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» Marxistischer und stalinistischer Marxismus [1954/55]

Marxistischer und stalinistischer Marxismus [1954/55]

I) Propädeutisches zur Unterscheidung der Positionen

Kaum ein theoretisches System hat wie der Marxismus das Schicksal erfahren, von Anhängern wie Gegnern gleichermaßen missverstanden worden zu sein. Ohne dass wir uns hier auf die Geschichte der „kritischen“ Missdeutung des Marxismus einlassen wollen, sei nur bemerkt, dass wir in eine Epoche neuer Missverständnisse eingetreten sind, die veranlasst sind durch die Entstellung dieser Lehre seitens des im Osten siegreichen „marxistischen“ Stalinismus und leider auch durch die, wenngleich im wesentlichen positiv zu wertenden Diskussionen, die in den interessierten Gelehrtenkreisen über die Marxschen Frühschriften in den zwanziger Jahren begonnen, unter Hitler unterbrochen und in den vergangenen Jahren fortgesetzt wurden. Mit der letzteren Erscheinung haben wir es hier nicht zu tun. Es sei nur so viel bemerkt, dass zu den überraschendsten Resultaten dieser Diskussion der Vorwurf gegen Marx gehört, er habe sich nicht etwa eines abstrusen Materialismus, sondern eines übersteigerten humanistischen und anthropologischen Idealismus schuldig gemacht, wobei die Neigung bemerkbar wird, gleichzeitig gewisse seiner soziologisch-„materialistischen“ Ansichten als für die Soziologie bedeutsam zu akzeptieren (vgl. die Marx-Tagungen der Evangelischen Akademien).

Aber das traditionelle „materialistische“ Missverständnis, das wiederum sehr verschiedene Formen angenommen hat, ist nicht etwa überwunden, sondern spukt wie vordem in den Köpfen besonders der Angehörigen der Universitäten, wofür wir (aus Raumgründen) nur zwei Beispiele beibringen wollen. Der an der Genfer Universität lehrende Professor Bochenski äußert sich: „Nach dem historischen Materialismus hängt der gesamte Bewusstseinsinhalt von den wirtschaftlichen Bedürfnissen ab.“ (Europäische Philosophie der Gegenwart, S.81).

Diese Bestimmung hat mit der marxistischen Auffassung nichts zu tun, ja sie erweist sich bei genauerer Betrachtung als nicht einmal denkmöglich. Für Marx haben die „wirtschaftlichen Bedürfnisse“ überhaupt keinen Einfluss auf die Bildung der Denkinhalte, sondern nur die gesellschaftlichen Beziehungen, die er „materiell“ nennt, weil sie nach seiner Auffassung aus dem – in sich wiederum sehr kompliziert und auf dem Bewusstsein ruhend aufzufassenden – Phänomen der Arbeit resultieren und überdies das ausdrücken, was man im Gegensatz zum nicht praktischen „Ideellen“ als die Sphäre der „Praxis“ zu bezeichnen pflegt. Um seine Auffassung mit einem Zitat zu belegen, das Bochenskis Irrtum deutlich hervortreten lässt, sei folgendes Wort von Marx angeführt: „Nicht was gemacht wird, sondern wie … unterscheidet die ökonomischen Epochen.“ (Kapital I, S.188)

Wir sehen, dass selbst hinsichtlich der „materiellen“ Sphäre Marx sich gegen den Gedanken abgrenzt, dass das „Was“ der ökonomischen Tätigkeit, das dazu dient, die „Bedürfnisse“ zu befriedigen, den Charakter der gesellschaftlichen Epochen bestimmt; vielmehr ist es das „Wie“ des Arbeitsprozesses und der darauf beruhenden zwischenindividuellen Beziehungen, die maßgeblich bleiben.

Das Missverständnis Bochenskis beruht zweifellos auf einem, sagen wir, Zuernstnehmen einer bestimmten äußeren Terminologie der marxistischen Lehre. Bezeichnungen wie „materiell“, „materialistisch“, „ökonomisch“ usw. haben hier grundsätzlich eine ganz andere als die übliche Bedeutung. So z.B. steht „materiell“ – nicht im Widerspruch zu bewusstseinsmäßig oder mit Bewusstsein – „durch den Kopf hindurch“, wie Marx sagt – vollzogen. Dies hat wiederum Monnerot nicht verstanden, wenn er den Ausspruch von Marx: „Das Ideelle ist nichts anderes als das im menschlichen Kopfe umgesetzte Materielle“ folgendermaßen apostrophiert:
„Die Idee, so betont Marx, ist nichts anderes als die Materie.“ „Wenn man sagt, dass sich die Materie im materiellen menschlichen Hirn umsetzt, so hat man noch nichts darüber gesagt, wie auf diese Weise eine Idee entsteht.“ (Soziologie des Kommunismus, S.152).

Hier unterläuft Monnerot ein doppelter Irrtum. Einmal verwechselt er die biologische Frage nach der Funktionsweise des Gehirns, von der aus der Biologe die Denkfunktion zu erklären versucht, mit der Frage nach der soziologischen Beziehung von gesellschaftlichem („materiellem“) Sein und den gedanklichen Inhalten, die Ideen heißen. Für die erstere interessiert sich Marx überhaupt nicht, und es ist nur eine Fälschung, wenn Stalin einen darauf bezüglichen Ausspruch von Hobbes, den Marx in kritischer Absicht zitiert, diesem in den Mund legt. Diese Frage hat übrigens auch mit der philosophisch-materialistischen nach der „Existenz der Realität unabhängig vom Bewusstsein“ nichts zu tun. Zum anderen bemerkt Monnerot nicht, dass für Marx das „im menschlichen Kopfe“, d.h. im Bewusstsein (!) umgesetzte „Materielle“ nichts anderes ist als das im Raume des gesellschaftlichen Lebens vorfindbare System praktischer Tätigkeiten, aus dem das Ideelle herauswächst, das sich ins Ideelle „umsetzt“. Marx nennt deshalb das „Materielle“ auch das „Wirkliche“, womit er selbstverständlich die geschichtliche und gesellschaftliche Wirklichkeit meint. Mit dem „materiellen Hirn“ hat das Ganze nichts zu tun. Schon der Begriff des „Ideellen“ zeigt den wahren Sinn des Marxschen Satzes an, denn es steht immer für das „Ideologische“. Was Monnerot meint, nämlich die grundsätzliche Fähigkeit des Menschen, überhaupt denken zu können, wird niemals als das Ideelle, sondern stets anders bezeichnet.

Angesichts der Möglichkeit solcher Irrtümer in akademischen Kreisen verwundert es nicht, dass die Lehren des Marxismus selbst da weitgehend missverstanden werden, wo sie – in ihren Grundsätzen sonst durchaus richtig begriffen worden sind. Das scheint auf den ersten Blick ein Widerspruch. Nehmen wir den historischen Materialismus. Was ist damit schon getan, wenn man den Satz Marxens „Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein“ seinem Gehalte nach begriffen hat? Sehr wenig! Vertieft man sich dann in gute Arbeiten, die den historischen Materialismus auf konkrete Probleme der Geschichte oder des Geisteslebens anwenden – z.B. in Marx‘ Achtzehnten Brumaire, Franz Mehrings Lessinglegende oder in Georg Lukács‘ Goethe und seine Zeit – so sieht man sich plötzlich vor neue Rätsel gestellt, die erst den ganzen Umfang der Aussagen des historischen Materialismus ahnen lassen.

Es ist nun höchst interessant zu sehen, wie die falsche Interpretation nicht nur in die nichtmarxistische Vorstellungswelt eindringt, sondern auch umgekehrt in den Marxismus, wie er sich als geistige und politische Bewegung in unserem Jahrhundert ausgeprägt hat, zurückwirkt. Der sichtbarste und gleichzeitig extremste Exponent des unmarxistischen Marxismus in unserer Zeit ist der Stalinismus. Wie seine „bürgerlichen“ Gegner hat auch er in missverständlicher Anknüpfung an die „materialistische“ Sprache des Marxismus diesen seines echten und wahren Gehalts beraubt und aus ihm ein System mechanistischer‚ materialistischer und vulgärmarxistischer Aussagen gemacht.

Man kann zwischen soziologischen und systematischen Wurzeln der Entstellung des Marxismus durch den Stalinismus unterscheiden, obgleich beide nicht völlig voneinander zu trennen sind, denn diese hängen mit jenen zusammen. Es würde zu weit führen, hier den ganzen Komplex dieses Zusammenhangs aufzurollen. Wir begnügen uns mit einigen Hinweisen auf die wichtigsten systematischen Grundfehler der stalinistischen Denkweise, wobei wir hier von der philosophischen Erkenntnistheorie absehen.

Will man die marxistische Soziologie – diese im weitesten Sinne, d.h. einschließlich der Ideologienlehre, Anthropologie, Kunsttheorie usw. – ihrem Wesen nach begreifen, müssen drei grundlegende Faktoren beachtet werden, Faktoren, die gerade im stalinistischen Marxismus entweder gar nicht oder nur unzulänglich und verzerrt zur Geltung kommen: erstens, dass die Grenzen des Bewusstseinsmäßigen nirgends überschritten werden; zweitens, dass marxistisches Denken stets Denken in der Totalität ist; drittens, dass der Gesetzesbegriff des historischen Materialismus in einem grundlegenden Gegensatz zum naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff sich befindet. Friedrich Engels äußert sich einmal:
„Zweitens ist es nun einmal nicht zu vermeiden, dass alles, was einen Menschen bewegt, den Durchgang durch seinen Kopf machen muss – sogar Essen und Trinken.“ (Ludwig Feuerbach, 1946, S.25 und ähnlich S.43).

Aus diesem Ausspruch geht klar hervor, dass sich nach der marxistischen Vorstellung alle auf den gesellschaftlichen Menschen bezogenen Vorgänge auf dem Boden des Bewusstseins abspielen. Aber gerade eine solche Bestimmung erscheint den vulgärmaterialistisch befangenen Vertretern des Stalinismus als ein Abgleiten in den „Idealismus“. Deshalb konnte es geschehen, dass gelegentlich einer Diskussion an der hallensischen Universität dem Autor dieser Zeilen, der Engels zitierte, ohne ihn zu nennen, entgegengehalten wurde, Essen und Trinken seien keine Angelegenheiten des Kopfes, sondern der dazu bestimmten körperlichen Organe. Das Missverständnis ist offensichtlich, aber nur aus einer mechanistisch-materialistischen Grundorientierung heraus zu begreifen. Ein mechanistischer Denkfehler zieht den anderen nach sich, und so kommt es dann zu jener in der stalinistischen Theorie immer wieder anzutreffenden und unausrottbaren Verwechslung der wirklich idealistischen Vorstellung von der einseitigen Gestaltung der Geschichte durch das Bewusstsein mit der dialektisch-materialistischen, dass die Geschichte sich durch den menschlichen Kopf hindurch, durch das Bewusstsein hindurch gestaltet.

Betrachten wir einmal das marxistische Problem des Bewusstseins als der Grundlage allen menschlichen Existierens und Verhaltens da, wo wir es nach der marxistischen Auffassung mit der Sphäre des „Materiellen“ oder Ökonomischen zu tun haben: in der Sphäre der Arbeit. Nach der Vorstellung der alten vormarxistischen Materialisten war der Mensch weitgehend und damit selbstverständlich auch in seiner Arbeit von der Natur abhängig, die in dieser Auffassung kraft ihrer besonderen Eigenschaften gleichsam als Subjekt erscheint und ihre Wirkung auf das Tun und Wollen des Menschen ausübt. Bei Marx verhält es sich (was hier nicht näher begründet werden kann) gerade umgekehrt. Die innere Dynamik im Arbeits-, gesellschaftlichen und historischen Prozess ist niemals von Faktoren der äußeren Natur bestimmt, sondern diese, genauer die qualitative Vielfalt ihrer Erscheinungen und Eigenschaften, bilden nur die allgemeinen Voraussetzungen menschlicher Existenz überhaupt; welche dieser Erscheinungen und Eigenschaften und in welcher Form sie vom Menschen verwendet werden, das hängt von diesem selbst und von seinen zwischenindividuellen, gesellschaftlichen Lebensformen sowie ihren Entwicklungstendenzen ab. Es ist klar, dass diese zwischenindividuellen Beziehungen, die wir gesellschaftliche nennen, stets solche des mit Bewusstsein begabten und daher sich in allen seinen Äußerungsformen dieses Bewusstseins bedienenden Menschen sind, also selbst auf dem Bewusstsein begründete Beziehungen sein müssen.

An Dutzenden von Stellen des Marxschen Schrifttums lässt sich erweisen, dass für Marx das bewusstseinsbestimmte Handeln die letzte Gegebenheit in der Ableitung soziologischer Vorgänge bildet, hinter die er niemals zurückgeht. Der arbeitende Mensch, sagt Marx z.B., „benutzt die mechanischen, physikalischen, chemischen Eigenschaften der Dinge, um sie als Machtmittel auf andere Dinge, seinem Zweck gemäß (d.h. einem mit Bewusstsein gesetzten Ziel entsprechend, L.K.) wirken zu lassen.“ (Das Kapital I, 1947, S.187)

Die Natur ist nur, sagt Marx ausdrücklich, „der allgemeine Gegenstand der menschlichen Arbeit“ (Kapital I, S.186), wobei er diesen Ausdruck selbst unterstreicht. Oder: „Im Arbeitsprozess bewirkt also die Tätigkeit des Menschen durch das Arbeitsmittel eine von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes.“ (Das Kapital I, S.189)

Die Rolle des Bewusstseins als Bedingung allen Geschehens tritt in diesen Äußerungen klar hervor. Und da die stalinistische Theorie aus dem Missverständnis heraus, dass ein solcher- Standpunkt in letzter Konsequenz zum Rückfall in den „metaphysischen Idealismus“ führen müsse, die Rolle der Naturbedingungen in einer dem Marxschen Denken fremden Weise überbetont, verfällt sie dem vulgärmaterialistischen Mechanismus. Es entgeht ihr, dass der Hinweis auf die durchgehende Funktionalität des Bewusstseins im gesellschaftlichen Geschehen sehr wohl zu vereinbaren ist mit einem konsequenten historischen Materialismus. Der „materialistische“ Charakter dieser Auffassung liegt eben darin, dass die tätige, auf Ziele ausgerichtete und daher stets bewusstseinsbestimmte Seite im gesellschaftlichen Prozess, ungeachtet der Unterstreichung ihrer entscheidenden Rolle, als letzten Endes abhängig und wesenhaft bestimmt erkannt wird von den aus eben dieser Tätigkeit erfließenden objektiven gesellschaftlichen Bedingungen.

So besehen, erscheint der gesellschaftliche Prozess im Gegensatz zur Anschauung des alten Materialismus, der die tätige Seite als bloßen Schein, als Selbsttäuschung des Individuums betrachtete – schon bei Hobbes und Spinoza, der in seinen gesellschaftsphilosophischen Betrachtungen sich dem Materialismus nähert – in seiner Gesamtheit als durch das Bewusstsein hindurchgehende „Praxis“, in der die subjektive wie die objektive Seite des Prozesses sich als identisch erweisen und damit die Form der historischen Subjekt-Objekt-Beziehung annehmen. Die marxistische Subjekt-Objekt-Theorie fällt aber genau mit dem zusammen, was der Marxismus unter historischer Gesetzlichkeit versteht, und bildet die Grundlage für das Erkennen der konkreten gesetzlichen Abläufe, wie sie den verschiedenen historischen Epochen (Totalitäten) zugehören.

Die Theorie der Subjekt-Objekt-Beziehung lässt sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: In seinem Tun „produziert“ das menschliche Individuum (das Subjekt) auf die Erreichung konkreter Ziele gerichtete Handlungen und Beziehungen, die sich in ihrer Gesamtheit zu einem geordneten System verdichten (Objekt), das wiederum seinerseits dem Menschen als ein System von Bedingungen gegenübertritt (Subjekt) und ihn in seinem Tun bestimmt (wodurch der Mensch wiederum Objekt wird). Das vom Menschen selbst „erzeugte“ Objektive seiner „Umwelt“ wird also seinerseits zum Subjektiven, indem es den Menschen zum Objekt degradiert, gleichzeitig ihm aber neue Aufgaben stellt und zu neuer die Umstände verändernder Tätigkeit, zur Aktivität als Subjekt anregt. Welchen konkreten Inhalt diese Beziehung (Identität von Subjektivem und Objektivem) jeweils erhält, das hängt von dem konkreten Charakter der gesellschaftlichen Entwicklung selbst ab.

Entscheidend bleibt hierbei, dass diese „gesetzliche“ Subjekt-Objekt-Beziehung einer bestimmten Epoche alle Erscheinungen, angefangen von den einfachsten ökonomischen Tatbeständen bis hinauf zu den komplizierten geistigen Schöpfungen, einbezieht. Dabei bleibt überall der Subjektcharakter aller subjektiven (auch geistigen) Momente erhalten, und dies in der Weise, dass der Mensch niemals mechanisch zu einer Handlung oder Entscheidung, zu einer Zielwahl oder gedanklichen Äußerung gezwungen wird, sondern nur stets unter bestimmten Bedingungen sich konkreten gesellschaftlichen Problemen gegenübergestellt sieht, die durchschnittlich subjektiv so gelöst werden, wie dies dem konkreten Sein der Subjekte entspricht. Der „große Geist“ sieht tiefer in die Wirklichkeit hinein, steht ihr daher näher und denkt wahrer, aber die Probleme, die ihm aufgegeben sind, existieren unabhängig von ihm, und die vielfältigen Lösungen, die eine Epoche philosophisch, politisch, ökonomisch usw. dank der Arbeit ihrer geistig Beauftragten hervorbringt, sind stets Lösungen, die sich mehr der weniger diesem oder jenem gesellschaftlichen Standort zuordnen lassen, was objektive Wahrheitserkenntnis nicht aus-, sondern geradezu einschließt (marxistische Ideologienlehre).

Diesem hier skizzierten Zusammenhang gegenüber begegnet die stalinistische Theorie mit sensualistischer Blindheit. Wie der materialistische Sensualisrnus des 18.Jahrhunderts, so fasst auch die stalinistische „Spiegelungstheorie“ die Rolle des Subjektiven und des Denkens mechanistisch auf, indem sie in die Passivität gedrängt werden. Da aber eine solche Auffassung sichtbar der Bedeutung widerspricht, die die marxistische Theorie tatsächlich dem Denken in der Geschichte zuerkennt, findet der Stalinismus den Ausweg des nachträglichen Zurückwirkens des Gedankens auf den Menschen, d.h. den Ausweg der Konstruktion einer Theorie der „Wechselwirkung“.

Es versteht sich von selbst, dass diese vulgärmaterialistische Entstellung des historischen Materialismus keinen anderen als einen naturmechanisch verzerrten Gesetzesbegriff zulässt. Wie im naturwissenschaftlichen Gesetz das Objekt in Passivität verharrt, d.h. Gesetzen unterworfen ist, die für jedes beliebige Objekt gelten, daher unabhängig von ihm existieren, wird auch in der stalinistischen Theorie der Mensch mehr oder weniger – die Einschränkungen stehen gewöhnlich in einem phrasenhaften Widerspruch zur Grundthese – zum passiven Objekt eines objektiven gesetzlichen Ablaufs; die Gesetzmäßigkeit der bewusstseinsbedingten Subjekt-Objekt-Beziehung bleibt hier in ihrer spezifischen marxistisch-dialektischen Bedeutung unerschlossen. Und weil es sich damit in der stalinistischen Theorie so verhält, d.h. hier die auf das Ganze des Seins bezogene Identität von Aktivität und Passivität unerkannt bleibt, lehnt der Stalinismus auch den für die marxistische Lehre grundlegenden Begriff der Totalität ab, obgleich sich Marx seiner oftmals bedient (z.B. in der Einleitung von Zur Kritik der politischen Ökonomie fast ein dutzendmal). An die Stelle der Totalität wird der Begriff des „Zusammenhangs“ gesetzt – genau das, was der nichtdialektischen Geschichtsdarstellung längst bekannt ist und was Marx als der dialektischen Sicht gerade entgegengesetzt angesehen hat. Im Gegensatz zur bloßen Betrachtung der Erscheinungen im „Zusammenhang“ schließt die dialektische Totalitätsbetrachtung jenen methodischen Vorgang in sich, durch den die Momente untereinander und zum Prozess mit dem Ziel „vermittelt“ (Hegel) werden, ihr verborgenes Wesen zu enthüllen. Erst durch diese Methode wird der Boden der bloßen, sei es auch noch so geistvollen Kompilation oder – was dasselbe bedeutet – der Darstellung der Geschichte im bloßen „Zusammenhang“ verlassen und ein echtes historisches „Verstehen“ möglich. Die „bürgerlichen“ Denker Max Weber und Ernst Troeltsch haben hierin weiter gesehen als die angeblich „marxistischen“ stalinistischen Historiker.

II) Marxistische und stalinistische Geschichtsauffassung

Obgleich Lenin im stalinistischen Herrschaftsbereich als eine Art Heiliger betrachtet wird, dem unter keinen Umständen widersprochen werden darf, gibt es Aussprüche von ihm, die von Stalinisten niemals zitiert werden, z.B.: „Der kluge Idealismus steht dem klugen Materialismus näher als der dumme Materialismus.“ Was diese Äußerung Lenins betrifft, liegt es auf der Hand, dass man sie im Osten gern verschweigt, denn Marxismus und Stalinismus scheiden sich wie kluger und dummer Materialismus.

Schwerer zu erkennen ist schon, weshalb bestimmte theoretische Hinweise von Marx, etwa solche, die sich auf die Methode der Geschichtsforschung beziehen, entweder mit Absicht übergangen werden oder, weil man mit ihnen nichts anzufangen weiß, einfach unbeachtet bleiben. Doch ist der Grund derselbe, nämlich das richtige Gefühl, dass diese Hinweise mit dem eigenen Standpunkt nicht übereinstimmen. Ganz besonders gilt dies für die stalinistische Verflachung des historischen Materialismus zu einem vulgären Ökonomismus, wobei sich zwei für die marxistische Geschichtsforschung gleichermaßen verheerende Konsequenzen einstellen. Die eine liegt darin, dass entgegen der bereits im vorigen Abschnitt angedeuteten Forderung von Marx, zwischen der kompilatorischen Darstellung des historischen Ablaufs im „Zusammenhang“ und der Erforschung des Wesens der Erscheinungen als der Momente in einer dialektisch strukturierten „Totalität“ scharf zu unterscheiden, die stalinistischen Historiker fast durchweg die Neigung zeigen, bei der quellenmäßigen Herausarbeitung und Zusammenfügung des äußeren Tatsachenmaterials stehen zu bleiben. Die andere Konsequenz finden wir darin, dass infolge des mechanistisch-materialistischen Missverstehens des historischen Materialismus dieser zu einem flachen Ökonomismus im Sinne einer äußerlichen Jagd nach dem „ökonomischen Faktor“ in der Erklärung bestimmter historischer Phänomene degradiert wird, womit eine Annäherung an den alten vormarxistischen Materialismus vollzogen wird.

Georg Lukács, der bedeutendste marxistische Theoretiker der Gegenwart, warnt offen vor der „philisterhaften Verengerung des dialektischen Materialismus und der Entstellung des historischen Materialismus zu einem ‚Ökonomismus‘, zu einer vulgären Soziologie“. Da Lukács dem stalinistischen Lager angehört (wo man ihm wegen seiner echt marxistischen Denkweise die größten Schwierigkeiten macht) und seine kritischen Bemerkungen oft gegen die eigenen Parteifreunde richtet, ist klar, wen er des undialektischen Ökonomismus beschuldigt. In seinen bedeutsamen literaturkritischen Untersuchungen zeigt Lukács, wie die Methode des historischen Materialismus mit der erforderlichen und den ganzen Gehalt dieser Lehre ausschöpfenden Subtilität angewendet werden muss. Hierbei entwickelt er in Anlehnung an Marx seine vieldiskutierte Theorie, in welcher er zwischen der bloß „beschreibenden“ und der auf das Begreifen und künstlerische Darstellen des Wesens des menschlichen Lebens tendierenden „erzählenden“ Kunstform scharf unterscheidet. Uns interessiert hier nur, dass diese Unterscheidung zwischen „Beschreiben“ und „Erzählen“ genau das trifft, was in der Geschichtsforschung den Unterschied zwischen der äußerlich schildernden und der „verstehenden“ Geschichtsbetrachtung ausmacht.

Es ist interessant zu erkennen, dass Marx lange vor Dilthey und zwar bereits in seinen Frühschriften so etwas wie eine „verstehende“ Geschichtsmethodik entwickelt hat, wenngleich er sich, wie wir sehen werden, einer anderen Terminologie bedient und überdies das für die „verstehende“ Richtung bis hinauf zu Rickert charakteristische Aufgeben des rationellen Begreifens der geschichtlichen Phänomene zugunsten des intuitiven vermeidet. Anstatt nun diese großartige Leistung von Marx sich anzueignen, geht ihr die stalinistische Theorie aus dem Wege, um schließlich da zu landen, wo im 19.Jahrhundert die „reine“ quellenkritische Geschichtsforschung, deren Arbeit auch vom heutigen Standpunkt nicht überflüssig erscheint, aber als bloße Vorarbeit zur eigentlichen Geschichtsforschung zu betrachten ist (Max Weber), gestanden hat. Es war der große „bürgerliche“ Theologe, Soziologe und Historiker Ernst Troeltsch, der wie die Theoretiker des intuitiven „Verstehens“ die Einseitigkeit der rein auf Quellenkenntnis beruhenden Geschichtsschreibung erkannte, gleichzeitig aber verstand, dass sich zwischen oberflächenhaft-rationalem Beschreiben und metaphysisch intuitivem, d.h. letztlich unwissenschaftlichem „Verstehen“ ein dritter Weg findet, nämlich, der des historischen Materialismus. Über diesen äußert sich Troeltsch in seinem Schrifttum oftmals anerkennend. Die Bedeutung von Troeltsch liegt in dieser Hinsicht darin, dass er die dialektische Kompliziertheit der marxistischen Methode begreift und sie daher in einer der heutigen stalinistischen Theorie gerade entgegengesetzten Form zur Anwendung bringt, wodurch sich die großartigen Ergebnisse vor allem in seinem Werk Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1911) erklären. Aus der richtigen Erahnung des Unterschiedes zwischen dem bloßen Beschreiben und dem wirklichen Verstehen des Geschichtlichen auf rationaler Grundlage wagt es Troeltsch als einer der ersten und in offenbarem Verstoß gegen die „guten Sitten“ der traditionellen Geschichtsschreibung, die Quellenforschung zu vernachlässigen oder, genauer, ihre vorbereitende Arbeit anderen zu überlassen und sich um die eigentliche Erforschung der historischen Erscheinungen und Abläufe zu bekümmern. So schreibt er auf Seite 15 des erwähnten Werkes:
„Für die vorliegende Arbeit kommt es wesentlich auf die zweite Gruppe an (auf das Erkennen der inneren Einheitlichkeit des gesamten Lebens; L.K.) … während die Untersuchung über das faktische Verhalten und Wirken der christlichen Ideenmächte gegenüber den politischen und ökonomischen Lebenskreisen nur als Voraussetzungen für die Beantwortung dieser prinzipiellen Fragen in Betracht kommen. Meine Arbeit verfügt bezüglich jener Probleme des faktischen Verhaltens nur in sehr beschränktem Maße über eigene Quellenforschung … Ihr etwaiges Verdienst liegt überhaupt nicht in selbständiger Quellenforschung, sondern im selbständigen Durchdenken der aus der jeweiligen Lage und Konstellation der Interessen erfolgenden Vereinheitlichung des Ganzen“.

Ähnliches meint Edgar Salin, wenn er in der Einleitung zu Gotheins Renaissance in Italien zwischen „antiquarischer“ und „bildender“ Geschichtsschreibung unterscheidet, oder auch Benedetto Croce, der der „Gelehrsamkeit“ des „reinen Historikers“ mit Ironie begegnet und das Eindringen in den verborgenen Wesensgehalt des Geschichtlichen fordert. (Meine Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft unternimmt den Versuch, die hier gemeinte Methode des dialektisch-rationalen Verstehens auf zahlreiche Probleme der Neuzeit anzuwenden.)

Der Stalinismus dünkt sich natürlich über diese „bürgerlichen“ Methoden, mit dem Problem der Geschichte wissenschaftlich fertig zu werden, erhaben. Er bemerkt hierbei nur nicht, dass es ihm so geht wie dem „dummen Materialismus“, der dem „klugen Idealismus“ ferner steht als der „kluge Materialismus“. Die methodische Zurückgebliebenheit der stalinistischen Geschichtsforschung zeigt sich nämlich gerade darin, dass sie auf dem Stande der „reinen“ bürgerlichen Historiker stehen geblieben ist, während Marx selbst ganz andere, weitaus modernere Wege weist.

Marx nennt diese – wie man heute sagen würde – „verstehende“ Methode bereits 1846 die „anschauliche“. In der Deutschen Ideologie jenes Jahres heißt es:

„Ihre Voraussetzungen (nämlich der dialektisch-materialistischen Betrachtungsweise; L.K.) sind die Menschen … in ihrem wirklichen empirisch anschaulichen Entwicklungsprozess unter bestimmten Bedingungen. Sobald dieser tätige Lebensprozess dargestellt wird, hört die Geschichte auf, eine Sammlung toter Fakta zu sein, wie bei den selbst noch abstrakten Empirikern … Die Schwierigkeit beginnt erst da, wo man sich an die Betrachtung des Materials …, an die wirkliche Darstellung gibt.“

Um diese Stelle ganz zu verstehen, muss man wissen – und die stalinistische Theorie hat nicht die geringste Ahnung davon, wie ein gründliches Studium ihrer Auslassungen beweist -‚ dass Marx scharf zwischen der bloß äußerlich „anschauenden“ und der verstehenden „anschaulichen“ Betrachtung unterscheidet, welch letztere seiner Ansicht der Forschung die eigentlichen Schwierigkeiten bereiten. Vom bloß „anschauenden“ Verhalten spricht Marx in den Thesen über Feuerbach und in der Deutschen Ideologie, wo er z.B. Feuerbach vorwirft, dass er bei der „bloßen Anschauung“ stehen bleibt. Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital äußert sich Marx, wiederum ohne dass die stalinistische Lehre davon Kenntnis nähme, ganz ähnlich. Auch hier unterscheidet er scharf zwischen der bloßen Erforschung des Tatsächlichen (das dann in einen äußerlichen „Zusammenhang“ zu setzen in keiner Weise genügt) und der (verstehenden) Darstellung der „wirklichen Bewegung“, des „Lebens des Stoffs“, einer Darstellung, die auch hier nach Marx beginnt, „erst nachdem“ die Vorarbeit der Sammlung, Aneignung und Ordnung des Stoffes vollbracht ist. Treffend fügt er hinzu: „Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs ideell wider, so mag es aussehen, als habe man es mit einer Konstruktion a priori zu tun.“ Aber natürlich erscheint den auf den Wogen des Tatsachenmeeres oberflächlich und selbstzufrieden dahin segelnden mechanistisch-materialistischen Fanatikern der „materialistischen Exaktheit“ jeder Versuch, die ganze Verquicktheit, Kompliziertheit und innere Bewegung der historischen Erscheinungswelt auf die ihr innewohnende Wesenheit und Wahrheit zu reduzieren, d.h. als „wirkliche“ Bewegung begreiflich zu machen, als „Konstruktion a priori“. Es ist daher kein Zufall, dass die Stalinisten die erwähnten beiden Stellen aus der Deutschen Ideologie und dem Kapital „übersehen“ haben, denn man beachtet, was man in seiner Bedeutung versteht. Dabei brauchte man sich nur den berühmten Abschnitt aus dem Kapital über den „Fetischcharakter der Waren“ oder den Achtzehnten Brumaire einigermaßen genauer anzusehen, und selbst einem Blinden müsste klar werden, was es heißt, nach dem Grundsatz des historischen Materialismus „verstehend“ oder „anschaulich“ zwischen der äußeren Erscheinungsweise und dem „wirklichen Leben des Stoffs“ zu unterscheiden.

Schon Engels hat darauf hingewiesen, z.B. in der Einleitung zu seinem Deutschen Bauernkrieg oder in seiner Kritik der sogenannten „wahren Sozialisten“, dass es nicht genügt, dem Stoff eine „revolutionäre“ oder „proletarische“ Frisur zu geben, um ihn in seinem inneren Leben zu verstehen. Es genügt auch nicht, ihn auf die entsprechenden „ökonomischen Faktoren“ zurückzuführen, denn damit ist eben nur ein äußerer Zusammenhang zwischen den gesellschaftlichen („ökonomischen“) und den übrigen Faktoren aufgewiesen, aber noch lange nicht die aus diesem Zusammenhang resultierende Wesenheit der Erscheinungen wie des ganzen Prozesses begriffen. (Es ist bedauerlich, dass es auf diesem engen Raume nicht möglich ist, die konkrete Ansicht der marxistischen Theorie auch nur skizzenhaft darzustellen.) Völlig in der Vorstellungsweise des mechanischen Materialismus befangen, teilt die stalinistische Theorie die diesem eigene Meinung, dass es zwischen der materialistischen und der idealistischen Geschichtsbetrachtung keinen anderen als wesentlich den Unterschied gebe, dass der „Zusammenhang“ der Tatsachen eine unterschiedliche Anordnung erfahre: während die historischen Idealisten das Ideelle als den Erklärungsgrund ansehen, erklären die historischen Materialisten die Erscheinungen aus dem gesellschaftlich-ökonomischen Sein. Sofern man dieser Forderung nach „revolutionärer“ Umkehrung der Standpunkte Genüge getan hat, bleibt die Erforschung der Geschichte in beiden Fällen grundsätzlich dieselbe.

Damit fällt aber die stalinistische weit hinter selbst die schlechte idealistische Geschichtsforschung zurück. Denn während die schlechte idealistische Darstellung des historischen Prozesses infolge ihrer größeren Ungeniertheit wenigstens an Vielseitigkeit und Lebendigkeit nichts zu wünschen übrig lässt, engt die vulgärmaterialistische Betrachtungsweise wegen der sie beherrschenden Sucht, alle Momente des Prozesses auf einen ökonomischen Faktor zu reduzieren, den Raum der historischen Bewegung bis zur Unwahrscheinlichkeit ein, so dass das, was hierbei zur Darstellung kommt, nur ein blasser und schablonenhafter Abklatsch des wirklichen historischen Geschehens sein kann. So behält die stalinistische Geschichtsforschung von der bürgerlichen gerade das bei, was längst veraltet ist, nämlich die Überschätzung der Quellenforschung (die als Grundlage natürlich unentbehrlich ist), den flachen Empirismus, die vulgäre Grundauffassung des „Zusammenhangs“ und die Ahnungslosigkeit hinsichtlich des wichtigen Unterschieds zwischen der „beschreibenden“ und der „erzählenden“ Geschichtsdarstellung. Am besten ist daher die stalinistische Geschichtsschreibung da, wo sie die einfachen gesellschaftlichen Beziehungen (vor allem der noch nicht genügend erforschten älteren Geschichte) und die ihnen zugehörigen übrigen Fakten in ihrer Tatsächlichkeit quellenmäßig erforscht; hierin hat sie Gutes, teilweise Bedeutendes geleistet. Am augenscheinlichsten versagt sie aus den erwähnten Gründen aber da, wo sie komplizierte historische Phänomene, z.B. ideologische und die moderne Gesellschaft betreffende, durchleuchten soll; hier zeigt sie ein geradezu karikaturhaftes Gesicht. Sie entspricht damit genau jener älteren sozialistischen Historie, der Engels vorwarf, sie bestünde darin, die Ereignisse in ein „langweiliges Register von Unfällen einzutragen“ und ihnen ein „revolutionäres“ Mäntelchen umzuhängen. Der Sache nach sind die Beziehungen zwischen „Ökonomie und Ideologie“ vielfach konstruiert und gewaltsam hergestellt, der Inhalt des historischen Geschehens ungebührlich vereinfacht, so dass sich durch den stalinistischen Geschichtsmechanismus das Wort von Marx bewahrheitet, dass „nichts langweiliger und trockener ist als der phantasierende locus communis“.

III) Marxistische und stalinistische Kunstauffassung –
Vom künstlerischen zum schablonisierten Realismus

In den vorangegangenen Abschnitten wurde darauf hingewiesen, dass die marxistische Theorie auf dem Begriff der Totalität ruht. Stellt sich aber die historische Totalität wesentlich dar als Subjekt-Objekt-Beziehung, d.h. als konkrete Bezüglichkeit von Individuellem und Allgemeinem, so kann sie je nach der vorliegenden Fragestellung in doppelter Weise betrachtet werden. Entweder das Interesse richtet sich auf das Ganze des Prozesses, das Allgemeine, in welchem das tätige und denkende Individuum zwar nicht vernachlässigt werden darf, aber doch die Erkenntnis des Ganzen dominiert – in diesem Falle haben wir es mit Wissenschaft zu tun. Oder aber das Interesse bemächtigt sich des einzelnen, auf der Ebene seines „Schicksals“ sein Leben gestaltenden Individuums, das allerdings stets im Raume der gegebenen sozialen Ganzheit agiert – die diesem Interesse angemessene geistige Form der Begegnung mit der Wirklichkeit ist die Kunst. Wie dort der rationale, so ist hier der intuitive Weg der gedanklichen Bewältigung der menschlichen Wirklichkeit kongruent, wenn auch umgekehrt Intuition dort und Ratio hier nicht ausgeschlossen sind.

Aber ungeachtet ihres entscheidenden Unterschiedes haben doch Wissenschaft und Kunst (natürlich insofern sie den Menschen zum Gegenstand haben) das Gemeinsame, dass sie stets die Totalität ihres Objekts interessiert: in der Kunst die Totalität des Individuums, in der Wissenschaft die Totalität des Historisch-Gesellschaftlichen. Gemeinsam ist ihnen ferner die Methode des Aufsuchens der dialektischen Beziehung zwischen dem Individuellen und dem Ganzen, wenngleich zum unterschiedlichen Zwecke der Aufhellung des Wesens vornehmlich des Individuellen hier, des Ganzen dort. Schließlich ist ihnen gemeinsam, dass sie die Aufhellung des Individuellen oder des Ganzen nicht vollbringen können, ohne gleichzeitig in der ihnen entsprechenden verschiedenen (eben künstlerischen oder wissenschaftlichen) Form einen Beitrag zu leisten für die Aufhellung jener Seite in der Subjekt-Objekt-Beziehung, die ihrem unmittelbaren Interesse fernliegt.

Der Kunst geht es also wesentlich um die Totalität des Individuums, genauer des individuellen Schicksals. Die Totalität des Individuums liegt aber in der umfassenden Konkretheit seiner Äußerungsformen und Beziehungen, die das seine künstlerische Durchdringung Erschwerende an sich haben, einer ständigen Bewegung und Veränderung unterworfen zu sein, sich stets in Entwicklung zu befinden, so dass es zu den Hauptaufgaben des guten literarischen oder dramatischen Werkes wird, die innere Bewegung und Entwicklung als ein wesentliches Moment des individuellen Seins überhaupt zu begreifen und künstlerisch zu gestalten. In der schlechten Kunst, z.B. der typisch stalinistischen oder der Sartreschen (hier mit wenigen Ausnahmen) wird von dieser Entwicklung weitgehend abstrahiert. Bis zu einem gewissen Grade ist diese Entwicklung zufällig. Im übrigen und wesentlichen aber drückt sie das Resultat der Begegnung der individuellen Besonderheit mit den konkreten individuellen und gesellschaftlichen Verhältnissen und der Art und Weise der Bewältigung der aus dieser Begegnung entspringenden Widersprüche, Schwierigkeiten und Probleme aus. Deshalb ist jede künstlerisch richtig begriffene Situation des Individuums gleichzeitig unaufhebbar individuell (und damit bis zu einem gewissen Grade zufällig) wie auch infolge seines Hineingestelltseins in objektive Lebensumstände, mit denen es sich auseinanderzusetzen genötigt ist, typisch. Gelingt die künstlerische Schilderung des Individuellen auf der Grundlage des Typischen, dann erst haben wir es mit echtem und begabtem „Erzählen“ zu tun, das die Tiefen menschlicher Existenz auslotet und sich vom bloßen oberflächenhaften naturalistischen oder formalistischen „Beschreiben“ grundlegend unterscheidet. Im marxistischen System erhält die wahrhaft „erzählende“ Kunst die Bezeichnung des „künstlerischen Realismus“.

Ausdrücklich erklärt zudem Marx – und Georg Lukács unterstreicht diesen Punkt der marxistischen Kunsttheorie schärfstens -‚ dass der begabte Künstler mehr oder weniger unabhängig von seiner persönlichen weltanschaulichen oder politischen Orientierung die reale Problematik menschlichen Seins zu durchdringen in der Lage ist, also, persönliche Ehrlichkeit vorausgesetzt, mit seinem künstlerischen Auge die komplizierte Bewegung der Wirklichkeit verfolgt, ohne sich von irgendwelchen vorgefassten Vorstellungen irre machen zu lassen, seien es auch seine eigenen. Diese Theorie des Marxismus ist von besonderer Bedeutung, weil sie zu erklären versucht, wieso es gerade in der Geschichte der bedeutenden Kunst und Literatur immer wieder vorgekommen ist, dass geniale Künstler in naiver Tiefsicht gerade das enthüllten und kritisch beleuchteten, was die ideologische Tendenz ihrer Zeit und ihrer Gesellschaft verdeckte, verzerrte oder glorifizierte (wenn auch bestimmte Schranken und die Art der künstlerischen Erkenntnis zeitgebunden bleiben).

Es ist bezeichnend für die stalinistische Auffassung, dass sie in allen hier allerdings nur skizzierten Hauptpunkten der marxistischen Kunsttheorie sich der Verflachung und Entstellung schuldig macht. Der Grund liegt in der vulgären Einengung des theoretischen Bewusstseins, auch sofern es sich vom Marxismus herleitet, durch die bürokratische Ideologie des Stalinismus, die ihrerseits zwar ein höchst kompliziertes Gebilde darstellt, jedoch in ihren Resultaten in klar greifbarer Ausprägung vorliegt.

Das bürokratische Bewusstsein geht notwendig an der komplizierten Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, Subjektivem und Objektivem, individueller Tätigkeit, individuellem Denken und Wollen und allgemeinem Prozess vorbei, und ganz besonders ist es unfähig, die in dem Raume zwischen dem Individuellen und dem Allgemeinen sich abspielenden zwischenindividuellen Vorgänge in ihrer Komplexheit wie Feinheit zu verstehen. Es verkennt oder übersieht die konkreten und feingesponnenen Erscheinungsformen der seelischen Prozesse, die Ausdruck der individuellen Auseinandersetzung des Menschen mit seiner Umgebung sind; es ist blind für die tragischen Schwierigkeiten und geistigen Kämpfe, die zumeist verborgen hinter dem äußeren Gehabe der Individuen liegen; es unterschätzt die Momente der individuellen Selbsttäuschung, der Missverständnisse und Irrtümer, z.B. gerade auch als Momente des Durchgangs zur Läuterung und Erhöhung des individuellen Lebens. In seiner charakteristischen Neigung zur mechanistisch-rationalistischen Vereinfachung des Geschehens verdächtigt das bürokratische Denken jeden, der nicht entschieden genug auf seinem Boden steht. In der stalinistisch bürokratisierten Kunst äußert sich das z.B. darin, dass in mechanischer Weise zwischen den guten und bösen Individuen geschieden wird und sich hier der Kampf zwischen den beiden Lagern zu einem starren und lebensfremden Puppenspiel verengt. Weil das bürokratische Bewusstsein das Individuum und seine Probleme nicht wahrhaft zu begreifen vermag, dichtet es ihm eine geistige und seelische Entwicklung an, die sich schablonenhaft nach einer vorgefassten Anschauung richtet. Daher vereinfacht und schematisiert z.B. die typische stalinistische Literatur die vom Stalinismus als so sehr wichtig herausgestellte „Entwicklung zum Klassenbewusstsein“, indem sie diese Entwicklung zu einer unkompliziert verlaufenden Linie deformiert, deren Ziel als ein mehr oder weniger mechanisches Resultat einer „naturnotwendigen Gesetzlichkeit“ erscheint.

Die Entleerung des „schicksalhaften“ menschlichen Lebens zur Schablone ist unvereinbar mit der grundsätzlich optimistischen Auffassung, die sich der Marxismus hinsichtlich des Menschen, seiner Entwicklung und seiner Geschichte macht. Der Optimismus resultiert gerade aus der Beachtung und aus dem Verständnis der tiefen und komplizierten Widersprüche im menschlichen Leben, aus der Erkenntnis des aus diesen Widersprüchen erfließenden Dranges nach ihrer Lösung auf immer höheren Stufen menschlichen Seins (allerdings in Verbindung mit bestimmten anthropologischen Grundeinsichten, die an diesem Orte nicht weiter behandelt werden können). Wo die Kunst die widerspruchsvollen Probleme menschlichen Seins zu einem allzu durchsichtigen Aufguss verdünnt, da unterliegt sie leicht der scheinhaften „Faktizität“ dieses Seins, d.h. dem verzerrten und düsteren Bilde vom Menschen, wie es jede Zeit in ihrer Art an der Oberfläche ihres Geschehens spiegelt. Eine solche Kunst, und ganz besonders da, wo sie unter dem pessimistisch-bürokratischen Einfluss steht, zeigt einen grundsätzlich pessimistischen Zug. Nun kann es aber geschehen, dass ungeachtet der herrschenden und der Literatur „von oben“ aufgezwungenen bürokratischen Denkweise der Pessimismus aus Gründen, die im Politischen liegen, künstlich überdeckt wird durch die Forderung, die Verhältnisse in einer optimistischen Stimmung zu schildern und den Optimismus im Volke zu züchten. Dass hierbei kein echter, sondern nur ein verfälschter und karikierter Optimismus zustande kommen kann, selbst wenn die Literatur sich in seinen Dienst stellt, ist klar. Der Widerspruch, der sich in der stalinistischen Literatur deutlich zeigt, besteht in folgendem: Einerseits wird die optimistische und gläubige Stimmung hinsichtlich der allgemeinen, großen Linie der Entwicklung, d.h. da, wo sich das bürokratische Denken um die grundsätzlichen und abstrakten gesellschaftlichen Fragen dreht, bis zu einem blinden, die wirklichen Probleme und Schwierigkeiten nicht mehr erkennenden und daher leeren optimistischen Fanatismus gesteigert; andererseits setzt sich aber hinsichtlich der zahlreichen konkreten Einzelfragen des täglichen Lebens eine bedrückende Unsicherheit und Ungewissheit, eine eigenartige mechanistisch-düstere Furcht durch, die ihre künstlerische Inkarnation in den zahlreichen Agenten, Volksfeinden, Trotzkisten und Ideologen der Bourgeoisie findet, was aber nichts anderes manifestiert als den unüberwundenen tiefsitzenden Pessimismus bürokratischer Prägung.

Innerhalb einer solchen vulgären, auf den Schwächen des bürokratischen Denkens beruhenden Widersprüchlichkeit kann der proklamierte Optimismus sich nur halten, wenn er sein realistisches Kleid abwirft und sich einer romantischen Ekstase ergibt. Es ist daher kein Zufall, dass gerade im Herrschaftsbereiche des Stalinismus eine Kunsttheorie von hysterisch unterstrichener optimistischer Prägung entstand, die sich selbst „romantischer Realismus“ nennt. Der „Realismus“ in diesem romantischen Gebilde ist ein bloßes marxistisches Residuum, eine phonetische Erinnerung an die marxistische Auffassung.

Die romantische Literatur Europas hatte in ihren besten Strömungen stark dialektisch-realistische Züge. Die stalinistische Literatur übernimmt aber nur ihre negativen Seiten. Zunächst ist zu erwähnen der Hang zur stilistischen Aufbauschung bestimmter und zwar gerade unwesentlicher Seiten des Lebens, wodurch dieses Leben wie durch eine Traumbrille gesehen wird. In den seit den vierziger Jahren gedrehten sowjetischen Filmen ist der falsch schillernde Mondenschein, der über der Kolchose liegt und dem Leben einen schalen und romantisch verlogenen Glanz gibt, eine Selbstverständlichkeit geworden. Das Romantische in der stalinistischen Kunstauffassung des „romantischen Realismus“ erschöpft sich in der zweckgerichteten Verklärung der Probleme des Lebens. Ein Stalinist wäre geneigt, die Notwendigkeit eines solchen Missbrauchs der Kunst zu entschuldigen mit der Notwendigkeit der Beeinflussung des Volkes und seiner Anfeuerung im Übergangszustand zum vollendeten Sozialismus. Aber er irrt. Eine solche „Kunst“, bemerkt Lukács in kritischer Absicht gegen die östliche Literatur, spricht niemanden an, bestenfalls nur denjenigen, der ohnehin schon „gewonnen“ und in seinem Bewusstsein bürokratisiert ist, stößt andererseits alle jene ab, die nur teilweise oder gar nicht von der Richtigkeit der vertretenen Ideen überzeugt sind:

„Es ist ein heute noch nicht überwundenes Gebrechen unserer politischen und propagandistischen Belletristik, dass sie – gemäß ihrem künstlerischen Wesen – einen beschränkten Wirkungskreis hat … Da sie die propagierte Wahrheit als fertiges Resultat darbietet, aber nicht aus Menschenschicksalen vor dem Leser entstehen lässt, packt sie den von vornherein nicht Überzeugten nirgends, ja sie stößt ihn oft geradezu ab.“ (Georg Lukács „Volkstribun und Bürokrat“, neuerdings abgedruckt in Marx und Engels als Literaturhistoriker, 1948, S.242.)

Nun könnte es scheinen, als ob die Oberflächlichkeit und Unzulänglichkeit des Romantizismus in der stalinistischen Kunst und Kunsttheorie einigermaßen ausgeglichen würde durch einen gediegenen Realismus marxistisch-dialektischer Prägung, wie die Bezeichnung „romantischer Realismus“ erwarten lässt. Aber nichts davon ist zu verspüren. Alle Züge einer naturalistischen Philosophie und einer positivistischen Geschichtsauffassung finden sich im „romantischen Realismus“ wieder. Deshalb tritt auch hier wiederum die sensualistische Spiegelungsthese auf, durch die das Moment der bewussten Aktivität und der Bewusstseinsbildung erheblich in die Situation der Passivität gegenüber einem Komplex objektiver Abläufe und Zusammenhänge gedrängt wird. Der ständige Aufruf zur tätigen und ideologischen Aktivität soll nur das „naturnotwendig“ Prozesshafte unterstützen, womit die in allem echten künstlerischen Realismus sichtbare Selbstverwirklichung des lebendigen Geschehens als Objektives und Typisches hier nicht als Resultat kompliziert handelnder, denkender und fühlender Individuen sich ergibt, sondern als vorgefasste und mechanisch gesetzte „Lösung“. Deshalb wird in so auffallend vielen Werken der russischen Literatur die „Lösung“ „gegeben“, d.h. dem Ganzen aufgepfropft und dementsprechend das Werk so gestaltet, dass diese Lösung von der ersten Seite an eindeutig feststeht. Es ist nicht etwa ein bloßer Irrtum der staatlichen Instanzen und der stalinistischen Kunsttheoretiker, die immer wieder fordern, der Schriftsteller möge seine Gestalten eindeutig im Sinne der sozialistischen Zielsetzung formen, d.h. diese Instanzen und Theoretiker befinden sich nicht etwa nur in einem zufälligen Gegensatz zu den Anforderungen einer bedeutenden Literatur, sondern umgekehrt ist die bürokratisierte Literatur Russlands aufgrund der akzeptierten falschen Theorie nicht mehr in der Lage, sich von der bürokratischen Auffassung des Lebens zu lösen. Die Lehre, dass der Künstler sein Werk in den Dienst einer stets sichtbar zu machenden „Lösung“ oder „Tendenz“ stellen soll, ist gefährlich für die Literatur. Engels hat darauf hingewiesen:

„Aber ich meine, die Tendenz muss aus der Situation und Handlung selbst hervorspringen, ohne dass ausdrücklich darauf hingewiesen wird und der Dichter ist nicht genötigt, die geschichtliche zukünftige Lösung der gesellschaftlichen Konflikte, die er schildert, dem Leser in die Hand zu geben … und da erfüllt auch der sozialistische Tendenzroman, nach meiner Ansicht vollständig seinen Beruf, wenn er … (sich seiner Aufgabe widmet), ohne eine Lösung zu bieten, ja, ohne selbst ostensibel Partei zu ergreifen.“

Schon in der alten Romantik kam ein flacher „Realismus“ dadurch zum Vorschein, dass das Individuum als „passives Sprachrohr des Zeitgeistes“ (Marx) erschien und daher als wirkliche Individualität künstlerisch nur verzerrt gestaltet werden konnte. Ähnlich vermag auch der „romantische Realist“ das tätige Individuum nur als ein solches passives Sprachrohr einer – hier allerdings nicht idealistisch, sondern vulgärmaterialistisch begriffenen – überindividuellen Gewalt aufzufassen. D.h. er ist durch die Logik seiner falschen Voraussetzungen gezwungen, sie ihrer komplizierten Lebensfülle zu entkleiden, zu schablonisieren und zu mechanisieren. Marx hat an Lassalles Sickingen-Drama den Fehler herausgestellt, dass hier die Aktivität der Figuren zugunsten eines mehr oder weniger sich automatisch durchsetzenden historischen Prozesses herabgemindert wird. In der stalinistischen Literatur steigert sich dieser Fehler ins Maßlose. Die Verzerrungen sowohl der Romantik wie des mechanischen Materialismus haben also die gleiche Wurzel: die Missachtung der lebendigen Fülle individueller Beziehungen. Romantik und Mechanismus sind Zwillingsgeschwister, wenngleich feindliche. Sie versöhnen sich, wenn sie wegen ihrer Einseitigkeit einander bedürfen, um sich zu ergänzen, wie der „romantische Realismus“ zeigt.

Gewiss bleibt zwischen beiden Richtungen stets ein erheblicher Unterschied bestehen. Die Romantik kann niemals dem Naturalismus unterliegen; eher schon neigt sie zu Formalismus und phantastischer Mystik. Der literarische Vulgär“realismus“ dagegen gerät trotz seiner fortwährenden verbalen Verleugnungen in die Fußstapfen des Naturalismus, der sich im augenscheinlich Gegebenen, im Gestrüpp der Oberfläche verliert, in der Meinung, mit deren Festhalten die Wirklichkeit ergriffen zu haben. Deshalb kann man bei der Beschäftigung mit der stalinistischen Kunstauffassung immer wieder erfahren, dass deren Vertreter stets gerade das in den Aussagen von Marx und Engels unterstreichen, was (aus dem Zusammenhang genommen) den naturalistischen Tendenzen entgegenkommt. Wenn z.B. Engels in einer seiner wichtigsten Aussagen forderte, dass der Künstler die Einzelheiten genau wiederzugeben habe, so macht er sich einer gewissen Übertreibung schuldig, wenngleich es richtig ist, vom Künstler zu fordern, dass er die Wirklichkeit, der er sein Thema oder seine Fabel entnimmt, möglichst genau, d.h. bis in alle Einzelheiten kennen muss. Nicht ohne Grund waren Balzac, Tolstoi oder Goethe ausgezeichnete Kenner aller, auch der nebensächlichsten Gegebenheiten, Fakten und Dinge, die in Berührung mit den von ihnen geschilderten Menschen standen. Aber während der Naturalist diese Dinge nur in ihrem „Eigenwert begreift (z.B. Bäume, Pferde, Wohnzimmer mit den Einrichtungsgegenständen usw.), daher unter ihnen willkürlich auswählt, erkennt sie der Realist in ihrer Bedeutung für den Menschen, verwebt sie mit dem menschlichen Schicksal zur Einheit und drückt durch eine gerade nicht naturalistische, sondern eben künstlerisch gestaltende Schilderung ihrer Eigenart Menschlich-Schicksalhaftes aus. Gerade das hat die typisch stalinistische Kunst und Theorie nicht begriffen, weshalb sie sich infolge ihrer wesentlich mechanistischen und deshalb naturalistischen Orientierung auf den erwähnten Ausspruch von Engels stürzt, dass die künstlerische Schilderung bis in alle Einzelheiten genau zu sein habe. (Man muss nur einen Blick auf die heutige Malerei des Ostens werfen, um bestätigt zu finden, wie sehr die Kunst hier dem flachen, bestenfalls klassizistisch verbrämten Naturalismus unterlegen ist.)

Am schlimmsten spielt aber dem Bürokratismus in der stalinistischen Kunst die Neigung von Marx und Engels mit, sich für die großen Poeten der Vergangenheit und ihrer Zeit ohne Rücksicht auf ihre sonstige „reaktionäre“ Überzeugung zu begeistern, wobei nicht selten Dichter mit ausgesprochen sozialistischer Gesinnung verworfen werden (z.B. Zola). Marx geht sogar so weit, eine hohe Unabhängigkeit der tatsächlichen Einsichten in der großen Kunst von der persönlichen weltanschaulichen und politischen Meinung der Dichter zu behaupten. Er hat sich deshalb nicht etwa solche Schriftsteller zu seinen Lieblingen erwählt, die in ihrer sozialen und politischen Gesinnung prinzipielle Revolutionäre waren oder ihm weltanschaulich nahestanden. So waren bemerkenswerterweise die von ihm am meisten vorgezogenen Dichter der adelig gesinnte Balzac und der konservative Monarchist Shakespeare (der z.B. den revolutionären Bauernführer Jack Cade nur auftreten lässt, um ihn zu verhöhnen). Paul Lafargue und Wilhelm Liebknecht kannten Marx persönlich und schildern seine literarischen Neigungen folgendermaßen:

„Marx besaß eine unvergleichlich reiche poetische Phantasie; seine literarischen Erstlingswerke waren Poesien … Heine und Goethe, die er oft im Gespräch zitierte, wusste er auswendig; er las stets Dichter, die er aus allen europäischen Literaturen wählte; jedes Jahr las er Äschylos im Urtext; ihn und Shakespeare verehrte er als die beiden größten dramatischen Genies, die die Menschheit hervorgebracht. An die Spitze alle Romanciers stellte er Cervantes und Balzac … Marx las auch Russisch – er schätzte besonders Puschkin, Gogol und Schtschedrin …“

„Er deklamierte lange Passagen aus der Divina Commedia Dantes, die er fast auswendig konnte, und Szenen aus Shakespeare, wobei seine Frau, auch eine vorzügliche Shakespeare-Kennerin, ihn oft ablöste … Faust war sein deutsches Lieblingsgedicht … In Goethe, Lessing, Shakespeare, Dante, Cervantes, in denen er fast täglich las, hatte er sich die höchsten Meister erwählt.“

In welcher Weise nimmt die stalinistische Kunsttheorie zu dieser Haltung von „Marx Stellung? In einer vulgärmaterialistisch verfälschenden Weise. Man sehe sich z.B. folgende Stelle aus der jüngst erschienenen deutschen Übersetzung der Sammlung von Aufsätzen russischer Autoren (Beiträge zum sozialistischen Realismus, Berlin 1953, S.143), die – nebenbei gesagt – nur so von Leere und Phrasen gähnt und in welcher jede Seite unsere Kritik bestätigt:

„Man kann den Ideengehalt eines Werkes und die subjektiven Anschauungen seines Schöpfers nicht immer gleichsetzen.“

Wie vorsichtig, ja fast bis zur Verkehrung des Marxschen Standpunkts, ist hier formuliert. Aber weiter: „Aber andererseits ist es prinzipiell falsch, sie (den Gehalt des Werkes und die subjektive Anschauung) voneinander zu trennen. Der Künstler schafft bewusst, d.h. … er trägt seine Einstellung zu der Gesellschaft, in der er lebt und schafft, in sein Werk hinein. Es gibt keine Künstler ohne Weltanschauung, Weltdeutung, und die Deutung der Welt durch den Künstler wird immer von seiner Stellung im gesellschaftlichen Leben bestimmt.“

Kein Wort davon, dass nach marxistischer Auffassung der bedeutende Künstler der ganzen ihn umgebenden Realität begegnet und sich mit ihr deshalb in einer von seinen subjektiven Überzeugungen relativ unabhängigen Weise auseinandersetzen muss. Das Gegenteil davon wäre die künstlerische Formung der Wirklichkeit nach subjektiven Gesichtspunkten, was für die großen Dichter nicht zutrifft. Die zitierte Formulierung ist nichts als die unzulängliche Rechtfertigung des zweckbestimmten und daher inhaltlich bürokratisierten Naturalismus, auf dessen Niveau der größte Teil der russischen Literatur und Kunst herabgesunken ist.

IV) Marxistische und stalinistische Ethik – Ethischer Humanismus und inhumaner Ethizismus

1. Wie stets, wenn eine Gegenüberstellung zwischen der marxistischen und einer ihr widersprechenden oder ihr entgegengesetzten Auffassung beabsichtigt ist, stellt sich, wie die Sachlage heute nun einmal ist, die umständliche Notwendigkeit ein, vorerst das klarzustellen, was der Marxismus selbst sagt und meint. Denn was er sagt und meint ist in unseren Tagen nicht nur vielfach ausgedeutet, so dass sich schwerlich eine allgemein anerkannte Norm finden lässt, sondern überdies von den sozialen, politischen und egoistischen Interessen so sehr missdeutet, dass die Verfälschung erst nachgewiesen werden muss, bevor man von der Sache selbst zu reden beginnt.

Eines scheint von den Parteien pro und contra unbestritten: Eine marxistische Ethik im Sinne eines theoretischen Systems gibt es nicht. Und dem muss man aufs erste zustimmen. Denn sofern theoretische Ethik sich zum Ziele setzt, die Grundsätze individuellen Verhaltens auf das als sittlich erlebte Sollen hin in ihrer allgemeinen und d.h. auch überhistorischen Geltung aufzuhellen, trennt sie – wenigstens in der Ausgangsbasis, um bestenfalls erst nachträglich die beiden Pole zueinander zu bringen – das Sollen (das Normative) vom Sein (dem „Kausalen“ oder „Gesetzlichen“). Diese Trennung widerspricht aber der marxistischen Idee von der „Einheit“ des Seins, genauer der dialektischen Identität des Entgegengesetzten, die eine Trennung von Sein und Sollen nicht zulässt.

Diese Negation der Ethik als eines besonderen Systems ist aber nur eine solche der Theorie oder – was hier dasselbe bedeutet – eine Negation der traditionellen individualistischen und damit idealistischen Ethik. (Idealistisch heißt hier so viel wie vom Gesamtbereich des Seins abstrahierend.) Als individualistisch und damit höchst einseitig erweist sich diese Ethik vor allem innerhalb des denkmöglichen als auch philosophiegeschichtlich wirklich vorhandenen Gegensatzes zwischen dem subjektiven (zum Beispiel Kant und Fichte) und dem objektiven (vor allem Schelling und Hegel) Standpunkt. Die Scheidung der philosophischen Richtungen nach subjektivem und objektivem Idealismus, in welch letzterem der dialektische Materialismus der marxistischen Soziologie wurzelt, sollte weitaus mehr beachtet werden, als dies tatsächlich geschieht.

Was ist, in wenigen Worten, der Unterschied zwischen dem subjektiven und objektiven Standpunkt? Auf die komplizierte Erkenntnistheorie der objektiven oder dialektischen Philosophie können wir uns hier nicht einlassen. Es sei nur hervorgehoben, dass sie im Gegensatz zu der subjektiven Philosophie das Bewusstsein im Sein wurzeln und dieses aus diesem Grunde durch jenes (wenn auch nicht ohne komplizierte Umwege) „an sich“ erkennbar sein lässt. Doch interessiert uns an diesem Ort mehr der Unterschied hinsichtlich der ethischen Problematik. Kurz gesagt besteht er in folgendem: Während für die subjektive Philosophie das Bewusstsein sich in verschiedene voneinander unabhängige Stufen seiner Aktivität, so vor allem in die Stufen der kausalen Bedingtheit und des freien ethischen Verhaltens zerlegen lässt, unterstreicht die objektive Philosophie ihren dialektischen Zusammenhang. Der junge Hegel hat hierin in kritischer Opposition gegen Kant Bedeutendes geleistet. Daraus ergibt sich der weitere Gegensatz zwischen formalistischer oder abstrakter und sachlicher oder konkreter Ethik. Auf dem Boden der letzteren steht Marx. Nur der Gegensatz zur fast allgemein herrschenden subjektivistischen Ethik, deren abstrakte ethische Grundsätze er als „leere Allgemeinheiten“ und „Gemeinplätze“ klassifizierte, hat Marx bewogen, die Ethik als selbständiges theoretisches Gebilde zu verneinen. Aber sie ist trotzdem im Marxschen System da, immanent enthalten, ja noch mehr, sie durchzieht das ganze marxistische Denkgebäude und verleiht ihm jenen ethischen Glanz, der nach einer kürzlich gefallenen Äußerung eines evangelischen Theologen dem Marxismus eine „Durchschlagskraft“ gibt, die den einen Bewunderung entlockt, den anderen Furcht einflößt.

Die sogenannten „ethischen Sozialisten“, die dem Marxismus, ohne ihn anders als in der mechanistisch-stalinistisch missdeuteten Weise „begriffen“ zu haben, mit großer Reserve begegnen, erklären die im Marxismus enthaltene Ethik aus dem Zwang zur ethischen Entscheidung für jeden kämpfenden Geist, so auch für Marx, der genau dieselben, dem Bewusstsein eigenen und a priori mitgegebenen formalen Kategorien ethischer Natur (wie das Gerechte, das Wahre, das Gute usw.) zum Maßstab seines Tuns erhob, wie sie für jedes menschliche Verhalten Geltung haben. Indem sie aber diese Kategorien als schlechthin dem Bewusstsein gegeben und nicht weiter erklärbar erklären, erklären sie überhaupt nichts. Sie übersehen, dass diese Kategorien bloße Abstraktionen sind, gewonnen aus der gewohnheitsmäßigen Verallgemeinerung wirklichen Geschehens und Urteilens zum Zwecke ihrer für das menschliche Denken unvermeidlichen Festlegung in Wort und Begriff. Gerade Marx‘ Leistung besteht hinsichtlich der sozialistischen Ethik darin, ihr eine reale historisch-soziologische Grundlage gegeben zu haben. Diese Grundlage finden wir im marxistischen System in der Theorie des Humanismus.

2. Zunächst: Die im marxistischen System immanent vorhandene objektivistische Ethik lehrt, dass der im geschichtlichen und sozialen Raum agierende und zur ständigen Entscheidung gedrängte Mensch innerhalb seiner ideellen Seinsweise sittliche Normen aufstellen muss‚ soll Handeln für ihn überhaupt möglich und sinnvoll werden. Die eigentliche Schwierigkeit liegt nicht darin, dies einzusehen, sondern darin, die objektiv geltenden sittlichen und humanistischen Normen zu erkennen und wissenschaftlich herauszuarbeiten, denen das menschliche Geschlecht bewusst oder unbewusst folgt, wobei die einzelnen Individuen ihnen aus diesen oder jenen Gründen folgen oder widersprechen mögen und der tatsächliche, höchst widerspruchsvolle Gang der Geschichte durchaus keine geradlinige Befolgung dieser Normen darstellt. Hier erweist es sich, dass marxistische Ethik und marxistischer Humanismus ein und dasselbe sind.

Echter Humanismus begründet sich immer auf positiver Ethik, die den Menschen in seiner Ganzheit, d.h. in seiner anthropologischen Anlage, seiner daraus entspringenden Fähigkeit zur Weiterentwicklung auf der Grundlage der ständigen, wenn auch von Rückfällen, Zusammenbrüchen und Barbareien (die durchaus ihren historischen Grund haben) unterbrochenen Höherentwicklung der Gesellschaft, sieht. Innerhalb einer solchen Sicht wird auch die Fähigkeit zur Sittlichkeit und zur Versittlichung der Gesellschaft kompromisslos bejaht. Gleichsam als Mittelpunkt der Marxschen Anthropologie gibt sich seine Lehre von der „Selbstverwirklichung des Menschen“ zu erkennen. Ihre Bedeutung liegt in ihrem humanistischen Optimismus. Sie besagt folgendes: Es ist dem mit Bewusstsein begabten Menschen angemessen, nicht nur wie das Tier nach einfacher Erhaltung des Lebens zu streben, sondern die in der Tatsache der Bewusstseinsbegabtheit begründete Anlage zu einer stets fortschreitenden (wenn auch niemals „endlich“ zu erreichenden) gesellschaftlichen wie individuellen Weiter- und Höherentwicklung zur Triebkraft des geschichtlichen Prozesses zu machen. Schon in dem einfachsten Vollzug der menschlichen „Arbeit“ zeigt sich diese Grundanlage; der Mensch verändert nicht nur die Gegenstände, sondern, indem er seine Fähigkeiten entwickelt und in der Arbeit die Beziehung zum Mitmenschen ständig umwälzt, sich selbst, und seine Genialität ist sowohl individuelle als auch die der Gattung, an der er in dieser oder jener Form teilhat, auch wenn er „persönlich“ nicht genial sein sollte.

Das bewusstseinslose Tier hat nur „Entwicklung“. Der Mensch vollzieht aber „Geschichte“ im Bewusstsein seiner selbst und im Streben, alle in ihm angelegten Möglichkeiten Wirklichkeit werden zu lassen, sich „selbst zu verwirklichen“. Trotz aller Komplikationen, die gerade Marx genauestens beachtet hat, erscheint ihm die Geschichte als eine Stufenfolge von immer höheren Stufen der Freiheit oder – was dasselbe bedeutet – der Selbstverwirklichung des Menschen als sittlichem und geistigem Wesen. Die im Widerspruch auftretenden negativen Momente sind primär Entäußerung, Entfremdung und Verdinglichung mit allen ihren konkreten Äußerungsformen in den verschiedenen Epochen der Klassengesellschaft. Das von Marx gezeichnete optimistische Geschichtsbild bietet die vollkommen zureichende Grundlage für die Beurteilung der einzelnen Momente, Handlungen und Meinungen als in Übereinstimmung mit oder in Gegensatz zu den historisch sich verwirklichenden Tendenzen der „menschlichen Selbstverwirklichung“, d.h. für die Beurteilung dessen, ob etwas ethisch oder unethisch ist. Es genügt, im historischen Recht zu sein, auf der Linie des historischen Fortschritts zu stehen, um auch die ethische Rechtfertigung auf seiner Seite zu haben; dass das Urteil hierüber nicht eindeutig zu fällen ist im Streite der Parteien, besagt nicht viel; die nachfolgenden Generationen konnten sehr genau beurteilen, ob z.B. der Kampf für die Aufhebung der Sklaverei sittlich oder unsittlich war.

3. Der Stalinismus befindet sich in der tragischen und, sofern von ihm selbst verschuldet, grotesken Situation, von der Geschichte auf die Linie der fortschrittlichen Entwicklung gedrängt worden zu sein und gleichzeitig ihr heillos zu widersprechen. Die Folge davon kann nur sein, dass er den ethischen Humanismus der Marxschen Lehre im Bereiche der Theorie verfälscht und im Bereiche der Praxis fallen lässt. Aber tatsächlich ist es auf keinem Gebiet schwerer, den Stalinismus einer nicht bloß aus einem bürgerlichen Ressentiment fließenden, sondern objektiven soziologischen Kritik zu unterziehen, als auf dem Gebiet der Ethik. Denn hier verhält sich der Stalinismus am abstraktesten. Diese Abstraktheit ist nicht die der subtilen Theorie, sondern des verbal vollständigen Bekenntnisses zum marxistischen Standpunkt bei ebenso vollständiger Umgehung dieses Standpunkts. Das ständige Zitieren des Marxschen Textes ist genau dazu angetan, seine wirkliche Bedeutung zu verhüllen und unverstehbar zu machen; das Resultat ist die leere Deklamation unter Vortäuschung der genauesten Anlehnung an den Marxschen Gedanken. Und das ist gerade das, was der Stalinismus braucht, um seine unethische und unhumanistische Praxis als gerechtfertigt erscheinen zu lassen.

Man muss sich deshalb schon die Mühe machen, mit Hilfe einer gründlichen und unbefangenen Analyse den eigentlichen Gehalt des stalinistischen Ethizismus, jenes eigenartigen Systems der Verflechtung von überspannter Moralität und abgrundtiefer Unmoral, das in Russland herrscht, herauszuschälen. Das ist um so schwieriger, als viele nur das hören wollen, was ihnen aus propagandistischen oder politischen Gründen gefällt.

Würden wir das Problem der stalinistischen Ethik subjektivistisch fassen, d.h. unter dem Gesichtspunkt der Beurteilung der subjektiven Moral der stalinistischen Funktionärsschaft oder Bürokratie, dann würden wir aus einem doppelten Grunde an der eigentlichen Frage vorbeigehen: einmal, weil die wirklich verantwortlichen oberen Schichten dieser Bürokratie durchaus nicht unmoralischer sind als anderswo, ja, wie wir bald sehen werden, sogar einen eigenartigen Zug ins Hypermoralische zeigen, der ihnen vielfach als Rechtfertigung ihrer rücksichtslosen Beanspruchung des Menschen dient; zum anderen, weil es sich hier gar nicht um die individuelle, sondern um eine vom Staate her geforderte und anerzogene, zum System -verhärtete Moralanschauung handelt, die ihrerseits objektive historisch-soziologische Gründe hat. Von daher stammt auch die eigenartige Einheitlichkeit und Uniformiertheit des stalinistischen Moralkodex, weitgehend vergleichbar der Ethik der einstigen preussischen Bürokratie, die sich ebenfalls auszeichnete durch das widerspruchsvolle Zusammengehen von unmenschlicher Brutalität und objektivistischer Pflichtethik und die – wie die stalinistische in einem formalistischen und daher wesentlich unmarxistischen Humanismus – in einer formalistisch-mystischen pietistischen Religiösität ihre Rechtfertigung fand.

Diese Widersprüchlichkeit gilt es nun zu erklären, denn damit erklärt sich auch das verborgene Wesen des stalinistischen Ethizismus. Es wird sich herausstellen, dass die formalistisch-bürokratische Sicht so sehr die faktischen Inhalte des marxistischen Menschenbildes und damit der marxistischen Ethik übertönt, dass alle Wege geöffnet werden für eine unmenschliche und damit unethische Praxis. Hierzu muss etwas ausgeholt werden.

4. Planwirtschaft ist in den verschiedensten politischen Formen möglich, demokratischen und nichtdemokratischen, wie auch Kapitalismus bekanntlich in verschiedenen Formen auftreten kann. Es besteht ein grundlegender Unterschied, ob in einem industriell zurückgebliebenen oder in einem entwickelten Lande Planwirtschaft durchgeführt wird: dort ist die Nachfrage stets größer als das Angebot, hier umgekehrt, was zur Folge hat, dass dort die Bürokratie (der „Staat“) von oben her die Konsumgüter verteilt, hier aber freie Konsumwahl (wie im Kapitalismus) auf dem Markte besteht, nach der sich der Plan zu richten hat. Doch nicht von diesem Problem soll hier die Rede sein, sondern davon, dass im zurückgebliebenen Russland ebenso infolge des Mangels an Konsumgütern als auch infolge der völlig fehlenden demokratischen Tradition die Bürokratie sich unter der Führung der stalinistischen Fraktion aller Kommandostellen in Wirtschaft und öffentlichem Leben bemächtigen konnte. Und an diesem Punkte der Entwicklung trat etwas auf, was den eigentlichen Ansatzpunkt für die Analyse der stalinistischen Ethik bildet, nämlich die unendliche Verstärkung des bürokratischen Formalismus. Ist Bürokratismus, ganz besonders neuzeitlicher, immer wesenhaft Formalismus – d.h. von der Tendenz beherrscht, das einzelne Individuum als von individuellen Zügen entleertes Objekt eines Systems von Gesetzen, Urteilen und Maßregeln anzusehen -‚ so steigert sich naturgemäß dieser Formalismus noch weiter, wo unter zurückgebliebenen Verhältnissen auch noch der Plan sich des Menschen bemächtigt.

Es sei hier (leider ohne die Möglichkeit einer Begründung) gerade das energisch unterstrichen, was eine kurzschlüssige, aus bestimmten ideologischen Interessen fließende Ansicht nicht wahr haben will: nicht der Plan an sich enthält diese Tendenzen, sondern nur der Plan unter wirtschaftlich und gesellschaftlich zurückgebliebenen Verhältnissen! Wo das Volk trotz Produktionsplan, der sich in industriell hochentwickelten Ländern nur nach der Bewegung des Marktes richtet, in demokratischer Weise über freie Konsumwahl verfügt und überdies das weitgehende Recht der demokratischen Kontrolle (Wahl, Parlament, Versammlung, Presse und last not least Kontrollrecht und Mitbestimmung in den Arbeitsstätten) besitzt – und um es zu besitzen, muss es sich diese Demokratie gegen die Bürokratie erobern und durch Gewöhnung an sie lebendig erhalten -, ist die Gefahr der Bürokratisierung und damit Enthumanisierung des gesamten Lebens gering. Das bedeutet, dass unter demokratischen Lebensbedingungen der formalistische Technizismus des Planes die Bedeutung eines gewöhnlichen Rechenexempels im Dienste der Abstimmung der verschiedenen ökonomischen Gebiete aufeinander behält und nicht mehr.

Aber gerade in Russland, wo unter der Voraussetzung der mangelnden demokratischen Tradition und des Fehlens einer entwickelten Industrie sich die bürokratische Selbstherrlichkeit mit der Sucht verband, ohne Rücksicht auf den Menschen zu akkumulieren – vgl. die ähnlich verlaufende industrielle Frühzeit des Kapitalismus -‚ konnte die typisch stalinistische Bürokratie entstehen. Es entstand der „Stalinismus“, in dessen Schoß alle typischen bürokratischen Erscheinungen – von der unmenschlich-formalistischen Handhabung der „Aufgaben“ über die mechanistischen und vulgären Entstellungen der marxistischen Theorie bis zum entindividualisierenden und entmoralisierenden Autoritätsglauben – zur Entwicklung gelangten.

Unmenschlicher bürokratischer Formalismus negiert aber zwangsläufig den ethischen Humanismus, der die Frage des Menschen jener der Sache überordnet. Es wäre vom Standpunkt des Historikers, der sich an manche Untaten des homo politicus gewöhnt hat, vielleicht noch erträglich erschienen, wenn der Stalinismus sich entschlossen hätte, wenigstens seit den dreißiger Jahren und der neuen verbesserten Verfassung von 1936, deren demokratische Versprechungen niemals durchgeführt wurden, eine Umkehr zu vollziehen. Aber die inzwischen vollendete und nur durch das Volk selbst und seine Intellektuellen rückgängig zu machende Verbürokratisierung des gesamten gesellschaftlichen Lebens der Sowjetunion hat diese Umkehr aus eigenem nicht mehr gestattet. Ist aber gleichzeitig die herrschende Bürokratie eben keine kapitalistische, sondern Exponent veränderter, nämlich – wenigstens formal – sozialistischer Verhältnisse, kann sie sich auf der anderen Seite nicht jenem Bewusstsein sozialistischer Verantwortung entziehen, das aus dem Bekenntnis zum sozialistischen Humanismus des Marxismus fließt. Daraus entsteht aber der so viele Beobachter verwirrende Widerspruch zwischen einer bei gewissenhafter Beurteilung nicht zu verleugnenden Hyperethisierung von Denken und Praxis einerseits und der ständigen Degradation dieser Haltung in jedem Augenblick wirklichen Vollzugs.

5. Es stellt sich hier die Frage, wie ein solcher Widerspruch überhaupt möglich, in dem hier gemeinten Sinn überhaupt von Dauer sein kann. Die Antwort liegt in dem Verständnis dafür, dass die stalinistische Bürokratie ihre Ethik ebenso formalisiert wie ihr Denken überhaupt. Und damit entfernt sie sich am sichtbarsten vom Marxismus. Alle humanistischen und ethischen Aussagen des Marxismus erhalten hier das Aussehen und den Wert von unverbindlichen Präambeln oder wirklichkeitsfremden Liturgien, die überdies den – vom Standpunkt der Bürokratie – großen Vorzug haben, das ständig unmenschliche Handeln mit einem Glorienschein ethischer Gesinnung zu umgeben, d.h. zu verschleiern.

Das interessanteste Phänomen hierbei ist aber wohl folgendes: Um den Menschen, mit dem sie es zu tun hat, den Normen und Anforderungen der bürokratischen Ordnung zu unterwerfen, gerät die Bürokratie stets in Konflikt mit den vielfältigen Bedürfnissen dieses Menschen, so dass sie ihm feindlich und damit auch höchst kritisch begegnet, was sich in einer ununterbrochenen und unverschämten Nörgelei und Kritik – „Kritik und Selbstkritik“ – äußert. Aber diese Kritik ist nur eine scheinbare, eine selbstbetrügerische. Denn strebt echte humanistische Kritik auf echte Veränderung des Menschen im Sinne seiner Erhöhung und Entfaltung, so bewirkt die bürokratische Kritik das Gegenteil. Sie ist bestrebt, das menschliche Individuum dem formalistischen System anzupassen und aus diesem Grunde wahre Entfaltung der Individualität zu unterdrücken; sie ist daher im schlechtesten Sinne nicht nur menschenfeindlich, sondern geradezu unethisch.

Gerade weil der bürokratische Formalismus seinem Wesen gemäß sich nicht um die konkreten menschlichen Bedürfnisse bekümmern kann, verhält er sich ihnen gegenüber nur so weit kritisch, als sie der bürokratischen Ordnung widersprechen. Da aber damit nicht der Mensch in seiner Totalität erfasst und noch weniger begriffen wird, verhält sich der Bürokratismus im übrigen diesen Menschen gegenüber gleichzeitig höchst unkritisch und gleichgültig, d.h. der Bürokratismus nimmt ihn im Grunde hin, wie er ist. Diese Tendenz wird dadurch unterstützt, dass der „alte“, mit den Eigenschaften einer unhumanistischen Geschichte und Tradition belastete Mensch ungeachtet seiner beschränkten „Brauchbarkeit“ im Dienste der Ordnung noch immer brauchbarer erscheint als ein Mensch, der die humanistischen, und ethischen Lehren des Marxismus wirklich ernst nimmt oder gar Merkmale einer Änderung in der Richtung des gesetzten humanistischen Zieles zu zeigen beginnt.

Im letzten Grunde wird also der Mensch von der stalinistischen Bürokratie in der Erscheinungsform hingenommen, in der er sich traditionell präsentiert, d.h. in der historisch belasteten, menschlich deformierten und wesentlich unethischen Erscheinungsform. Die Aussöhnung mit dem Bösen ist vollzogen und die Inkarnation des Bösen findet eine ihrer Gestalten im Stalinismus, wenngleich unter dem Deckmantel einer marxistischen Ethik, die hier missbraucht wird. Der Stalinismus verändert das Individuum in seiner traditionellen Einseitigkeit, Unvollkommenheit, Armseligkeit und Zerrissenheit nur so weit, als er es restlos seinen bürokratischen Bedürfnissen unterwerfen muss: er gibt ihm Bildung, soweit er des „Intellektuellen“ benötigt; er gibt ihm Idealismus, so weit er dieses Idealismus im Dienste des „Vaterlandes“ und des „Aufbaus“ bedarf; er macht es mit der Lehre von Marx vertraut, soweit es diese Lehre benötigt, um ein blindgläubiger Diener des Staates zu sein – aber er lässt es im Kern unverändert, damit es all dies sein kann! Vielleicht macht der Stalinismus hierbei die Rechnung ohne den Wirt; viele Anzeichen sprechen dafür, dass die Berührung großer Massen und besonders der Studierenden und Intellektuellen mit der kritisch-humanistischen Lehre des Marxismus ein oppositionelles und antibürokratisches Bewusstsein weckt, das, wenn auch hier nur auf weite Sicht zu erhoffen, in einer demokratischen Explosion und sozialistischen Demokratisierung des Ostens enden muss. Aber das ist ein anderes Problem.

6. Aus der Tatsache, dass die stalinistische Bürokratie nicht nur eine ökonomische Bürokratie schlechthin darstellt, sondern dass ihr vor allem die Aufgabe der „ursprünglichen Akkumulation“ in den zurückgebliebenen Ländern zufällt, entwickelt sie pseudoethische Eigenschaften, die zum Teil in einer verblüffenden Weise an Erscheinungen des 16. und 17.Jahrhunderts erinnern. Diese Erscheinungen sind solche, wie sie von den tiefsichtigen Geistern seit Karl Marx bis Max Weber als typische Merkmale der akkumulierenden frühkapitalistischen Manufakturbourgeoisie erkannt worden sind: Akkumulationswut; Fleiß und Versenkung dieser Haltung ins Ethische, vornehmlich mit dem Zweck der Disziplinierung der arbeitenden Massen; einseitiger Ökonomismus, dem alles übrige als zweitrangig untergeordnet wird; Brutalität gegen den sich nicht unterwerfenden „Sünder“, auch wenn dieser die Lehre reiner zu vertreten, sich bestrebt usw. Gewiss sind die Unterschiede nicht zu übersehen. Es fehlen im Stalinismus z.B. die religiöse Form, der subjektive Fanatismus der Askese und die individuelle Tendenz zur akkumulierenden Sparsamkeit, die hier wegen der Trennung der privaten Einkünfte und Ausgaben von der Kostenrechnung der Betriebe ihren Sinn verliert. Andererseits aber erkennen wir deutliche Gemeinsamkeiten. So z.B. entsteht hier wie dort die Neigung zur höheren Einschätzung des im Berufsleben wirtschaftlich Erfolgreichen als dem auch menschlich Erhöhten (Stachanowismus und „Auserwähltheit“); dann die Vorstellung von der Unentbehrlichkeit der disziplinierenden Askese, ein Moralismus, der als strenger Maßstab der Beurteilung der öffentlichen und privaten Lebenshaltung des Einzelnen Anwendung findet; schließlich ein Demokratismus, der sich dadurch kennzeichnet, dass er nicht nur die terroristische Diktatur verschleiern soll (Calvin in Genf), sondern stets auf dem Sprunge ist, das Volk aufzurufen in Not und Gefahr („cri au peuple“) bei gleichzeitig tiefstem Misstrauen diesem Volke gegenüber.

All dies kulminiert hier wie dort in einem strengen und überspitzten Ethizismus, der sich über die breiten unethischen Inhalte lagert wie ein Nebel über die Landschaft und der im unkritischen Bewusstsein des Einzelnen die Täuschung echter Ethik hervorruft. Aber der Unterschied ist deutlich genug. Mit zwei Hinweisen sei dies deutlich gemacht. Wenn der Stalinismus den Unterschied zwischen dem Privatleben und dem öffentlichen Leben des Bürgers so weit wie möglich aufzuheben versucht, so nicht deshalb, weil in seinem „vollendeten“ Staatswesen der Gegensatz zwischen dem privaten und dem öffentlichen Interesse verschwunden ist – das wäre tatsächlich der Idealzustand -, sondern weil er den privaten Bürger dem Staatsbürger einfach aufopfert. Und darin liegt der offensichtlich bis ins Ethische reichende Unterschied zwischen dem Marxismus und dem Stalinismus bei einer äußerlich und damit scheinhaft völlig gleichartigen Verhaltensweise. Um ein alltägliches Beispiel anzuführen, sei auf die ständige Einmischung „der Partei“ in Belange des Liebes- und Ehelebens, besonders der Parteimitglieder, hingewiesen. Es scheint hier die väterliche Sorge um die privaten Belange des Einzelnen maßgeblich zu sein, jene Sorge, die in echten Gemeinschaften den Freund sich in die Angelegenheiten des Freundes einzumischen drängt. Aber wer die entsprechenden Absichten im Bereiche der stalinistischen Herrschaft von der Nähe zu studieren Gelegenheit hatte, wird bemerkt haben, wie sehr hier das bürokratische Staatsinteresse an der Verfügbarkeit des Einzelnen maßgeblich bleibt, also eine sonst durchaus ethisch sein könnende Verhaltensweise sich hier ins Gegenteil kehrt unter äußerlicher Beibehaltung des ethischen Gewandes. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass der Stalinismus, sofern wir ihn in seiner Ethik beurteilen wollen, aus zwei widersprechenden, aber notwendig zusammengehörenden Erscheinungen sich zusammensetzt: aus dem unethischen Inhalt seiner Ideologie und Praxis, die beide den Boden der Marxschen Lehre verlassen, und dem auf die Spitze getriebenen ethischen Schein, der Ideologie und Praxis zu einem System eines strengen Ethizismus von seltener Konsequenz ausgestaltet.

Der Text ist eine Zusammenstellung von vier in der DUZ-Deutsche Universitätszeitung in Folge erschienenen Beiträgen. Die vier einzelnen Teile sind unter den jeweiligen Teilüberschriften erschienen in Nr.10, 17.5.1954, S.11ff.; Nr.13, 5.7.1954, S.8ff.; Nr.22, 22.11.1954, S.14ff.; Nr.5, 9.3.1955, S.6ff.