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» Bürgerliche Dekadenz und moderne Literatur [1956]

Bürgerliche Dekadenz und moderne Literatur [1956]

Es gibt nur zwei Dinge,
das Leere und das gezeichnete Ich.

Gottfried Benn

Die Unterscheidung zwischen der Orientierung auf die Innerlichkeit und die äußere Welt, zwischen Elite und Masse findet ihren Ausdruck unter anderem auch in der modernen Literatur, wenngleich in subjektiv sehr vielfältigen Formen. Insofern ist die moderne Literatur oder das, was man heutzutage unter der „modernen“ Literatur zu verstehen pflegt, ein ideologischer Ausdruck der heute herrschenden bürgerlichen Elite, der Elite der Dekadenz; sie ist ihrem Wesen nach bürgerlich-aristokratisch.

Diese Einsicht in den Elite-, d.h. aristokratischen Charakter der modernen Literatur ist deshalb von besonderer Wichtigkeit, weil sie den Streit um den Begriff der Volkstümlichkeit der Literatur klären hilft. Volkstümlich ist jede Literatur, die in ihren künstlerischen Aussagen die ganze Breite der komplexen Beziehungen zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen erfasst, damit die einzelnen Gestalten der Handlung gleichzeitig lebensnah und tief zeichnet, auf diese Weise die echten Spannungen des Lebens in ihrem ganzen Umfang zum Klingen bringt und deshalb die große Masse des lesenden Publikums anspricht und fesselt.

Es ist noch immer ein weitverbreiteter Irrtum im Lager des Sozialismus, dass volkstümliche Literatur flach und kindlich oder, wie die Bezeichnung lautet, „einfach“ sein müsse. Es wird dabei übersehen, dass die materiell und geistig pauperisierten Massen der Klassengesellschaft überhaupt keine Literatur (außer dem Schund) haben und dass die jeweils vollzogenen Schritte zur Überwindung des Pauperismus wenigstens auf geistigem Gebiete in der Aufklärungs- und Erziehungsarbeit früherer liberal-fortschrittlicher und der heutigen sozialistischen Bewegungen einherging mit einer gewaltigen Ausbreitung der Werke solcher durchaus nicht „einfacher“, aber trotzdem volkstümlicher Werke wie denen Balzacs, Tolstois, Dostojewskis und Gorkis.

Im wahren und echten Sinne volkstümlich sind die genannten Autoren und nicht irgendwelche formalistischen oder naturalistischen „Berühmtheiten“ westlicher oder östlicher Herkunft. Dass aber auch die moderne subjektivistische Dekadenzliteratur niemals Volkstümlichkeit erlangen kann, ist begründet in ihrem aristokratischen Elitecharakter, von dem wir oben sprachen.

Verlust der Naivität
Aber dieser aristokratische Zug würde allein noch nicht ausreichen, um ihr alle Volkstümlichkeit zu nehmen; es ist denkbar, dass gerade dieser Zug das Publikum reizt und zur Ausbreitung der modernen dekadenten Literatur beiträgt. Was dieser Literatur alle Volkstümlichkeit raubt, ist gar nicht das, was sie vom Formalismus oder Naturalismus unterscheidet, sondern im Gegenteil genau das, was sie verbindet: die Vernachlässigung der vielseitigen Vermittlung zwischen dem individuellen und dem Gesellschaftlichen, dem Einzelnen und den allgemeinen Umständen – die Vernachlässigung der dialektischen Vermittlungen im Schicksal der künstlerisch gestalteten Individualitäten.

Nur dass bei der modernen Literatur der Dekadenz noch etwas Besonderes hinzukommt: der Verlust der künstlerischen Naivität, die alle große Literatur, jede Klassik, auszeichnet. Die Ersetzung der Naivität durch die dekadente „Verfeinerung“ bedeutet nur scheinbar, nur für den Standpunkt der nach innen gewandten künstlerischen Psychologie einen Vorzug; in Wahrheit ist sie ein großer Verlust. Sie entpuppt sich nämlich bei näherer Prüfung als eine Vereinseitigung der Betrachtungsweise zugunsten der psychologischen Abstraktion, als ein „Übersehen“ der Tatsache des bloßen Hindurchgehens allen Geschehens durch das Seelische.

Dieses Seelische wird in der modernen Literatur verselbständigt, vom komplizierten dialektischen Geschehen losgerissen und verabsolutiert; die Folge ist eine weitgehende Verfälschung und Verdunkelung des Seelischen selbst und schließlich seine Irrationalisierung bis auf die Stufe des metaphysischen Mythos. Dass eine solche Literatur jedes echte und ursprüngliche künstlerische Empfinden verletzen muss, daher niemals Volkstümlichkeit erlangen kann, ist selbstverständlich.

Antiindividualismus
In diesem Zusammenhang ist es von grundlegender Bedeutung, den hinter einem extremen Individualismus sich verbergenden faktischen Antiindividualismus der modernen Literatur, d.h. ihre Tendenz zur Schablonisierung und Formalisierung der Individualität, zu entlarven. In der alten klassischen Literatur lebt sich die mit besonderen, eben individuellen Eigenschaften und Handlungstendenzen ausgestattete Individualität aus im Raume des allgemeinen, sozial und geschichtlich bedingten Geschehens. Eben deshalb tritt sie als echte, lebendige und durch vielfältige seelische und geistige Reaktionen ausgezeichnete Individualität zum Vorschein. Heutzutage begegnen wir solchen echt realistisch gezeichneten Gestalten nur noch selten, nur in den Romanen Thomas Manns und ihm verwandter Autoren, ebenso in vereinzelten realistischen Theaterstücken und Filmen.

Die Folge ist bei den weniger begabten Dichtern die Zuflucht zum Hilfsmittel der willkürlichen Konstruktion von Situationen, die die „Lösung“ der künstlerischen Probleme ermöglichen sollen (z.B. Bergengruen), bei den begabten Dichtern, wie wir an Kafka noch zeigen werden, eine Psychologisierung des Geschehens, die dadurch zustande kommt, dass einseitig bestimmte Züge des Seins, besonders der Entfremdung, als Erscheinungen des Seelischen begriffen werden. Von dieser „neuen“ Basis aus erscheinen dann die für das Individuum weittragenden und bestimmenden gesellschaftlichen Phänomene, die sich so sehr in ihrer „Schicksalhaftigkeit“ aufdrängen, dass sie auch von der dekadenten Literatur als bedeutsam anerkannt werden müssen, als letztlich (auf eine oft mystische Weise) von dem seelischen Erlebnisbereich her gesetzt, von ihm „erzeugt“.

Zu guter Letzt kommt bei dieser Psychologisierung (Umkehrung) des Verhältnisses von individueller Innerlichkeit und gesellschaftlichem Sein, und dies trotz aller Reichhaltigkeit der subjektiven Färbungen, trotz aller Verschiedenheit der „Charaktere“ eine Formalisierung und Gleichschaltung der Individuen dadurch zustande, dass diese alle zeitbedingten und gesellschaftlich bestimmten (klassenmäßigen) Merkmale entweder verlieren oder diese Merkmale zu zufälligen und sekundären Merkmalen herabsinken.

Das ist der Grund, weshalb der Leser moderner Romane oft nicht in der Lage ist, die geschilderten Gestalten einer bestimmten Zeit zuzuordnen; er hat das Gefühl, dass sie ebenso gut ins Mittelalter wie in die Gegenwart passen. Es ist daher auch kein Zufall, dass in Kafkas „Schloss“ die Schule moderne Züge zeigt, das Schloss dagegen feudale und die handelnden Personen selbst sowohl in irgendeiner Epoche der Vergangenheit als auch heute lebend gedacht werden können. Wenn gerade bei Kafka sich gelegentlich Eigenschaften des modernen Menschen stärker vordrängen, so erklärt sich das daraus, dass bei diesem nochbegabten Dichter die Fähigkeit, realistisch zu sehen, nicht ganz unterdrückt werden konnte und die Phänomene der Entfremdung zeitweilig realere Gestalt annehmen.

Die psychologische Formalisierung der menschlichen Probleme erfordert aber eine andere psychologische Methode, als wir sie in der klassischen Literatur vorfinden, genauer besehen, eine oberflächlichere. Weil die moderne Literatur keine oder nur geringe Rücksicht nimmt auf die Tatsache der gesellschaftlichen und tief ins Psychische hinab reichenden Vermittlungen, kennt sie nicht oder nur ornamental, d.h. als nicht zum Wesentlichen zugeordnet, das Problem der Entwicklung der Individuen und ihres Charakters. Diese Entwicklung resultiert aus der Auseinandersetzung des Individuums sowohl mit den übrigen Individuen als auch der widerspruchsvollen Totalität der gesellschaftlichen Umwelt.

Psychologie des Flusses
Georg Lukács hat nachgewiesen, dass es ein wesentlicher und bedeutender Zug in der großen Romanliteratur von Goethe und Balzac bis Tolstoi und Thomas Mann ist, die Gestalten ihrer im verdinglichten Denken scheinhaften Einmaligkeit zu entkleiden und ihre innere und menschliche Entwicklung in die Handlung einzubeziehen. Ziehen wir die entsprechende Schlussfolgerung daraus, kann man sagen, dass es auch in der alten großen Literatur Psychologie gibt, aber sie ist eine Psychologie des Flusses, die sich im Laufe der Erzählung mitentwickelt, weil sie hier nicht als Selbstzweck, wie etwa bei Proust oder Gottfried Benn, begriffen wird, sondern als lebendiges Verbindungsglied und Durchgangselement des für einen bestimmten zeitlich begrenzten sozialen Umkreis geltenden totalen und beziehungsreichen Geschehens.

Aus eben der entgegengesetzten Haltung, die aus der einseitigen Orientierung auf die Innerlichkeit sich ergibt, gerät die moderne Literatur in die für sie ausweglose Situation, die Entwicklung der Individuen bestenfalls nur scheinhaft sich vollziehen zu lassen, denn sie bleiben notwendig im abstrakten Raume der mit der Außenwelt nicht oder unzulänglich vermittelten Psychologie im Grunde immer dieselben: Aus diesem Grunde muss diese Literatur ihre Schilderungen in „phänomenologisch“-prunkartige Formen des Erfassens der individuellen Bestimmungen pressen, gerät sie trotz aller scheinbaren, weil willkürlichen und kunstvoll aufgezäumten Konkretion immer mehr in die Fänge einer leeren Abstraktheit, die man auch daran erkennt, dass sich die konstruierte Reichhaltigkeit des Erlebnisprozesses auf ganz wenige und meist nebensächliche psychologische Bestimmungen (überwiegend wiederum irrationell-mythologischer Art) reduzieren lässt. Das Ganze bleibt stets in ein eintöniges Dunkel gehüllt, was Tiefe und seherischen Blick in die unergründeten Regionen der Seele vortäuscht und das auf das mehr oder weniger dem Denken der Dekadenz unterlegene Publikum seine Wirkung nicht verfehlt.

Es ist einfach unwahr, dass die bedeutende alte Kunst die triebhaften und andersgeartet irrationalen „Untiefen“ der Seele nicht gekannt habe. Aber sie hat entsprechend ihrem völlig andersgearteten künstlerischen Charakter niemals darauf verzichtet, die Funktion des tiefenpsychologischen Geschehens in ihrer konkreten Vermittlung zum totalen Leben der künstlerisch beschriebenen Individuen zu verfolgen und im Laufe der Darstellung immer mehr aufzuhellen. Die moderne Literatur neigt nicht nur deshalb zum Irrationalismus und zur Mystik, weil sie der dekadenten innengewandten Vernunftfeindlichkeit der hochkapitalistischen Gesellschaft unterliegt, sondern in weiterer Folge auch deshalb, weil ihr einseitiger Subjektivismus methodisch eine echte Lösung der literarischen Probleme nicht zulässt und sich mit Hilfe der künstlerischen Mystik „überzeugende“ Pseudolösungen zustandebringen lassen.

Schicksal und Entfremdung
Es wäre gleichzeitig irrtümlich zu meinen, dass es in der modernen Literatur gar keine Probleme im Sinne der realistischen Kunstauffassung gibt. Im Gegenteil, gerade für die subjektiv begabtesten Vertreter der modernen Literatur trifft dies nicht zu, besonders nicht für den Bedeutendsten unter ihnen, für Kafka. Wenn es richtig ist zu sagen, dass das Problem des „Schicksals“ ein Grundzug der modernen Literatur ist, so zeigt die marxistische Methode der Entlarvung von Ideologien, dass sich hinter diesem Schicksalsproblem nichts anderes verbirgt als die Erscheinung der Entfremdung in der kapitalistischen Gesellschaft.

Der für diese Gesellschaft bestimmend gewordene Bruch zwischen individuellem Wollen und objektivem Prozess, zwischen dem Menschen und seinem Werk, zwischen der gesteigerten Möglichkeit menschlicher Entfaltung und dem Zurückgeworfensein des Menschen auf das Triebhaft-Tierische usw., die aus all dem sich ergebende Unheimlichkeit und Bedrohung des Lebens, die Unbeherrschbarkeit und Irrationalität, das alles spiegelt sich im bürgerlich-dekadenten Bewusstsein als „Schicksal“. Da aber die Entfremdung als solche nicht begriffen wird, erscheint dieses Schicksal als ewige, für alles Menschsein schlechthin geltende und daher weder überwindbare noch zu mildernde Bedrohung aus einer letztlich unbegreiflichen und mystischen Verwurzelung heraus (Weinstock).

Der Kampf zwischen dem Individuum und den unheimlichen Mächten des Schicksals spielt sich entsprechend der oben geschilderten individualistisch-psychologischen Grundkonzeption wesentlich im Innern des Menschen ab. Das hat noch den Vorzug, dass der Mensch auf sich selbst gestellt erscheint und niemanden für sein Schicksal zur Verantwortung ziehen kann; rein wie Venus am ersten Tage ihrer Geburt steht die kapitalistische Ordnung da. Wie alle Probleme der Realität wird auch das Problem der Entfremdung durch die Verlagerung ins Subjektive formalisiert und entleert.

Wie immer sich die einzelnen Vertreter der modernen Literatur voneinander unterscheiden mögen, die eigentlichen Nuancen sind zu suchen in ihrer Stellung zum Problem der Entfremdung und in der Art seiner dichterischen Bewältigung. Zwischen Bergengruen und Kafka ist deshalb ein so großer Unterschied, weil sie sich in dieser Beziehung so weit unterscheiden. Nicht die Symbolik, deren sie sich bedienen, unterscheidet sie, sondern ihr Inhalt, aber auch die gewählte Symbolik ist letztlich Ausdruck der Schwäche oder der Kraft in der dichterischen Bewältigung der Entfremdung.

Hierbei kann man die Tatsache beobachten, dass je abstrakter die Symbolik (nicht der Inhalt), sie desto unbefangener und offener dem Entfremdungsphänomen gegenübertritt, es in größerer Breite und Vielseitigkeit in die Erzählung einfließt. Dies ist bei Kafka der Fall.

Das Schloss als Symbol
Das Symbol der rational gesetzten Ziele wie gleichzeitig des Umstandes, dass sie niemals zu erreichen sind, ja dass es sie gar nicht gibt, dass sie sich der Mensch bloß einbildet und dass er in völliger Verlorenheit sich einer unverständlichen Welt ausgeliefert sieht, die ihn aber ebenso zwingt, sich so zu verhalten, als ob er sie verstünde, ist bei Kafka das Schloss. Der Mensch handelt in bestimmter Weise, er weiß sogar, was er will, und trotzdem sind ihm und den anderen die Gründe seines Handelns völlig unerklärlich. Es bleibt völlig unbestimmt, ob dieses Schloss überhaupt existiert, obgleich man gelegentlich sogar hineinkommt. Die Unbestimmtheit und Ungewissheit verrät sich in widerspruchsvollen Handlungen, was wiederum ein schlechtes Gewissen gibt. Der Mensch fühlt sich immer schuldig, auch wenn er weiß, dass er dem Schicksal unterworfen ist. Aber er kommt niemals dahinter, wessen er eigentlich angeklagt ist (Der Prozess).

Das alles ist großartig und doch unzulänglich. Wo liegt der Fehler Kafkas? Um diese Frage zu beantworten, müssen wir vorerst eine andere stellen: Woher kommt diese Stimmung der Unbestimmtheit, Verlorenheit und exaltierten Ziellosigkeit, d. h., woher nimmt sie Kafka? Wir haben es hier mit einem gleichzeitigen genialen Erfassen der realen Situation des Menschen in der unbeherrschbar und undurchschaubar gewordenen Welt – dies trotz aller willkürlichen psychologischen Überspannungen – wie einem vollkommenen Verfehlen der wirklichen Verhaltungsweise des Menschen zu tun. Die unvermittelte Gleichsetzung von Begegnung zwischen dem Individuum und der ihm unverständlichen und ihn bedrückenden, ihm als Schicksal erscheinenden Totalität des gesellschaftlichen Prozesses auf der einen Seite und dem konkreten Verhalten dieses Individuums im Teilbereiche seiner einzelnen Handlungen entspricht nicht der Wirklichkeit. Dass der Mensch sich einem undurchsichtigen Chaos ohne Ziel und Sinn gegenübergestellt sieht, bedeutet nicht, dass er sich aufgibt und im Teilbereiche seines individuellen Lebens nicht versucht, es sich einzurichten, so gut es geht.

Auch hier wirkt der Bruch zwischen dem Irrationalismus des Ganzen und dem Rationalismus des Teilgebiets bis ins Seelische hinein: Die Bedrohung durch das unbekannte „Schicksal“ wird zwar überall empfunden, erzeugt Gefühle der Angst, der Unsicherheit und der Verzweiflung, aber sie steigert gerade wiederum den Drang, die kleine Insel gegenüber dem großen Strom abzudämmen, zu rationalisieren; die Furcht wird hier zum Anlass, sich auf das eigene Ich zu besinnen und ihm eine Stätte der relativen Sicherheit zu bauen. Bei Gründung einer Familie, Anlegen eines Bankkontos, Ankauf eines Wagens, Bau eines Hauses herrscht rationelle Klarheit. Das alles weiß auch Kafka. Aber er überträgt nun – allerdings in subjektiv großartiger Weise – die irrationellen Phänomene, die dem Ganzen eignen, unvermittelt auf alle Sphären des individuellen Lebens, und da er sich dadurch der echten Möglichkeit einer (dichterisch-intuitiv verstandenen) allseitigen Vermittlung zwischen dem objektiven und dem Subjektiven begibt, bleibt ihm nur der Weg der Injektion der Phänomene der Entfremdung, wie sie das Ganze kennzeichnen, in die Psychologie des einzelnen, wo er ihre Auswirkungen verfolgt.

Unheilbare Entfremdung?
In Akten der Verdrängung, der bewussten oder unbewussten Angst, der latenten oder ausbrechenden Verzweiflung, im Erlebnis der Einsamkeit, im Rausch und im Selbstmord findet die irrationelle Bedrohung der auf Rationalität tendierenden Lebenssphären immer neue Nahrung. Aber das ist etwas ganz anderes als das Versenken, das Verschwindenlassen der Entfremdung, des „Schicksals“ in der Seele des einzelnen, wo die angebliche „Freiheit“ des empirischen Menschen, der zu wählen hat zwischen Gut und Böse, ausschließlich herrscht.

Die psychologisch-mythologische Metaphysik bringt es auch bei Kafka fertig, die Außenwelt als eine Variante, sogar als ein Produkt der subjektiven Innenwelt umzudeuten, mit dem Erfolg, dass die Entfremdung zur „anthropologischen“ oder „philosophischen“ Kategorie erhoben, d. h. als ewig unaufhebbar erklärt wird. Nur deshalb kann ein Vertreter dieser Auffassungsweise in Polemik gegen den marxistischen Begriff der Entfremdung sagen: „Die Entfremdung des Menschen datiert seit seiner Austreibung aus dem Paradies; sie ist durch gesellschaftliche Umschichtungen nicht zu heilen.“

Erstveröffentlichung in: Die Andere Zeitung, 13.12.1956, S.11 [Nachdruck unter dem Titel „Zur Kritik der spätbürgerlichen Literatur“ in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, Hamburg 2000].

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