2024-03-19 11:46:52 AM - it GIVES an error...
» Geistiger Verfall und magische Religiosität [1981]

Geistiger Verfall und magische Religiosität [1981]

Das in seiner Grundhaltung dem Liberalismus zugetane Brockhaus-Konversationslexikon vom Jahr 1898 gibt der bürgerlich-liberalen Skepsis gegen alle Religion in der folgenden Weise Ausdruck: „Da aber, was den wahren Glauben ausmacht, für verschiedene Völker und Zeiten sehr verschieden ist, so erscheint einem als Aberglaube, was dem anderen wahrer Glaube ist.“ In dieser Aussage wird der Unterschied zwischen Religion und Aberglaube verwischt. Dem wissenschaftlichen Anspruch auf strenge Differenzierung der Begriffe im Sinne des Wesens der Definition wird hier nicht Genüge getan.

Religion ist zu definieren als jener auf dem Glauben an die Existenz eines höheren weltschöpferischen Wesens beruhende Bezug zwischen diesem göttlichen Wesen und dem, seinem Selbstverständnis gemäß, auf sich gestellten Subjekt, wobei sich letzteres von jenem etwas für sein Wohl und sein Heil erhofft. Bedeutsam bleibt bei dieser Bestimmung, dass alle dem irdischen – profanen – Bereich des Lebens entstammenden Vermittlungen zwischen dem Glaubenden und Gott intellektuell übersprungen werden und eine direkte Verbindung zwischen beiden hergestellt wird. Genau darin ist der wesentliche Unterschied zwischen Religion und magischer Pseudoreligiosität einzusehen, dass bei letzterer (wie schon in der Vergangenheit bei allem Animismus, bei aller Magie und bei aller Zauberei bis zum Nekromantismus, Exorzismus und Hexenglauben hin) eine Verzerrung und Verfälschung der metaphysischen Reinheit des Göttlichen dadurch zustande kommt, dass dem irdischen Bereich entnommene profane Mittel eingeschaltet werden, um das Ziel des Heils zu erreichen. Die Verfälschung besteht darin, dass wegen dieser Vermittlung zu irdischen Kräften und Mitteln das Göttliche selbst in die Profanität des Irdischen herabgezogen und teilweise oder gänzlich entgöttlicht wird.

Abgesehen von der Urzeit des Menschengeschlechts und von der nachfolgenden, dem Monotheismus vorangehenden Epoche erfasst der Aberglaube überall da größere Teile der Bevölkerung, wo Unsicherheit und Bedrohung des individuellen Lebens den einzelnen dahin drängen, sich von der traditionellen Religiosität zu distanzieren und unmittelbar sich anbietende irrationale Mittel anzurufen. Die verbreitetste Erscheinung dieser Art ist die Astrologie. Aber die Astrologie ist nicht dazu geeignet, die vielfach bewusst oder unbewusst herbeigesehnte magische Rolle zu übernehmen, denn die Konstellation der Himmelsgestirne lässt sich auch dem Schein nach nicht mittels irgendwelcher, vom Menschen erfundener Riten beeinflussen. Es sind somit zwei Hauptformen der aberglaubensnahen Pseudoreligiosität zu unterscheiden: erstens eine solche, die sich durch eine bloße Erwartung von völlig unabhängig vom Individuum sich vollziehenden Vorgängen kennzeichnet, wozu die Astrologie als das bedeutendste Beispiel zählt; zweitens gibt es eine große Zahl pseudoreligiöser Neigungen, die darin bestehen, dass das befangene Individuum bestimmte Vorgänge zu seinen Gunsten auf eine mehr oder weniger irrationale und das heißt magische Weise zu beeinflussen versucht, um sich den erhofften Erfolg zu sichern. Mit dieser zweiten Form des heute beobachtbaren pseudoreligiösen Verhaltens haben wir es hier vornehmlich zu tun, wobei es uns in erster Linie nicht auf eine systematische Beschreibung der diesbezüglichen Formen ankommt, sondern auf eine soziologisch-theoretische Interpretation der magischen Gesamttendenz in der heutigen Gesellschaft.

Nach Marx haben ausnahmslos alle religiösen Erscheinungen, sowohl die religiösen als auch die pseudoreligiösen, das Gemeinsame, ideologischer Ausdruck der – wie Marx sagt – „bedrängten Kreatur“ zu sein, das heißt dem Gefühl des von der Natur oder von der Gesellschaft sich unterdrückt wähnenden Menschen zu entspringen. Dem ist hinzuzufügen, dass für die monotheistische Epoche, insbesondere aber für den „aufgeklärten“ bürgerlichen Geschichtsabschnitt die Hinwendung zum rein abstrakten – abstrakt im Sinne moderner Theologie – Eingottbegriff eine scharfe und radikale Entgegensetzung zu allen magischen Tendenzen bedeutet; dies unabhängig davon, dass in der Praxis der monotheistischen Religionsausübung sehr oft magische Residuen zu beobachten sind. Diese Entgegensetzung von echter und magischer Religiosität wird für die soziologische Fragestellung deshalb von größter Bedeutung, weil sich auf der Grundlage dieser Unterscheidung nachweisen lässt, dass speziell in sozialen und kulturellen Krisenepochen die Tendenz der Ausbreitung magischer Pseudoreligiosität auf Kosten der echten Religiosität stärkstens zunimmt.

Erinnern wir uns als Beispiel hierfür an die ausgebreitete Verwendung von Rauschgiften in unserer, an sich nicht mehr magischen Zeit zu pseudoreligiösen Zwecken, das heißt zu Zwecken des persönlichen Heils auf magischem Wege. In einer etwas andersgearteten, abgeschwächteren Form wiederholt sich diese Erscheinung zum Beispiel in der magischen Ritualisierung des Toto- und Lottospiels oder des Erfolg versprechenden kostspieligen Autos.

An dieser Stelle unserer Ausführungen ist noch auf eine weitere Besonderheit hinzuweisen – speziell im Blick auf die spätbürgerliche Gesellschaft. Haben wir mit Marx zunächst alle Religion als der menschlichen Bedrängnis entsprungen eingesehen, so müssen wir nunmehr aufgrund unserer Differenzierung zwischen echter und magischer Religion auf die speziellen soziologischen Ursachen für die Ausbreitung der letzteren aufmerksam machen. Die weiter bestehende Herrschaft des Menschen über den Menschen mag den ausreichenden Grund bilden für das Weiterwirken des religiösen Bewusstseins im Sinne der marxschen Religionsauffassung.

Jedoch muss etwas Andersgeartetes hinzukommen, um den Umschlag ins Magisch-Pseudoreligiöse zu erklären. Diese neuartige Tendenz besteht in der Abkehr vom liberalen Optimismus und Humanismus und in der Zuwendung zum spätbürgerlichen Nihilismus, der die humanistischen Werte der bürgerlichen Aufstiegszeit, etwa jenen des Fortschritts und der Persönlichkeitsbildung, entwertet und damit das Individuum selbst jenes Halts beraubt, der ihm unabhängig vom Gefühl des sonstigen Unterworfenseins unter ökonomische und herrschaftliche Mächte in der bürgerlichen Aufstiegszeit verblieben war. Die Verunsicherung infolge der Besetzung der Psyche durch morbide Lebensvorstellungen, die einhergehen mit Gefühlen der Machtlosigkeit gegenüber den verdinglichten Mächten der gesellschaftlichen „zweiten Natur“, der nihilistischen Entwertung des Menschen und der Angst, drängt viele Individuen dahin, sich nach Mitteln der Lebensbewältigung umzusehen, die zu den alltäglichen des ökonomischen, gesellschaftlichen und politischen Lebenskampfes hinzukommen und im rein Subjektiven beschlossen zu sein scheinen: nach Mitteln der magischen Beeinflussung des Erfolgs in der vielfältigsten Weise. Als die eigentliche Grundlage für die Ausbreitung der magischen Pseudoreligiosität ist die nihilistische Aushöhlung des Bewusstseins anzusehen. Zum marxschen „Opium des Volks“ kommt eine neuartige Nuance hinzu.

In seinen sporadischen Äußerungen über die Religion hat Marx nur ihre aktuelle Bedeutung interessiert. Deshalb stand ihm nur die Stufe des entfalteten religiösen Bewusstseins vor Augen: die Stufe der religiösen Reaktion des Individuums auf die Tatsache der modernen Unterdrückung. Aber seit Marx haben sich die Probleme in mancher Beziehung gewandelt und verschärft. Zweifellos hat Marx, der entgegen der altmaterialistischen Bestimmung der Religion im 18.Jahrhundert als das von bösen Priestern erfundene „Opium für das Volk“ die Religion im Sinne des Historischen Materialismus definiert als das „Opium des Volks“, des unter den „geistlosen Zuständen“ der Entfremdung sich nach einem eigenen Geist sehnenden Volkes selbst. Er hat jedoch nicht vorausgesehen die neuen Tendenzen des religiösen Bewusstseins unter der Bedingung der zunehmenden Verschärfung der Verdinglichung. Nach Marx bedeutet moderne Entfremdung den totalen Verlust des Schöpferischen, d.h. den Verlust der Fähigkeit, die geistigen und emotionalen Kräfte frei zu gebrauchen. Gerade deshalb hätte Marx in Rechnung stellen müssen, dass der vermaterialisierte „konsumorientierte“ Mensch sich sogar seiner urwüchsigen Fähigkeit entschlägt, seinem bedrückten Herzen in einem – um mit Marx zu sprechen – „Seufzer“ der religiösen Phantasie Ausdruck zu verleihen. An die Stelle der über die religiös-phantastische „Kritik“ an der Welt vor sich gehenden Versöhnung mit dieser tritt die profane und vulgäre Versöhnung, die keiner kritischen Brücke mehr bedürftige. Die gelegentlich noch vollen Kirchen sind mit Ungläubigen gefüllt.

Marx hat zwar das religiöse Bewusstsein als das Ergebnis des profanen Elends nachgewiesen, aber ein anderes Ergebnis dieses selben Elends, nämlich das sich immer weiter ausbreitende areligiöse Bewusstsein, erklärbar aus der sich ausbreitenden Gleichgültigkeit und Aversion gegen alles Geistige, übersehen. Es gehört zur widerspruchsvollen Dialektik der ideologischen Situation der spätbürgerlichen Epoche, dass der Mensch in seiner Masse sich einerseits – trotz der zahlreichen Austritte – mit seinem Dasein als Mitglied der Kirche abfindet und damit seine Religiosität bejaht, wie andererseits sich von der aktiven Ausübung religiöser Pflichten fernhält und damit gleichzeitig seine Religiosität verneint.

Nach einem Bericht, der Mitte Januar 1974 durch die Zeitungen ging, heißt es: „Die Zahl der Austritte aus der Evangelischen Kirche im Rheinland ist 1973 gegenüber 1972 um mehr als 40 Prozent auf 27.718 gestiegen und hat damit einen ähnlichen Rekord erreicht wie 1970.“ (Mitteilung des Präses der Evangelischen Kirche im Rheinland, Karl Immer) Als alarmierend wird der Gottesdienstbesuch bezeichnet. In vielen Orten besuchen nicht einmal drei Prozent der Gemeindemitglieder sonntags den Gottesdienst. Umso mehr schnüffeln sie in der astrologischen Spalte ihrer Zeitung mit einer geradezu magischen Erwartung, putzen sie ihren Wagen mit geradezu religiöser Inbrunst und stoßen Beschwörungsformeln aus bei der Ausfüllung ihres Lotto- oder Totoscheins. Der marxsche „Seufzer der bedrängten Kreatur“ ist abgeflacht zum Nichts der totalen Geistlosigkeit, unter deren alles zermalmendem Gleichschritt auch der religiöse Glaube begraben wird. Nach verschiedenen Untersuchungen, die im Ruhrgebiet durchgeführt wurden, besuchen weniger als drei Prozent der Arbeiterschaft einigermaßen regelmäßig die Kirche. Papst Pius XI. (1929-1939) bezeichnete den Gegensatz zwischen Religion und Arbeiterschaft als den „größten Skandal des Jahrhunderts“; und Papst Paul Vl. richtete an die Arbeiter die folgenden beschwörenden Worte: „Habt ihr denn keine Seele? Schließen wir wieder Freundschaft, und die Welt der Arbeit wird heiter, christlich und glücklich wie einst sein.“ Der Papst merkte nicht, dass ein solcher Hinweis auf die Vergangenheit in den Ohren des Arbeiters nicht wie ein erlösendes Versprechen klingt, sondern wie eine Drohung.

Das religiöse Bewusstsein beginnt also nicht erst, wie Marx annahm, in der künftigen klassenlosen Gesellschaft abzusterben, sondern bereits in der bürgerlichen Gesellschaft, wenn auch aus den genau entgegen gesetzten Gründen.

In einem gewissen Unterschied zum Arbeiter zeigt der Kleinbürger eine prinzipiell stärkere Affinität zur phantastischen Transzendierung des irdischen Elends und deshalb zur religiösen Orientierung. Wie der (in einem typisch kleinbürgerlichen Sinne begriffenen) Bildung wendet sich der Kleinbürger gerne auch dem Religiösen als Mittel der Erlösung zu. Aber wie sein Bildungsstreben wird auch seine Affinität zur Religion in steigendem Maße in den Strudel der materialistischen Entgeistigung gerissen. Wie die kleinbürgerliche Bildung sich formalisiert und veräußerlicht, z.B. indem sie sich in Zeitschriften und Fernsehbildung umsetzt und der nihilistisch-morbiden Aushöhlung zum Opfer fällt, so auch die Religion. Der allgemeine Entgeisterungsprozess bleibt vor der Religion nicht stehen, ja ergreift diese sogar in erster Linie. Der den modernen humanistischen Ideen mit großem Verständnis begegnende Dominikaner Marcel Reding weist in seinem Buch Der politische Atheismus in kritischer Absicht darauf hin, dass Marx in der Religion „eine Angelegenheit des Volkes im Gegensatz zu den Gebildeten“ gesehen hat. Wäre es für einen Zeitgenossen des 20.Jahrhunderts nicht interessant zu untersuchen, warum die Religion faktisch und vor unseren Augen zunehmend aufhört, eine Angelegenheit des Volkes zu bleiben? Die naturwissenschaftliche und technische Entwicklung, auf die sich viele Atheisten berufen, die „Entmythologisierung der Welt“, hat bei weitem nicht so viel vermocht wie die nihilistische Entgeistigung des allgemeinen Bewusstseins.

Jedoch – und das ist das Überraschende – ist es nicht ganz richtig, von einem einfachen „Verschwinden“ der religiösen Bindungen aus dem Bewusstsein des modernen Alltags- und Massenmenschen zu sprechen. Haben wir dies in einem wohlverstandenen Sinne getan, so ist dem nunmehr die diese Einsicht weiterführende Variation hinzuzufügen, dass es viel richtiger ist, von einer Verdrängung des Originär-Religiösen zugunsten primitiver, das heißt im Niveau sowohl wie in der Art vor- und pseudoreligiöser Formen zu sprechen. Solche pseudoreligiöse und soziologisch schwer erfassbaren, weil ins Primitiv-Magische zurückfallenden, Strömungen besetzen nunmehr jenen Bereich, den Marx mit dem Hinweis auf den „Seufzer der bedrängten Kreatur“ umschrieb.

Georg Lukács bemerkt in der Ästhetik: „Es ist von diesem Standpunkt aus sehr interessant, dass Marx gerade im Fetischismuskapitel auf die Verwandtschaft einer derartigen – nämlich fetischistischen – Verzerrung der Wirklichkeit mit den religiösen Vorstellungen zu sprechen kommt. … (Es) entsteht (später) ein breiterer Begriff der Fetischisierung: sie bedeutet, dass – aus gesellschaftlich-geschichtlich jeweils verschiedenen Gründen – in den allgemeinen Vorstellungen selbständig gewordene Gegenständlichkeiten gesetzt werden, die weder an sich, noch in Bezug auf die Menschen wirklich solche sind.“ Die Fetischisierung des Alltagsbewusstseins, das heißt die Verfestigung von ökonomisch-gesellschaftlichen Prozessen zu Vorstellungen, die eine quasi-magische Verselbständigung dieser Prozesse gegenüber dem einzelnen Individuum implizieren und zu „Gegenständlichkeiten“, die mit der Gewalt einer „zweiten Natur“ ausgestattet erscheinen, erstarren, erleichtert weitgehend das Entstehen magischer Vorstellungen, denen schicksalhaft-religiöse Kraft anzuhaften scheint.

Die Astrologie steht dem Animismus näher als der Magie, denn der Lauf der Gestirne lässt sich weder durch Riten beeinflussen noch durch Opfer bestechen. Für den dem Pseudoreligiösen zuneigenden Menschen der spätbürgerlichen Gesellschaft nimmt sie eine Zwischenstellung zwischen Animismus und Magie ein. Er versucht nicht, die Sterne zu beeinflussen, aber er unterwirft sich ihrer magischen Kraft, indem er sein Handeln nach ihnen richtet. So ist es zum Beispiel in den USA üblich geworden, dass Frauen erst den astrologischen Kalender befragen, bevor sie zum Friseur gehen. An manchen Tagen sind sie nicht zu bewegen, das Haus zu verlassen. Eine vom Spiegel in Auftrag gegebene Meinungsumfrage ergab, dass 45 Prozent der Bundesbürger von 14 bis 65 Jahren überzeugt davon sind, dass es einen Zusammenhang zwischen dem Stand der Sterne und dem menschlichen Schicksal gibt (30.12.1974).

So wenig man es ihr auf den ersten Blick ansieht, spielt die Technik im ideologischen Bewusstsein des spätbürgerlichen Menschen eine ähnliche Rolle. Was im populären Schlagwort: „Die Technik beherrscht uns“ und in der wissenschaftlichen These von der autonomen Gewalt der so genannten „Technologischen Rationalität“ sich verbirgt, ist nichts als Ideologie mit magischer Tendenz. Schon Marx hat im Kapital auf den ideologischen Charakter der so genannten „zweiten Natur“ hingewiesen, die er nicht ohne Grund weitgehend mit dem „Fetischismus“ primitiver Völker gleichsetzt. In der Ideologie der „technologischen Rationalität“ erscheint die technische Dingwelt als eine autonome, mit eigener Gewalt über den Menschen ausgestattete Kraft, die ihm einmal wohl gesonnen, das andere Mal drohend entgegentritt. Kann der Mensch – so das ideologisch-technologische Bewusstsein – der Technik auch nicht mit magischen Mitteln begegnen, so bleibt er ihrer quasi animistischen Wesenheit ausgeliefert. Damit fällt dieses Bewusstsein in gewissem Sinne hinter die Entwicklungsstufe der Magie zurück, nämlich auf die Stufe des Animismus. Gerade in den letzten Jahrzehnten hat dieser animistische Zug in der Anschauungsweise des sich technologisch gegängelt fühlenden Menschen erheblich zugenommen. Wir brauchen, so hoffen wir, dem aufmerksamen Publikum keine ausführlichen Beweise dafür zu liefern, dass die Technik als Werk und Produkt des tätigen Menschen selbst ganz nach dessen Willen und Ziel gelenkt und eingesetzt werden kann, wenn veränderte Seins- und Interessenkonstellationen dies zulassen. Eine „technologische Rationalität“, die sich mit animistischer Kraft die Welt unterwirft, existiert nur in der pseudoreligiös-magischen Erlebnis- und Vorstellungswelt des modernen Individuums.

Es sind für die Gegenwart zwei verschiedene Formen des magischen Bewusstseins voneinander zu unterscheiden: die pseudoreligiöse Form, die mit der alten Magie das gemeinsame hat, dass in irgendeiner Weise noch magische Seelenkräfte als in bestimmten Dingen wirksam angenommen oder unbewusst vorausgesetzt werden – so spricht z.B. Ernst Benz in seinem Buch Neue Religionen von der „Religion von den Planetarien und fliegenden Untertassen“; die andere Form magischen Bewusstseins ist als atheistische Magie zu definieren, denn sie unterscheidet sich von aller Magie der primitiven Völker dadurch, dass die angebeteten Gegenstände nicht als in irgendeiner Weise beseelt begriffen werden, sondern als Gegenstände erlebt werden, deren magische Kraft in ihrem bloßen Gebrauch liegt und dieser Gebrauch eine bestimmte befreiende Wirkung ausübt. Zu diesen Gegenständen gehört für viele Menschen unserer Zeit das Auto. Die magische Wirkung von Baulichkeiten und Einrichtungen ist bereits seit alters her bekannt. Jedoch war die magische Wirkung dieser Gegenstandswelt in den früheren Epochen zunächst auf die herrschenden und dann auf die Wohlhabenden im Allgemeinen beschränkt. Das gemeine Volk war davon ausgeschlossen. Diese Art von Magie, die so genannte „atheistische“, hatte Klassen- und Herrschaftsfunktion. Die primitive Vermaterialisierung, hier verstanden als die ideologische Äußerungsform der Zuwendung der Volksmassen zu Konsuminteressen auf Kosten emotionaler (z.B. ästhetischer oder geselliger) und kultureller Interessen (z.B. Abwendung von der Erzählung, dem Märchen, dem Lied und der Musik insgesamt), bildet in unserer Zeit den besten Boden für die Wucherung atheistisch-magischer Vorstellungen und Wünsche. Die magische Erwartung ist hierbei darin zu suchen, dass mit Hilfe des – wie man gemeinhin zu sagen pflegt – Statussymbols Auto die als bedrückend empfundenen Schranken des Alltagslebens überwunden oder zumindest bis zu einem bestimmten Grad zurückgedrängt werden, was nach der anderen, der subjektiven Seite hin, zugleich das Selbstgefühl erhöht. Unbewusst erstrebt wird hiermit ein Zustand, der das Gefühl der Allmacht über das Leben verleiht, oder anders ausgedrückt, das Gefühl der Teilhabe am Göttlichen. An die Stelle Gottes tritt hier die Anbetung des eigenen Ich: des Machthabers über ein Werkzeug, z.B. das Auto, das der eigenen Person eine quasi-göttliche Stellung verleiht. Eine ähnliche, wenn auch nur zeitlich begrenzte Wirkung magischer Gegenständlichkeit kann man zum Beispiel auch an jedem Karneval beobachten, wenn sich zahlreiche Personen Freiheit durch ein Narren- oder Vagabundengewand oder Macht durch ein Prinzenkleid zuordnen; drei Tage lang fühlen sie sich völlig außerhalb des Alltags stehend und von einer magischen Kraft dahin getragen.

Dieses Zurückdrängen religiöser Reflexionen auf ihre primitivsten Stufen hilft mit, den Schein der „Entideologisierung“ zu verstärken. Sowohl der ideologisch-repressive Konformismus – Gleichschaltung der Bedürfnisse, Wünsche, Gefühle, Ideen, woraus der Schein spannungsloser nichtideologischer Verhaltensweisen entsteht – als auch sein Vollzug auf der untersten, geistig am wenigsten vermittelten Ebene des Magisch-Vorreligiösen erzeugen den Schein einer (wie anerkennend gesagt wird) „nüchternen“, das heißt illusionsfeindlichen und antiideologischen Tendenz. Diese Tendenz wird gerne als ein Fortschritt gegenüber dem einstmaligen „Versinken in Ideologien“, wie z.B. Konrad Pfaff sagt, deklariert. Entgeistigung und Primitivisierung werden hier als Entideologisierung ausgegeben.

Dieses Problem ist für unseren Zusammenhang auch deshalb von besonderem Interesse, weil hinsichtlich des Rückfalls des religiösen Bewusstseins auf das Niveau nicht nur primitiver, sondern offensichtlich (besonders wenn man die sonstigen pathologischen Tendenzen im Leben der modernen Massen mit in Betracht zieht) als pathologisch nachzuweisender magischer Vorreligiosität mit allen Begleiterscheinungen der schuld-, angst- und masochistisch oder sadistisch gesteuerten Technik der Beeinflussung des Schicksals von einer pathologischen Entartung des heutigen Menschen gesprochen werden kann. Dieses Resultat wird einsichtig aus der Vermittlung der einzelnen Phänomene, in unserem Falle des Religiösen, zur vorhandenen gesellschaftlichen Totalität. Wo diese Vermittlung missachtet wird, wo die Betrachtung nicht bei der Wurzel, sondern gleichsam in der Mitte, d.h. auf einer bereits selbst abgeleiteten Ebene beginnt, findet die Unterscheidung zwischen dem Normalen und dem Pathologischen einen völlig andersgearteten Maßstab, nämlich methodisch einen formalistisch-oberflächlichen und sachlich einen relativistisch-nihilistischen. So kann einer der Hauptvertreter der „empirischen Soziologie“, der Kölner Gelehrte René König, sagen: „Die Scheidung nach normal und pathologisch folgt nun zunächst dieser Scheidung von mehr oder weniger generalisierendem Verhalten. Der Normaltyp ist der Typ von durchschnittlicher Allgemeinheit, jede Abweichung davon gehört in den Rahmen der Pathologie.“ Demnach ist der durchschlagende pathologische Zug am modernen Massenverhalten, z.B. der Teufelsglaube und die noch darüber weit hinaus gehenden magischen Tendenzen von vielerlei Art normal und jede, etwa rational oder humanistisch widerstrebende Ausnahme davon pathologisch. Diese Aussage gerät erst ins rechte Licht, wenn man in letzter Zeit bekannt gewordene Statistiken zu Rate zieht. So zum Beispiel glauben 40 Prozent der Bürger der USA an die Existenz des Teufels. Für das Problem der magischen Pseudoreligiosität wird diese Tatsache dadurch von Bedeutung, dass nicht wenige dieser Bürger davon überzeugt sind, dass der Teufelsaustreibung ein realer Sinn zukommt. Nicht weniger als ein Viertel von ihnen glaubt, dass entweder der diese Aussage machende selbst oder ein naher Angehöriger bereits vom Teufel besessen gewesen ist. In Verbindung mit andersgearteten, aber auf der gleichen Ebene des Magischen liegenden, Tendenzen kann man davon sprechen, dass die Mehrheit der Bevölkerung in magischen und bis in den Aberglauben reichenden Vorurteilen befangen ist. Nach dem Urteil von René König ist dieser Zustand der Normalität zuzuschlagen. Die Entartung ist zum Maßstab erhoben und der Zersetzung der als humanistisch definierbaren Werte nach dem Maße der herrschenden nihilistischen Ideologie Vorschub geleistet.

Nicht nur die Massen, auch die elitären Schichten der heutigen Gesellschaft haben ihre magische Instanz, wenn auch in einer völlig andersgearteten Gestalt. Diese Schichten wie die ihnen ideologisch zugeordneten Intellektuellen leiden unter der Entwertung einer, wie sie zu sagen pflegen, „gottlos gewordenen Welt“. Sie durchschauen die Wert- und Sinnfremdheit dieser Welt nicht als das Resultat der Herrschafts- und Entfremdungsverhältnisse, sondern vermeinen in ihr das subjektive Versagen des Individuums zu erkennen. So suchen sie nach einem neuen Halt. Die Lösung finden sie im Sichzurückziehen auf das „Personale“, das heißt das subjektive Ich und auf seine ihm angeblich autonom und unvermittelt zur Außenwelt innewohnende Kraft der Gewinnung von Freiheit und der Lösung der Widersprüche. Unvermittelt zur Außenwelt erscheint diese subjektivistische Haltung auch deshalb, weil die trotzdem erstrebte Vermittlung zwischen der „Person“ und dem Sein nicht a priori mitgedacht ist, sondern a posteriori kommt, erst nachträglich projiziert wird. Dem Religiösen grundsätzlich mit Skepsis und Distanz begegnend, ahnen die dekadenten Oberschichten und die sie ideologisch bedienenden Intellektuellen gar nicht, dass ihr subjektivistischer „Personal“-Mythus einen Rückfall in die religiöse Gefühls- und Denkweise darstellt. Da der ethische Bezug zu einem höheren Wesen fehlt, da an die Stelle Gottes das eigene Ich als allmächtige „personale Einheit“ selbst getreten ist, entsteht auch hier eine eigenartige pseudoreligiös-gläubige Haltung mit einem starken magischen Anflug. Was die hier aufgewiesene pseudoreligiöse Tendenz im spätbürgerlichen Bewusstsein betrifft, bietet einer der berufenen Vertreter dieses Bewusstseins eine treffende Formulierung. Der Berliner Literaturprofessor Wilhelm Emrich schreibt: „Eine Bewusstseinsstufe ist zu gewinnen, in der der Mensch ‚seiner selbst bewusst‘ geworden ist, das heißt die dualistische Spaltung zwischen ‚Ding an sich‘ und Empirie in seiner ‚Person‘ aufgehoben hat. Der Widerstreit zwischen den Direktiven, die aus dem außerempirischen, absoluten Reich der ‚Freiheit‘ in Gestalt des kategorischen Imperativs dem Menschen zukommen, und den empirischen Bedingungen und Notwendigkeiten, in die der Mensch als physisches und geschichtliches Wesen zwangsläufig gestellt ist, ist überwindbar durch ein personales Bewusstsein, das die Gegensätze als ihm eigene … begreift und damit die Widersprüche durch sich selbst als überlegene Bewusstseinsinstanz zu durchschauen und zu überwinden vermag.“

Münchhausen zieht sich selbst aus dem Sumpf! Der neue Gott ist das Ich als die „überlegene Bewusstseinsinstanz“, die „Person“. Die beschwörende Magie bemächtigt sich der eigenen Person als der Instanz, in der angeblich das geheime Einverständnis, die „geheime Identität“ „von Irrationalismus und Rationalismus durchschaut und überwunden“ wird. Selbstverständlich kommt hierbei nur ein neuer extremer und einseitiger Irrationalismus zum Vorschein, zudem von einer greifbar pseudoreligiösen und magischen Wesenheit. Die dauernde Beschwörung richtet sich an die dekadente Gegensätzlichkeit des Ich. Im Falle des Versagens wird ihm, wie einstens in der Urzeit, mit Entzug versprochener Belohnung gedroht. Da aber dieses Versagen gegenüber der schicksalbestimmenden fetischisierten „zweiten Natur“ und ihren bis ins Ideologische reichenden Auswirkungen unvermeidlich ist, ist die nihilistische Verzweiflung das Ergebnis – eine neue Säule der dekadenten Weltanschauung. Beginnend mit dem Existentialismus über absurde Literatur bis hin zur nihilistisch gestimmten Verhaltensforschung wird diese Verzweiflung in großem Bogen reflektiert. Ein Grund mehr, sich in das subjektive Ich zurückzuziehen und es mit Hilfe, sei es der Kunst, sei es der Psychologie oder der Philosophie entnommenen magischen Riten zu beschwören.

Aber auch der magisch beschworene Optimismus findet in immer wieder sich abschwächenden und neu aufflammenden Restbeständen seinen erstaunlichen Platz. Die Verzweiflung schlägt um in eine neue Hoffnung, die dem verlorenen Einzelnen Wiedergeburt verspricht. Die magische Beschwörung wird diesmal nicht in Astrologie, Lotto und Toto oder in der magischen Kraft der konsumtiven Gegenständlichkeit verankert, sondern fließt aus der Droge. Zwar scheint der zu einer allgemeinen Krankheit sich auswachsende Höhepunkt überschritten, als zahllose Individuen, durch hysterisch-emphatische Ermutigungen von pseudoreligiös gestimmten Fanatikern, zu denen auch Professoren, Theologen und Philosophen gehörten – unter ihnen kein geringerer als Aldous Huxley -, unterstützt, sich dem das Ich befreienden Rausch der LSD-Droge ergaben. Aber die Verschiebung vollzieht sich nur innerhalb des weiter wirkenden magischen Stroms. Es ist kein Zufall, dass Anthroposophie, Zen-Buddhismus, Konzentrationsriten neben dem magischen Gebrauch von Rauschgiften gerade im 20.Jahrhundert eine so große Ausbreitung gefunden haben.

In der modernen psychoanalytischen Theorie wird gelegentlich das Phänomen der modernen magischen Pseudoreligiosität bemerkt und zu erklären versucht. Obgleich es sehr umstritten ist, ob es so etwas wie den von Freud behaupteten Destruktions- und Todestrieb und das in diesem Zusammenhang oft erwähnte Nirwanaprinzip überhaupt gibt, mögen die auf das letztere bezogenen Äußerungen von Erich Fromm nicht unerwähnt bleiben. Bekanntlich versteht Freud unter dem Nirwanaprinzip den im Menschen unbewusst ruhenden Drang nach Rückkehr in den totalen Ruhe- und Gleichgewichtszustand im Mutterleib vor der Geburt. In dem Buch Zen-Buddhismus und Psychoanalyse weist Fromm auf die beim modernen Menschen beobachtete Tendenz hin, der unbewussten Sehnsucht nach dem Nirwanazustand dadurch nachzuhelfen, dass die im Zen-Buddhismus angelegten magischen Mechanismen in Anspruch genommen werden, um dem irdischen Druck zu entrinnen.

Die Ausbreitung des Zen-Buddhismus als magischem Ritual hält noch immer an. Was die Rauschgift-Magie betrifft, bleibt es heute noch wesentlich zutreffend und interessant, was der Spiegel im Jahre 1966 schrieb: „Die blauen Götter haben die Gestalt kugelförmiger Dragees. Und sie sind käuflich – auf dem Camp der Universität in Kalifornien wie in Paris unter den Seine-Brücken, in den Gammler-Cafés von London und Stockholm und neuerdings auch in Berlin. Als Kronzeuge der weltanschaulich verbrämten LSD-Bewegung indes gilt Aldous Huxley, der in seinem Buch Die Pforten der Wahrnehmung seine eigenen Erfahrungen mit Halluzinogenen, vor allem Meskalin, enthusiastisch beschrieb. Das Huxley-Buch inspirierte auch den Harvard-Psychologen Leary. Außerhalb der Universität gründete er zwei ‚Kolonien des transzendentalen Lebens‘ sowie eine ‚Internationale Vereinigung für innere Freiheit‘. Versuche mit Theologiestudenten überzeugten etwa den amerikanischen Religionsprofessor Clark, dass Rauschgifte die Menschen ‚näher zu Gott bringen‘ können.“

Zuerst erschienen in Leo Kofler: Geistiger Verfall und progressive Elite. Sozialphilosophische Untersuchungen, Bochum: Germinal-Verlag 1981, S.123-132.