichte immer macht. Das Machen „seiner“ Geschichte stellt sich somit als eine unveränderliche anthropologische Gegebenheit menschlicher Existenz überhaupt dar (was schon Giambattista Vico gewusst hat). Gegen Marx und Vico erhebt dagegen Habermas belehrend seinen Zeigefinger und entdeckt die weder logisch noch erkenntnistheoretisch noch anthropologisch noch historisch verifizierbare Weisheit, dass die Geschichte erst später „machbarer“ geworden ist und daher „auch die Machbarkeit nicht von der Geschichte im ganzen behauptet werden“ darf. [5]
  3. Marx versteht unter „Totalität“ soviel wie einen relativ abgrenzbaren und sich durch bestimmte Produktivkräfte charakterisierenden Umfang realer Produktions-(gesellschaftlicher) Verhältnisse. Gleich, ob man diesem Standpunkt zustimmt oder nicht, Totalität bedeutet hier soviel wie einen formalen Begriff der Einteilung der geschichtlichen Entwicklung nach ökonomisch strukturierten sozialen Lebensverhältnissen. In der historischen Praxis kann es dazu kommen, dass (ökonomisch bedingte) internationale Ent- und Verwicklungen ein netzartiges Verweben verschiedener Gesellschaften erwirken, die erlauben, etwa von einer realhistorischen Totalität im 19.Jahrhundert zu sprechen. Habermas aber schreibt: „Wenn die losen Fäden der geschichtlichen Entwicklung erst auf einer verhältnismäßig späten Stufe zum Netz des weltgeschichtlichen Zusammenhangs verknüpft werden …, widerspricht (dies) einer Betrachtungsweise, die von Anbeginn Totalität unterstellt.“ [6] Das ist gegen Marx gerichtet. Der formale Begriff der Totalität, d.h. die Auffassung, dass alle Geschichte sich irgendwie in Gesellschaftsordnungen differenziert, wird naiv verwechselt mit der im vorigen Jahrhundert sich durchsetzenden „globalen Einheit“ (Habermas), d.h. mit einem realhistorischen Begriff der Totalität. Nur darum kann Habermas Totalität als nicht für alle Geschichte geltend annehmen. –Oder aber Habermas unterstellt dem marxistischen Begriff der Totalität in überkommener vulgär-theologischer Manier die Vorstellung eines metaphysisch-einheitlichen Weltprozesses, einer Geschichte als „Subjekt“ (Habermas), versehen mit einem „diesseitsreligiösen“ Endziel, dann ist sein Marxverständnis noch blamabler. [7] Auch Friedrich Engels bemerkt in seinem Ludwig Feuerbach, dass ein Ende der Geschichte nicht vorstellbar ist.
  4. Menschliche Arbeit beginnt da, wo die durch das Bewusstsein vermittelte Fähigkeit zur teleologischen Setzung (Vorstellung des Noch-nicht-Seienden) erscheint; und umgekehrt kann vom Menschen, auch in seinen Anfängen, erst gesprochen werden, wo die Fähigkeit nachweisbar ist, sich teleologisch zu verhalten. Dies ist unabhängig davon, ob die Wissenschaft aus irgendwelchen anderen, besonders biologischen Gründen (Klassifizierung nach Gang, fliehender Stirn usw.) noch von Primaten und Hominiden spricht. Erst die Tatsache der durch das Bewusstsein ermöglichten teleologischen Handlung (Arbeit) definiert den Menschen, setzt seinen Anfang und grenzt ihn hiermit scharf vom Tier ab. – Genau definieren gehört zur Wissenschaft. Durch das Bewusstsein (entstanden auf mutativen Wegen, welche Anstöße sonst immer mitgewirkt haben mögen) wird erst auch menschliche Sprache ermöglicht. Von menschlicher Sprache kann nur geredet werden, wo der Begriff erscheint, d.h. die Fähigkeit der Abstraktion vom unmittelbar Daseienden; wie auch umgekehrt der Mensch da beginnt, wo er mittels des Begriffs zu sprechen anfängt. Aus diesen Gründen ist es unsinnig zu sagen, dass Arbeit und Sprache älter sind als der Mensch. Habermas aber erlaubt sich zu schreiben: „Arbeit und Sprache sind älter als Mensch und Gesellschaft.“ [8]
  5. Es ist von marxistischer Seite längst und auf verschiedene Weise klargestellt worden, dass von gesellschaftlichen Gesetzen im Sinne von Naturgesetzen nicht gesprochen werden kann. Es muss im Gegenteil zwischen den drei Formen der mechanischen, der Reizkausalität und der Bewusstseinskausalität unterschieden werden. Wobei die letztere Form der Kausalität einen (durch Zufälligkeit, Subjektivität, Befähigung zu teleologischem Verhalten usw. „gelockerten“) Begriff der sozialen „Gesetzmäßigkeit“ (nicht „Gesetzlichkeit“) zur Folge hat, die in keiner Weise auf das Naturgesetz im Sinne der Physik reduziert werden kann. (Der sporadisch vorkommende Hinweis, der Sozialismus werde mit naturgesetzlicher Notwendigkeit kommen, meint nichtsdestoweniger durch menschliches Handeln vermittelte Erwartung, deren Sinn sich erhellt, wenn man den Ausspruch von Marx mit heranzieht: „Sozialismus oder Rückfall in die Barbarei“.) Naturgesetze der Geschichte anzunehmen würde bedeuten, deren Durchsetzung ohne den Bewusstseinsbegabten und teleologisch sich verhaltenden Menschen sich vorzustellen (ähnlich dem fallenden Stein, der dem Fallgesetz willenlos unterworfen ist). Marx schreibt: „es ist nicht etwa ‚die Geschichte’, die den Menschen zum Mittel braucht, (…) als ob sie eine aparte Person wäre, (…) sondern sie ist nichts als die Tätigkeit des seine Zwecke verfolgenden Menschen.“ [9] Nebenbei: die Ablehnung der Geschichte als einer „aparten Person“ widerlegt hinlänglich die Habermassche Unterstellung eines historischen „Subjekts“ bei Marx. In bezug auf die historische Gesetzmäßigkeit wagt es aber Habermas immer wieder, als von einem „Geschichtsobjektivismus“ nach dem „Vorbild der Physik“ bei Marx zu sprechen. [10]
  6. Apropos und nochmals in obigem Zusammenhang zur Schreibweise von Habermas. Man beachte im folgenden das verschleiernde Semikolon und die Verschiebung von den den „Naturgesetzen“ entgegenstehenden dialektischen Gesetzmäßigkeiten zu „diachronischen Ablaufgesetzen“: „denn nomologische Hypothesen, die als Naturgesetze des menschlichen Verhaltens interpretiert werden können, führen … zu trivialen Erklärungen; und diachronische Ablaufgesetze … haben Nachprüfungen nicht standgehalten.“ [11] Wäre es da nicht am Platz, mit einem Wort wenigstens auf die marxistisch-dialektische Auffassung einzugehen! [12] Auf jene Auffassung, nach der die Vielzahl der historischen Phänomene mittels deren Rückführung auf den Prozess der Totalität (die zu bestimmen ein eigenes, aber von marxistischen Theoretikern umfassend analysiertes Problem darstellt) den für Habermas offensichtlich unüberwindlichen Gegensatz von erzählender („narrativer“) und soziologisierender Historie [13] überwindet.
  7. Wie immer die Entwicklung von Klassengesellschaften (vor sechs- bis fünfeinhalbtausend Jahren) im einzelnen vonstatten gegangen sein mag, die Tendenz ist überall die, dass auf der Grundlage geltenden Mangels (den es in der europäischen Jüngeren Eiszeit nicht gab; so übereinstimmend viele Forscher) und des sich daraus ergebenden Zwanges zur weiteren Entwicklung der Produktivkräfte und der Produktivität (was im einzelnen Stagnationen, die durch ideologische – mythologische – Rückwirkungen veranlasst gewesen sein mögen, nicht ausschließt) die allmähliche Klassendifferenzierung sich durchsetzt oder zumindest ermöglicht wird. (Im letzteren Falle pflegt oft die Gewalt aus dieser Möglichkeit Wirklichkeit zu machen: Beispiel des Einbruchs der jagenden und wandernden Arias in das Gebiet der bereits ackerbauenden indischen Dravidas). Klassendifferenzierung als Folge von Arbeitsteilung oder bereits selbst als Form der Arbeitsteilung – das ist eine Frage der jeweiligen historischen Konkretisierung. Aus bestehender Arbeitsteilung „muss“ (Habermas) nicht Herrschaft entstehen, vor allem nicht in überschaubaren historischen Abschnitten, denn Verzögerungen sind immer möglich. Arbeitsteilung ist nicht die mechanische Bedingung für Herrschaft. Es gibt ja auch arbeitsteilige Funktionen zwischen Gruppen innerhalb der herrschenden Klasse, worauf Habermas sinnigerweise hinweist. [14] Anfängliche Arbeitsteilung impliziert allerdings eine starke Tendenz zur Herausbildung von Gruppen, die sich über die anderen erheben. Habermas stellt dies mit folgenden Worten in Frage: „Es fehlt ein Argument, das zeigt, warum aus Interessengegensätzen, die in beruflicher Spezialisierung wurzeln, Herrschaftsfunktionen hervorgehen müssen.“ [15] Dass Habermas einen mechanischen Vorgang unterstellt, um ihn hinterher leichter kritisieren zu können, ersieht man aus dem folgenden Satz: „Im übrigen ist die Annahme eines automatischen Wachstums der Produktivkräfte … unrichtig.“ [16] Zugleich erklärt er selber, dass es von gewissen Bedingungen abhängt, ob die Produktivkräfte weiter wachsen: Während für die landwirtschaftliche Produktion (bei den Amazonas-Indianern – als ob sich dieses Beispiel verallgemeinern ließe, wie Habermas stilistisch-verschleiernd dem Leser vormogeln will) selbst bei Vorhandensein technischer Mittel Stagnation nicht ausgeschlossen ist, bleibt unter noch besseren Bedingungen – nach Habermas selbst! – die Weiterentwicklung des gesellschaftlichen Reichtums Bedingung für das Entstehen von sozialer Ungleichheit. Den Widerspruch in seinem Text überspielt er mit dem Wort „allerdings“: „Unter Viehzüchtern hat es allerdings erhebliche soziale Ungleichheiten gegeben, da sich Herden relativ leicht vermehren lassen.“ [17]

 

Genötigt, dem Herrn zu dienen, erniedrigte sich die Intelligenz aller Zeiten zur Dienerin seiner Interessen, gab sie damit die ihrem Schöpfertum eigene Freiheit wieder auf. Der konservative Intellektuelle verdeckt und verleugnet seine faktische Unfreiheit sich und der Welt gegenüber, indem er sich auf den Standpunkt der „reinen“ und „objektiven“ Kontemplativität stellt; auf den Standpunkt der reinen, an der Praxis nur als an einem Gegenstand des bloßen Wissens interessierten beschaulichen Neugier. Da es aber stets die gesellschaftliche Praxis ist, die ihm in direkter oder vermittelter Weise die Probleme stellt, sind die von ihm angebotenen Lösungen in direkter oder vermittelter Weise von einer zwangsläufig praktischen Bedeutung. Ist das Wesen des den Umständen sich fügenden Konservatismus die Kontemplation, so der Konservatismus das Wesen der die Umstände in ihrem Sosein belassenden Kontemplation.

Der konservative Charakter der Intelligenz resultiert also nicht bloß aus der uralten Gewöhnung an die Präpotenz der Herrschaft, sondern ebenso, und zwecks Selbsttäuschung unentbehrlich, aus der als außerhalb der Praxis sich verstehenden Kontemplation. Methodisch kommt diesem Verhalten eine besondere Eigenart des menschlichen Bewusstseins entgegen.

Selbst der naive Mensch der Urzeit, der „primitive“, wie wir zu sagen pflegen, vertraute nicht ohne weiteres der ihn umgebenden Erscheinungswelt. Vom Augenblick seines auf Begreifen tendierenden Selbstbewusstwerdens versuchte er, in irgendeiner Weise zu erkennen, woraus sich Animismus, Ritus und Magie, Kunst, später Mythologie und Philosophie entwickelten. Will der Mensch sein Leben sinnvoll gestalten, braucht er „Wahrheit“ von sich und der Welt; ein Bild, das ihm erlaubt, wenigstens zu glauben, dass er sich auf dem richtigen Wege befindet. In der Urzeit sind Religion, Mythus und Kunst Ermöglichung des Lebens vom Ideellen her. Der ideelle Träger ist die Gesamtheit, die Sippe. Der in die religiösen, mythologischen und magisch-künstlerischen Geheimnisse Eingeweihte, der Weise, steht noch nicht außerhalb der Gemeinschaft, sondern verkörpert sie als Weiser, dessen Macht niemanden bevorzugt und niemanden benachteiligt. Er ist für die Gemeinschaft Bewahrer der Interessen aller. In der Klassengesellschaft verliert der Mythus (in allen seinen Formen) seinen spontanen und naiven Charakter und wird systematisiert im Dienste einer durch Herrschaft und Knechtschaft kompliziert gewordenen Gesellschaft. Der soziale Antagonismus bedeutet nicht nur die Zerstörung des einstmals streng kollektiven Baus der Gemeinschaft, sondern darüber hinaus die Ermöglichung der Herauslösung des Einzelnen aus der Bindung an alle: König, Priester, Beamter, Krieger usw. Dieser als solcher von den Anderen deutlich sich abhebende Einzelne war – wie Franz Zwilgmeyer nachweist – in der kommunistischen Urzeit unbekannt. [18] Auch Arnold Gehlen sieht sich von seiner äußerst konservativen Warte genötigt zuzugeben, dass die primitive Kultur durch aktive Gegenseitigkeit ohne feste Herrschaftsstruktur gekennzeichnet war. [19] Dies lässt sich auch durch die interessante Tatsache erhärten, dass in der Sprachgeschichte das Wörtchen „Ich“ später entsteht als das Wörtchen „Wir“.

Der Einbruch des auf sich gestellten Einzelnen in der antagonistischen Gesellschaft ist zugleich die Geburtsstunde des Intellektuellen, dem die Aufgabe zufällt, die im Dienste der Herrschaftsverhältnisse sich herausbildenden Denkprozesse zu systematisieren und zu überwachen.

Aber auch dieser Intellektuelle kann sich nur bewähren, wenn er sich in den Dienst der „Wahrheit“ stellt. Die bewusste Lüge ist sein Tod. Durch das Streben nach Wahrheit unterscheidet er sich vom verschlagenen Politiker, dem listigen Händler und dem blind sich aufopfernden Soldaten. Das Heldentum des Geistes bewährt sich in der Suche nach der wirklichen oder vermeintlichen Wahrheit, die in kontemplativer Distanz zur Realität gefunden werden soll. Damit gerät aber der Intellektuelle aus der ursprünglichen Situation des Vorlebens und Vormachens in eine kontemplative, der Praxis entfremdete Stellung. Er ist frei in seinem Denken, jedoch zugleich auch unfrei, indem er als an der Praxis nicht unmittelbar Teilnehmender in eine passive Stellung zu ihr gerät und sich ihr unterwirft. Unversehens diktiert er nicht dem Material, sondern das Material diktiert ihm.

Die Erzählung der Bibel, dass der Sündenfall beginnt mit der Aneignung der Früchte der Erkenntnis, was nur heißen kann der Vernunft, trifft das Richtige. Sie trifft auch das Richtige, wenn sie fortfährt, dass der Mensch anfänglich keiner systematisierten moralischen Gebote bedurfte, erst in einer späteren, nämlich das Goldene Kalb verehrenden Zeit, ihm die Zehn Gebote, der systematisierte Ausdruck der Vernunft, gebracht werden mussten. Die Vernunft erscheint hier in ihrer doppelten Gestalt: als verbietende repressive und als helfende humanistische. Tatsächlich ist sie als Vernunft an sich neutral. In der heutigen Zeit des Überbordens des irrationalen Nihilismus wird sie wieder zum vornehmsten Werkzeug der humanistischen Wiederbesinnung und Kritik. Als kritische und dem Nihilismus in allen seinen Formen widerstrebende nimmt die Vernunft heute wieder die Gestalt des Denkens der Totalität an. Dies bedeutet zugleich so viel, dass das kritisch-progressive Denken sich selbst dieser Totalität, dem praktischen Prozess des Ganzen, zurechnet und daher jegliche undialektische, die Totalität in Sein und Denken zerreißende Kontemplation überwindet.

In der bürgerlichen Gesellschaft nimmt die Tatsache der Kontemplation eine spezifische Form an. Einerseits wird für das konservative Bewusstsein auf dem Boden der gesteigerten Rationalität des Einzelgebiets das Gefühl der Existenz einer individualistischen Freiheit gesteigert. Andererseits aber: Je verwickelter und komplizierter sich die Beziehungen zwischen dem subjektiv beherrschbaren Einzelgebiet und dem objektiv sich über die Köpfe hinweg durchsetzenden verdinglichten Prozess des Ganzen gestalten, desto unnachsichtiger sieht sich das Individuum auf den ohnmächtigen Standpunkt der passiven Zuschauerrolle, der Kontemplation, zurückgeworfen. Das praktisch tätige Individuum versucht eine Brücke zwischen dem Teilgebiet und dem objektiven Ganzen mittels solcher Methoden wie der „Kalkulation“, der „Spekulation“, des „Fingerspitzengefühls“ oder des bewussten Betrugs zu schlagen und sich auf diese Weise über die ideologische Unvermitteltheit zwischen Teil und Ganzem hinwegzuhelfen. Der das dialektische Denken missachtende Intellektuelle dagegen ist dem Bruch zwischen Teil und Ganzem hilflos ausgeliefert; er begnügt sich damit, was ihm greifbar und rational gegeben ist, mit dem spezifischen Teilgebiet.

Da aber der ideologische Schein der Oberfläche nur durchbrochen werden kann auf dem Wege der Zurückversetzung der Einzelphänomene in den Prozess der Totalität, ist das Haftenbleiben am Oberflächenschein des Geschehens die intellektuell tragische Folge.

 

Was die progressive Intelligenz betrifft, so ist zunächst festzustellen, dass sie sich aus vielerlei Elementen zusammensetzt. Zu ihren wesentlichsten Merkmalen gehören die Widersprüchlichkeit und die Unbeständigkeit. Stets zwischen Optimismus und Verzweiflung hin und her schwankend, verfügt sie über keinerlei Machtpositionen und ist scheinbar ohne realen Einfluss. Und doch wird sie gefürchtet, unter Druck gehalten und verfolgt, sobald sie sich zu weit vorwagt.

Die progressive Intelligenz in der Epoche der bürgerlichen Dekadenz ist das Ergebnis einer negativen und einer positiven historischen Komponente: der Zersetzung des einst eindrucksvollen und angesehenen Volkstribunentums einerseits und des Weiterwirkens eines überall in der Asche der Dekadenz glimmenden Antinihilismus und Humanismus andererseits. Überall finden sich in einer geringeren oder größeren Zahl kritisch denkende Individuen, die die Intentionen des einstigen Volkstribunentums weiterzuführen versuchen, indem sie dem geltenden Nihilismus eine humanistische Perspektive entgegensetzen.

Die Geschichte, die zu immer höheren Stufen der Freiheit empor führt – welchen Sinn hätte sie sonst! (diese Frage kann kein Leugner des Fortschritts beantworten) –‚ die Geschichte also lässt sich nicht betrügen. Sie ist in ihrer Gesamtheit klüger als ihre individuellen Exponenten. Dies nicht etwa aus einem verborgenen metaphysischen Wesen der Geschichte heraus, sondern weil die Kreuzung der vielfältigen teleologisch gerichteten Handlungen der Individuen etwas anderes, vielfach Besseres und Vorantreibendes ergibt, als dies der bloßen Summe dieser Handlungen gemäß wäre.

Da alle menschlichen Handlungen (prinzipiell und nicht immer gelingend) auf Verbesserungen und mehr Freiheit gerichtet sind, verhält sich auch das dialektische Ergebnis dieser Handlungen, der Gang des Ganzen, seinerseits teleologisch. Das Prinzip der Teleologie in der Geschichte ist somit nicht metaphysisch zu verstehen, sondern realistisch. Das, was der progressiv-kritische Intellektuelle als den Sinn der Geschichte bezeichnet, fällt mit diesem realistischen teleologischen Prinzip aller Geschichte zusammen. –Der konservative Intellektuelle unserer Zeit, der dazu neigt, sich (wie er gerne sagt) „empirisch“ mit dem Vorhandenen abzufinden oder gar nach rückwärts zu schreiten und in der kruden Vergangenheit seine Vorbilder zu suchen, unterstellt dieser Frage nach dem Sinn eine metaphysische Relevanz, um den progressiven Intellektuellen zu treffen – denken wir an den grenzenlosen Hass, mit dem Gehlen und Schelsky diesen Intellektuellen begegnen. So kann Greiffenhagen schreiben: „Die Reflexion ist aber das Geschäft der Intellektuellen, gegen die sich der ganze Hass Gehlens wendet.“ [20]

Aber der Konservative trifft sich selbst, denn die Eliminierung der Sinnfrage aus der Geschichte endet zwangsläufig in der Perspektive der Sinnlosigkeit aller Geschichte. Letztlich werden seine eigenen Vorstellungen von dem historisch Notwendigen zu dem, was er den progressiven Intellektuellen unterstellt: zu „Heilsverkündungen“ und pseudoreligiösen „Heilsversprechungen“, nur diesmal konservativer Prägung.

Wo die Geschichte von den zur Durchsetzung der Linie des Fortschritts berufenen Individuen betrogen wird – in unserer Zeit von den in den sozialistischen Parteien und in den Gewerkschaften verantwortlich Tätigen –, schafft sie sich einen Ersatz, dem die Aufgabe zufällt, den Übergang zu sichern. In unseren Tagen ist es die neue progressive Intelligenz, die diesen Ersatz bildet. Ihre Vertreter findet man, oft sich furchtsam tarnend, selten alles in die Waagschale werfend, in den Gemeinderäten, Schulen und Bildungsanstalten, in den religiösen Organisationen, den kulturellen Vereinigungen, den politischen und sozialen Verbänden, selbst gelegentlich in den Ministerien und selbstverständlich in den Reihen der Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler.

Drei Momente charakterisieren diese progressive Intelligenz: erstens das asketische Pariadasein, das aus der Neigung der herrschenden Mächte einschließlich der konservativen Intelligenz zur Isolierung der oppositionellen Kräfte erfließt; zweitens die Situation fast totaler Ohnmacht, die sich z.B. in der Bundesrepublik darin äußert, dass es so gut wie keine oppositionelle Tagespresse gibt, durch die die kritischen Ansichten der progressiven Intelligenz in ähnlicher Breite zur Artikulation gelangen könnte, wie dies hinsichtlich der systemtreuen Kräfte der Fall ist; drittens der Hang zum Utopischen, worüber einige nähere Ausführungen zu machen sind.

Es entgeht allzu leicht unserer Aufmerksamkeit, dass auch die konservative Intelligenz einen Hang zum Utopischen kennt. Dies in einer doppelten Bedeutung. Einerseits drängt das seit der Romantik in vielen Formen immer wieder erstehende Ständestaatsideal die Angehörigen der konservativen Intelligenz halb bewusst, halb unbewusst zur Idealisierung der vorbürgerlichen Zustände, was sich letztlich auch im Neuthomismus niederschlägt; der Gehlenschen Institutionenlehre sieht man aufs erste den ständestaatlichen Hintergrund nicht an. Aber zweitens und aus einer ganz anderen als der geistesgeschichtlichen Wurzel erfließend ist die folgende Bestimmung von wesentlicher Bedeutung: Die hoffnungslose Bindung an die vorhandene Empirie drängt den empfindsameren konservativen Geist über sie hinaus ins Irrationelle; die würdelose Enge treibt das unglückliche konservative Bewusstsein hinaus in das Reich der subjektiv-verinnerlichten Erlebniswelt, wo er es sich in eingebildeter Freiheit einzurichten versucht. Wir können von einem irrational-verinnerlichten Utopismus sprechen. Dem dürren naturalistischen Rationalismus gesellt sich in dialektischer Entsprechung ein kränklicher subjektivistischer Irrationalismus von einer sehnsuchtsvoll utopisierenden Wesenheit hinzu. Anders die progressive Intelligenz. Ihre unbestechliche Sehnsucht nach humanistischer Freiheit treibt sie – trotz ihres Interesses für alle Gegenwartsfragen – in die Zukunft hinaus, in die Utopie. Zugleich gibt es für die utopische Phantasie keine Begrenzung, weshalb das haltlose Utopisieren ein ernstes Moment der Bedrohung des progressiven IntellektuellenBewusstseins darstellt. Es ist dies wieder eine andere Sache, dass diese Tendenz von den bürokratischen Kräften der gewerkschaftlichen und politischen Arbeiterorganisationen rasch bemerkt und übertrieben wird, um die eigene ideologische Entartung und Unterwerfung unter die verdinglichte Realität des Kapitalismus zu verdecken. Was aber die progressive Intelligenz selbst betrifft, tritt für gewöhnlich dem erwähnten Hang zum Utopisieren ein realitätsnaher Rationalismus entgegen; dies aus dem einfachen Grunde, weil alle Kritik an den bestehenden Verhältnissen von deren Eigenart und Wesenheit in gewissenhafter Weise Kenntnis nehmen muss. Die den ausgreifenden Utopismus korrigierende Einbeziehung der realen Möglichkeiten in das utopische Denken ergibt letztlich jene Dialektik, die in der marxistischen Theorie im Begriff der Aufhebung der Utopie in der Utopie ihren markantesten Ausdruck gefunden hat. (Nebenbei bemerkt: die bürokratisch verknöcherte Denkweise, die naturgemäß dieser Dialektik mit düsterem Unverständnis begegnen muss, hat gewisse Exponenten der reformistischen Politik auf dem Parteitag der SPÖ [der Sozialistischen Partei Österreichs] im März 1976 in puren Jubel ausbrechen lassen über die Rettung der „Demokratie“, lies deutlich und genau: über die Rettung des Kapitalismus in Portugal.)

Angesichts der Ohnmacht und der Isolation, der Aushöhlung, Vermaterialisierung und Bestialisierung, der zunehmenden Leere und Lethargie, der ideologischen Irreführung und Verdummung der Massen – alles Erscheinungen, die elegant mit dem Hinweis auf bestehende Demokratie zugedeckt werden – reagiert die humanistische Intelligenz einerseits mit Verzweiflung und Resignation, andererseits mit der Flucht ins Utopische. Aber eben diese Verzweiflung bleibt nicht ohne Wirkung auf den grundsätzlich optimistischen Utopismus. Das Ergebnis ist ein ironisch gebrochener Utopismus, nicht unähnlich der bekannten „romantischen Ironie“. Von dieser unterscheidet sich allerdings diese utopische Ironie durch die unerschütterliche Überzeugung, dass das utopische Ideal der eigentliche und nicht zu vernichtende Zweck der nachfolgenden Epoche der Weltgeschichte ist; zugleich wohl wissend, dass dieser Zweck nur in asymptotischer Annäherung zu erreichen ist.

Für keinen Vertreter der progressiven Intelligenz ist das Problem der Ironisierung des Ideals so typisch wie für Bert Brecht. Brecht zeigt das Wegweisende des humanistischen Ideals in der Form auf, dass er es am vorhandenen, zwar widerspruchsvollen, jedoch mit den Erkenntnissen der humanistischen Anthropologie gedeuteten Menschen sich bewahrheiten lässt. Das vorzüglichste Mittel hierzu ist die positive Volksgestalt, die den zentralen Punkt seines Theaters bildet. Da diese Gestalt (als Grusche, Shen, Teh, Chachawa, Matti, Azdak, Courage usw.) nicht außerhalb, sondern innerhalb der Entfremdung steht, verkörpert sie das Ideal niemals in voller Reinheit; es scheint gleichsam nur durch sie hindurch, es gibt sich gebrochen.

Damit entsteht auch in der Brechtschen Kunst ein Problem der Ironie, das sich wie jenes der progressiven Intelligenz von der romantischen Ironie grundsätzlich unterscheidet durch seinen realistischen Charakter. Das heißt, es unterscheidet sich von ihr durch den Aspekt der Einbeziehung jener Möglichkeit, die die Geschichte selbst, einschließlich der kapitalistischen, hervorgebracht hat. In dieser Sicht ist nicht nur das optimale Ideal ironisch, sondern auch die aus der Verzweiflung kommende Ironie optimistisch gebrochen.

Noch etwas hat die progressive Intelligenz mit allen ihren ideologischen Wortführern seit Marx bis Brecht, Lukács und Bloch gemein: die Naivität. Diese ganz im Sinne Schillers verstanden, der einmal sagt: „Naiv ist das Genie oder es ist keins!“ In Abwandlung dieses Ausspruchs kann man sagen: Naiv ist der progressive Intellektuelle oder er ist keiner! Negativ ausgedrückt, meint Naivität zunächst soviel wie in Opposition gegen jede Vereinseitigung, Versubjektivierung und Formalisierung der Probleme stehend. Positiv ausgedrückt, meint Naivität soviel wie das Leben in seiner umfassenden Ganzheit, ohne Abstrich und Verzerrung, vor allem in seinen vielfältigen Vermittlungen und Widersprüchen ungeniert und frei auf sich wirken lassend, es ohne die üblichen bürgerlich-ideologischen Scheuklappen in seiner ganzen Breite und Tiefe ausschöpfend. Naivität heißt somit soviel wie dem Leben unbefangen, ohne vorgefasste spezialistische, subjektivistisch-psychologistische und fetischistische Vorurteile begegnen. Die in diesem Sinne begriffene Haltung der Naivität wirkt zudem auf die Persönlichkeit der einzelnen Angehörigen der progressiven Intelligenz zurück und formt jenen Habitus, der dem Außenstehenden durch seine unkonventionelle Äußerungsweise auffällt.

 

Wie die konservative, erlebt sich auch die progressive Intelligenz als eine Elite. Das EliteBewusstsein haben beide gemeinsam. Aber für die konservative Intelligenz trifft heute dasselbe zu, was für die hochbürgerliche Elite zutrifft: sie befinden sich im Stadium der Dekadenz.

Der Begriff der Dekadenz umfasst mehr als die bloße Wortbedeutung des Verfalls. So ist vor allem hervorzuheben, dass auch in den nihilistischen Zeiten der Dekadenz eine formelle Blüte von Kunst und Wissenschaft nicht ausgeschlossen ist. Zunächst ist der Begriff der Dekadenz zuzuordnen der jeweils maßgeblichen Elite, die als herrschende ihr „Niveau“ halten muss, will sie nicht ihren Elitecharakter verlieren.

Nicht der Verfall in einem mechanischen Sinne definiert also die Dekadenz. Der Verlust der einstigen liberal-humanistischen Haltung zugunsten einer nihilistischen geht einher mit einer formell reichen Entfaltung des elitären Kulturgenusses. Aufstieg und Dekadenz scheiden sich nicht am formellen Niveau oder an der Zahl kultureller Schöpfungen, sondern an der Grenzlinie zwischen Humanismus und Nihilismus und der entsprechenden Haltung der führenden Elite. Ungeachtet weiterer Bestimmungen, die bald folgen werden, kann Dekadenz vorläufig definiert werden: als durch Krisenerscheinungen einer überreif gewordenen Gesellschaft erzwungener Antihumanismus und Nihilismus unter Beibehaltung der durch Differenzierung des Empfindungs- und Geisteslebens gekennzeichneten Höhe des echt Elitehaften.

Seit der Zeit, da der dekadente Adel des niedergehenden Feudalismus es verstand, verfeinerte Formen des Fühlens, Sprechens und Gehabens hervorzubringen und sie stolz als Zeichen besonderer menschlicher Qualifikation zur Schau zu stellen, hat man diese Eigenschaften viel bewundert und belächelt. Man erinnere sich nur an die ebenso geistvolle wie reaktionäre Apologie des dekadenten Adels durch Hippolyte Taine. Die bürgerliche Elite und die von ihr kulturell bestimmte konservative Intelligenz sind weniger verschroben und gekünstelt, aber nicht weniger konventionell im Sinne des Anspruchs auf Exklusivität und Unnachahmlichkeit. Nihilistische Weltverachtung und die Neigung zu einer esoterisch-ichbezogenen Beschäftigung mit dem Seelisch-Inneren steigern sich bis zur Höhe fanatischer Monomanie. Wir stoßen hier auf die Erscheinung der dekadenten Verfeinerung.

Hat man erkannt, dass Nihilismus zur ichbezogenen Verinnerlichung erzieht, und gleichzeitig, dass die gesellschaftliche wie die intellektuelle bürgerliche Elite auf die Demonstration ihrer seelischen und kulturellen Besonderheit nicht verzichten kann, dann versteht sich die Erscheinung der dekadenten Verfeinerung von selbst. Das Geheimnis der Verfeinerung in der Dekadenz enthüllt sich als das Resultat der Verschmelzung verschiedener Elemente: der stolzen Neigung zur Demonstration subjektiver und kultureller Überlegenheit mit der aus der nihilistischen Verneinung der objektiven Werte erfließenden Tendenz zur Verlagerung der Probleme des Erlebens und der Kultur in den subjektiven Bereich der reinen Innerlichkeit. Die dekadente Verfeinerung, deren traditionelle Bewunderung einen zusätzlichen Anreiz zu ihrer Pflege bietet, erweist sich als das Ergebnis der ideologischen Verknüpfung von hochentwickeltem Kulturgenuss und einer aller humanistischen und rational-analytischen Tendenzen entkleideten Methodik dieses Kulturgenusses.

Im letzten Ergebnis lässt sich der Schluss ziehen, dass sich die Begriffe Dekadenz, nihilistische Elite und subjektivistische Verfeinerung wechselseitig definieren und damit identische sind. Von Individuum zu Individuum sich unterschiedlich artikulierend, nicht selten mit grob sinnlichen Neigungen, die aus der Verfügung über Reichtum und Muße erfließen, einhergehend, aber ebenso oft bis zur subtilen Spiritualität einer (im Sinne Hegels und Goethes) „schönen Seele“ sich steigernd, bleibt die Grundtendenz doch durchschlagend. Was die empirische Verifikation bezüglich der konservativen Intelligenz betrifft, ließen sich Namen nennen. Ob Gehlen oder Heidegger als traditionelle Konservative, ob Horkheimer und Adorno als zum Nihilismus konvertierte – die Einheit in der Vielfalt lässt eine theoretische Verallgemeinerung durchaus zu.

Die progressive Intelligenz widerstrebt den Einflüssen der Dekadenz. Dies ermisst sich schon daran, dass sie die Frage der Elite anders stellt. Für sie steht Elite in ihrer progressiven Relevanz nicht der Masse entgegen, sondern ist auf der Klassenebene im Gegenteil ihr klarster Ausdruck, ihr exponiertestes Selbstbewusstsein, das Bewusstwerden des Bewusstlosen. In der bürgerlichen Gesellschaft wird, wo nicht eine mächtige Arbeiterbewegung einen gewissen Schutz bietet, eine solche Haltung bestraft. Wo als Folge der humanistischen Gesinnung die materielle Not, die gesellschaftliche und intellektuelle Isolierung, das Schicksal des Verschwiegenwerdens, des Rufmords und der höhnischen Verweisung in das Niemandsland der genialischen Narretei auftreten, entsteht der Schein des radikalen Übereifers; es gibt keinen Schuldigen, außer den, den es trifft!

Aber so mächtige Sturmzeichen der Geschichte wie der Niedergang Englands als des einst mächtigsten Staates der Welt, das Verschwinden Preußens, des einst gefürchtetsten Heros der Gewalt, der für die nationale Integrität beschämenden Teilung Deutschlands, der Besiegung des amerikanischen Goliath durch den vietnamesischen David, des (wenn auch widerspruchsvollen) Aufstiegs der Weltmacht Kommunismus usf. deuten an, dass die historische Bewegung niemals stehen bleibt. Der Griff der progressiven Elite nach der realen Utopie ist nichts als der theoretische Ausdruck des verschlungenen Weges der Geschichte über das jeweils Bestehende hinaus zu immer neuen und überraschenden Formen des Kampfes des Menschengeschlechts gegen klassengesellschaftliche Verunmenschlichung und konservative Stagnation.

Die Utopisten wurden stets zweimal verlacht. Zu ihren Lebzeiten, weil man ihre zukunftsträchtigen Sehnsüchte für maßlose Übertreibungen hielt; lange nach ihrem Tode, weil man ihnen nachweisen konnte, dass sie zu wenig gewollt haben, d.h. weit hinter der wirklichen schöpferischen Kraft der Geschichte zurückgeblieben sind.

Fast alle bisherigen progressiven und revolutionären Ideen wie Bewegungen endeten in tragischen Zusammenbrüchen – aber alle ihre Intentionen haben sich geschichtlich verwirklicht. Die letztlich Geschlagenen der Weltgeschichte sind stets die konservativen Kräfte, die ihre Luckys mit in den Abgrund reißen.

 

Anmerkungen:

[1] G. Mann: „Marxismus heute – mehr Glauben als Wissenschaft“, in: Die Zeit, Nr. 23, 30.Mai 1975.

[2] Th. Meyer: Zwischen Spekulation und Erfahrung. Einige Bemerkungen zur Wissenschaftstheorie von Jürgen Habermas, Frankfurt/M. 1972.

[3] Vgl. L. Kofler: Technologische Rationalität im Spätkapitalismus, Frankfurt/M. 1971 [Neuauflage unter dem Titel: Beherrscht uns die Technik? Technologische Rationalität im Spätkapitalismus, Hamburg 1983].

[4] J. Habermas: Erkenntnis und Interesse, Frankfurt/M. 1968, S.214.

[5] J. Habermas: Theorie und Praxis, Neuwied 1963, S.214.

[6] Ebd.

[7] Vgl. L. Kofler: „Jesus und die Ohnmacht“, in: I. Fetscher/M. Machovec: Marxisten und die Sache Jesu, München/Mainz 1974, S.54ff. [Nachdruck in L. Kofler: Geistiger Verfall und progressive Elite. Sozialphilosophische Untersuchungen, Bochum 1981, S.110ff.].

[8] J. Habermas: Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt/M. 1976, S.151.

[9] K. Marx/F. Engels: Die heilige Familie, MEW, Bd.2, S.98.

[10] J. Habermas: Zur Rekonstruktion…, a.a.0., S.10, 226; ders.: Erkenntnis und Interesse, a.a.0., S.62, 63 etc.

[11] J. Habermas: Zur Rekonstruktion…, a.a.0., S.226.

[12] Vgl. L. Kofler: Die Wissenschaft von der Gesellschaft, Frankfurt/M. 1974; ders.: Geschichte und Dialektik, Darmstadt und Neuwied 1973; ders.: „Verstehende und materialistische Geschichtsbetrachtung“, in: ders.: Zur Dialektik der Kultur, Frankfurt/M. 1972, S.57-75.

[13] J. Habermas: Zur Rekonstruktion…, a.a.0., S.206. In einer Rezension dieses Habermas-Buches bemerkt W. Hochkeppel zutreffend zu dessen Sprachstil: „Der erreichte Abstraktionsgrad provoziert geradezu Verständnisschwierigkeiten, und gelegentlich prätendiert er auch wohl bloß Gewichtig-Gehaltvolles.“ („Probleme des Spätmarxismus“, in: Die Zeit, 18.März 1977, S.42)

[14] J. Habermas: Zur Rekonstruktion…, a.a.0., S.174.

[15] Ebd., vom Autor hervorgehoben.

[16] Ebd., S.175; vom Autor hervorgehoben.

[17] Ebd.

[18] F. Zwilgmeyer, in: W. Ziegenfuß (Hg.): Handbuch der Soziologie, Bd. 2, S.1136f.

[19] A. Gehlen: Urmensch und Spätkultur, Bonn 1956, S.51.

[20] M. Greiffenhagen: „Das Dilemma des Konservatismus in Deutschland“, in: H. Grebing u.a., Konservatismus – Eine deutsche Bilanz, München 1971, S.22.

 

Erstveröffentlichung in: O. Schatz (Hrsg.): Abschied von Utopia? Anspruch und Auftrag der Intellektuellen, Graz/Wien 1977, S.265-279.

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