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» Der Verlust des Citoyen [1956]

Der Verlust des Citoyen [1956]

Es ist im Lager des Sozialismus seit Marx traditionell geworden, das Gegensatzpaar Citoyen-Bourgeois zur Grundlage der soziologisch-politischen Urteilsweise zu nehmen. Speziell in der Judenfrage hat Marx „die Zersetzung des Menschen in den öffentlichen Bürger und in den Privatbürger“, die aus dem „Widerstreit zwischen dem allgemeinen Interesse und dem Privatinteresse“ entspringt, geistvoll analysiert. Marx zeigt, wie das öffentliche Interesse den am öffentlichen Wohl interessierten Bürger, den Citoyen, und das Privatinteresse gleichzeitig und in derselben Person den egoistischen Privatbürger, den Bourgeois, erzeugt. Die dialektische Spannung zwischen dem Citoyen und dem Bourgeois in der Brust des modernen Bürgers hat aber, wie die modernsten Erfahrungen lehren, je nach den konkreten historischen und gesellschaftlichen Situationen verschiedene Verhaltensweisen zur Folge, die stets von neuem analysiert werden müssen. Siegte bereits in der Aufstiegszeit des Bürgertums ebenso oft der Bourgeois über den Citoyen (z.B. in der Frage der Gewährung des Wahlrechts an die Arbeitenden) wie der Citoyen über den Bourgeois (z.B. im Kampfe gegen den Feudalismus), so hat sich seit dem Siege des Bürgertums manches geändert.

Trotz der unauflösbaren, weil auf der Klassenspaltung der Gesellschaft beruhenden inneren Widersprüchlichkeit in der Natur des Bürgers, erkennt Marx den historischen Fortschritt, der mit der bürgerlichen Gesellschaft verbunden ist. Deshalb kann er sagen: „Die politische Emanzipation (d.h. die rein politisch-formale Befreiung des Menschen) ist allerdings ein großer Fortschritt, sie ist zwar nicht die letzte Form der menschlichen Emanzipation überhaupt, aber sie ist die letzte Form der menschlichen Emanzipation innerhalb der bisherigen Weltordnung“, nämlich der klassengespaltenen.

Aber mit der Vollendung dieser politischen, d.h. formal-demokratischen Emanzipation, die dadurch in das Stadium gerät, in welchem sich die ersten Anzeichen dafür einstellen, dass sie einer anderen, nämlich höheren, d.h. über die formale hinausweisenden sozia1en Emanzipation welchen muss, verliert das Bürgertum das Interesse an der menschlichen Emanzipation überhaupt. In der Zeit des bürgerlichen Aufstiegs und Kampfes war stets leitend geblieben das Ideal einer auf Freiheit beruhenden ökonomischen Ordnung, in welcher nicht nur jeder zu ausreichendem Eigentum gelangen soll, sondern darüber hinaus seine Kräfte, Anlagen und Gaben bis zur Höhe jener wahrhaft menschlichen Existenz zu entwickeln Gelegenheit haben soll, die die harmonische, im gleichmäßigen Gebrauch ihrer seelischen und geistigen Kräfte geübte Persönlichkeit ergibt. Dieses Ziel hat sich heute der Sozialismus gesetzt, der erkannt hat, dass es nur in der klassenlosen Gesellschaft (relativ) verwirklichbar ist, weil in der Klassengesellschaft die Vermenschlichung – Humanisierung – des Menschen ein ewiger Widerspruch in sich selbst bleiben muss.

Fortschrittsfeindlich
Der beste Beweis für die Richtigkeit dieser Ansicht ist das Verhalten des Bürgertums selbst. Indem es resigniert, seine ursprünglichen Ideale fallen lässt, sich dem Pessimismus und der Fortschrittsfeindlichkeit in die Arme wirft, gibt es ungewollt zu, dass die Verwirklichung der humanistischen Ziele innerhalb der bürgerlichen Ordnung unmöglich ist. Der „bescheidene“ Verzicht entlarvt das hektisch-anspruchsvolle Gebaren. Die Welt ist für das Bürgertum nur noch „nützlich“, profiterträglich, sonst ist sie leer und sinnlos geworden. Die übriggebliebene „Freiheit“ ist nicht mehr die Freiheit, Ideale zu verwirklichen und den Menschen zu erhöhen – wer dies noch will, wird verdächtig! –‚ sondern die Freiheit der Konkurrenz, des Urwalds. Im Grunde ist alles erreicht, es hat Geschichte gegeben, aber es gibt in Zukunft keine mehr. Das Problem des öffentlichen Wohls, das dem Citoyen vor Augen stand, wird von allen humanistischen und optimistischen Wesenheiten gereinigt; es wird zu einem rein technischen Problem, das der „Ordnung“ halber ebenso „gelöst“ werden muss, wie man etwa das Problem der Abwässer lösen muss. Die „Lösung“ bedeutet letztlich die Entschärfung und „Einordnung“, d.h. Unterwerfung des Menschen. Die Sehnsüchte des alten Liberalismus werden als vulgär verhöhnt (Röpke, Weinstock usw.) und die Freiheit jenen überlassen, die ihrer fähig sind (Existentialismus). Ihrer fähig sind aber in dieser Gesellschaft nur die Starken – wie im Urwald. Fragt man, wofür und für wen diese Freiheit gut sein soll, wird philosophisch-verschämt zugegeben: für das Ego des Starken. Damit ist alle Demokratie offen verraten, denn Demokratie ist ihrem Urwesen nach stets fortschreitende Möglichkeit zur Freiheit für alle.

So siegt also innerhalb des Widerspruchs zwischen dem Citoyen und dem Bourgeois dieser über jenen. Die Verachtung, die der starke Bourgeois dem träumerischen Citoyen spendet, findet sich bestärkt durch die neueste Entwicklung, in welcher sich der einst bürgerlich-demokratische Citoyen als Gewerkschafter und Sozialist wiederfindet. Er hat sich bei den Arbeitenden und Leidenden – ökonomisch und menschlich Leidenden – niedergelassen. Dabei bleibt die tiefe Kluft, die sich in unserem Jahrhundert zwischen dem Citoyen und dem Bourgeois aufgetan hat, nicht ohne Wirkung auf beide. Sowohl die positive, weil humanistische, als auch die negative, weil zu bürgerlich verwässernden Illusionen führende Wirkung auf die Vertreter des citoyenhaften Bewusstseins in der gewerkschaftlichen und sozialistischen Bewegung habe ich anderweitig ausführlich geschildert in meiner Schrift Marxistischer oder ethischer Sozialismus? Die Wirkung auf den Bourgeois ist noch zu untersuchen. Es geht hierbei vor allem um jenen Typ des Bourgeois, wie ihn Marx zu seiner Zeit nur zum Teil, nur am Rande vor Augen hatte, um den völlig vom Citoyenhaften „gereinigten“ Bourgeois, um den völligen Egoisten, der heute herrschend geworden ist.

Behaglicher Ekel
Bevor wir ihn schildern, sei noch bemerkt, dass der herrschende Bürger seit der Renaissance bis zur Gegenwart (mit der einzigen Ausnahme des calvinistischen Bürgers, wofür es sehr eindeutige Gründe gibt) immer gottlos war. Aber die bourgeoise Gottlosigkeit von heute ist eine andere geworden. Der liberale Fortschrittler des 19.Jahrhunderts überließ den Glauben dem Volke; als naturwissenschaftlich und philosophisch gebildeter und optimistisch-diesseits-gerichteter Bürger hatte er keine Sparte für Metaphysisch-Jenseitiges übrig, wenn er auch, um den Schein zu wahren und dem Volke die Religion zu erhalten, gelegentlich in die Kirche ging. Der ideallose Pessimist von heute ist – gleichgültig ob er Christlichkeit mimt oder nicht – gottlos, weil er keinen Sinn in der Welt mehr erkennt, diese Welt für ihn keinen Gott mehr hat. Die gelöste Beziehung zwischen Ego und Gott versetzt jenes in die Lage, sich gerade dieser sinnleer gewordenen Welt genießerisch anzupassen, wie sie dem Teufel erlaubt, sich in der Hölle genießerisch wohl zu fühlen. Die Gottlosigkeit hat hier andere Wurzeln: im Gegensatz zum einstigen naturwissenschaftlichen Optimismus den heutigen dekadenten Nihilismus. Ist es richtig, mit Marx zu sagen, „Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur“, so hat weder der herrschende optimistische Liberale von einst noch der herrschende nihilistische Pessimist von heute diesen Seufzer nötig.

Der Zustand, in welchem sich der vom Citoyen gelöste Bourgeois gegenwärtig befindet, ist der für alle Dekadenz bezeichnende Zustand des behaglich-genießerischen Ekels, d.h. der Zustand der gleichzeitigen Verneinung der Welt und der Anpassung an sie. Aber die ausschließlich durch den Ekel vermittelte Beziehung zur Welt ist auf die Dauer nicht erträglich. Denn die letzte Konsequenz wäre der Selbstmord. Es ist kein Zufall, dass in den Reihen der Existentialisten viel über den Selbstmord philosophiert wird (z.B. Camus im Sisyphos). Deshalb vollzieht sich gerade in den obersten Schichten unserer Gesellschaft, in der bürgerlichen Elite, die dem Ekel am nächsten ist, eine Art Flucht, in der Form der Rückwendung zur Innerlichkeit: die genießerische Anpassung an die leer und sinnlos gewordene Welt, an die Welt des nützlichen Sumpfes, schlägt unter der Bedingung des extremen bürgerlichen Individualismus an einem bestimmten Punkte um in die „Kunst“ der individuellen Selbstvollendung, die das Bewusstsein der Erhöhung der eigenen Person und der Überlegenheit über andere, über den „Massenmenschen“ verleihen soll. Die Form dieser Vollendung ist die „Verfeinerung“ des individuellen Lebensstils auf der Grundlage der Entgegensetzung zur sinnlosen Welt und der Pflege der inneren Erlebnisfähigkeit. Die „Innerlichkeit“ wird zu Gott verklärt, und ihr metaphysisches Training erhöht ständig den Wert des Ich.

Aber indem gerade infolge dieser Entgegensetzung zur Welt dem Ich keine echten Aufgaben gestellt sind, degeneriert die Pflege der Innerlichkeit zur leeren Ekstase, die sich im Kreise dreht und niemals zu echter Befriedigung gelangt. So wird der Ekel nur noch gesteigert, bestenfalls ins Unbewusste verdrängt, um den Schein des Höhenflugs zu wahren. Der tote Citoyen täuscht Leben vor.

Irrationalismus
Der widerspruchsvolle Prozess ergreift den ganzen Menschen und vollzieht sich etwa in der folgenden Weise. Auf dem Boden des zur Innerlichkeit hingewendeten, verfeinerten Lebensstils der dekadenten Bourgeoisie drängt sich die leer-ekstatische Geschäftigkeit des Gefühls, das „seelische Tiefe“ (im Gegensatz zu verstandesmäßiger Oberflächlichkeit) vortäuschen soll, immer mehr vor und gerät unter die völlige Herrschaft des Irrationalismus. Es entsteht eine Art religiöser Ekstase ohne Christentum; die religiöse Gläubigkeit weicht der Gläubigkeit an „innere Werte“, die in ihrer Unbestimmtheit gleichzeitig alles und nichts bedeuten. Im gleichsam rein privaten Bereiche der Innerlichkeit überdeckt der Irrationalismus in steigendem Maße die Funktion der rationalen Vernunft. Andererseits jedoch wegen des gleichzeitigen Weiterbestehens der ökonomischen Rolle dieser Schichten – man muss ja leben – verschwindet das rationale Denken durchaus nicht, sondern es trennt sich nur von der Sphäre der „Kultur“ ab und beschränkt sich auf die „äußeren“, profanen Betätigungen, auf die Sorge um die Erhaltung der materiellen Lebensgrundlage, auf das Geschäft. Aber gerade wegen dieser scharfen Trennung von innerer und äußerer Welt, von Kultur und Geschäft, kann im Bereiche der letzteren die Kunst der Handhabung des rationalen Verstandes bis ins Extrem entwickelt werden, wird sie von allen Einflüssen des Gefühls isoliert, bleibt der Verstand von einer eisigen Kälte umweht und darf er sich erlauben, unmenschlich hart seine Ziele zu verfolgen. Er wird zu dem, was man in der bourgeoisen Gesellschaft als „Klugheit“ bezeichnet. Dass die „philosophische“ Verachtung der historischen und gesellschaftlichen Welt (glänzend widergespiegelt im Denken Heideggers), der Nihilismus, ihrerseits diese extreme Rationalisierung und „Entgötterung“ fördert, ist selbstverständlich.

So entsteht ein bei vielen Vertretern der bürgerlichen Klasse, besonders aber ihrer Elite, zu beobachtender Bruch zwischen dem rücksichtslosen Sichausleben des kapitalistisch-egoistischen Individualismus, der gewissenlosen Anpassung an die im Grunde verachtete Welt der materialistischen Nützlichkeit auf der einen Seite und einer mit hohen seelischen Zäunen gegen die Außenwelt abgeriegelten Welt der Empfindsamkeit und gefühlvollen Begeisterung auf der anderen Seite. Wie die gegenseitige Entfremdung dieser beiden Seiten im Leben des heutigen Bourgeois die extreme Rationalisierung der täglichen Praxis erlaubt, so hat derselbe ideologische Prozess gleichzeitig zur Folge, dass wegen der ebenso extremen Überbetonung der irrationalen Innerlichkeit und ihrer Werte die Welt der praktischen Ratio als wertmäßig untergeordnet, nur technischen Zwecken (dem Profit) dienend, im letzten Effekt sinnleer und chaotisch beurteilt wird; der Ekel vor dieser Welt erhält seine ideologische Rechtfertigung. Das Resultat ist, wie bereits bemerkt, die gleichzeitige Verneinung wie Bejahung dieser Welt: nihilistische Verneinung zugunsten der Innerlichkeit, um sie vor dem Zugriff seitens fortschrittlich-optimistischer Kräfte zu sichern, genießerische Bejahung, um sie zu beherrschen und auszunützen. Der Bourgeois ist als Gegenpart des Citoyen, von dem er nichts mehr wissen will, zur höchsten Vollendung gelangt.

Erstveröffentlichung in: Die Andere Zeitung, 21.6.1956, S.5.