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» Theorie und Praxis in der stalinistischen Bürokratie [1951]

Theorie und Praxis in der stalinistischen Bürokratie [1951]

Kritische Beobachter der sowjetischen Ordnung vertreten zum Teil die Ansicht, dass die stalinistischen Bürokraten in der Praxis deshalb so leicht versagen, weil sie im Grunde Theoretiker sind. Es wird hierbei offenbar an die für die östliche Bürokratie so bezeichnende starre theoretische Orientierung am Marxismus gedacht. Obgleich diese Ansicht gewiss einen guten Teil Wahrheit enthält, liegen die Dinge tatsächlich komplizierter, und es lohnt, einmal den Sachverhalt näher zu untersuchen. Auffallend ist vor allem, dass die Stalinisten keinesfalls die marxistische Lehre in ihrer ursprünglichen Form akzeptieren, sondern sie, sei es durch „Vergessen“ wesentlicher Bestandteile und Hinweise, sei es durch eine direkte Veränderung und Verfälschung, den aus der stalinistischen Praxis resultierenden Bedürfnissen anpassen. Allein dieser Umstand beweist, dass sie durchaus nicht Theoretiker im Sinne einer blinden Unterordnung des Handelns unter eine vorgefasste und feststehende theoretische Anschauung sind, sondern trotz der unleugbaren Tendenz zu einem solchen Verhalten, die sich aber nur da durchsetzt, wo es um die Bekämpfung Andersdenkender, um die „Reinhaltung“ der stalinistischen Ideologie geht, Politiker, die letzten Endes der Praxis den Vorrang geben. Dieses Verhalten entspricht durchaus dem marxistischen Grundsatz der Bestimmtheit der Theorie durch die gesellschaftliche Praxis. Die Frage ist nur, ob diese Praxis selbst mit der marxistischen Theorie übereinstimmt und welcher Art sie ist. Will man dem Wesen der stalinistischen Bürokratie völlig auf den Grund gehen, so ist unter keinen Umständen zu übersehen, dass der Stalinismus primär einem engen und geistlosen Praktizismus huldigt, der zunächst jeder weltanschaulich-theoretischen Orientierung im allgemeinen und der marxistischen im besonderen ins Gesicht zu schlagen scheint. Dieser Praktizismus hat seine Wurzel in der Verschmelzung der für jede Bürokratie charakteristischen formalistisch-technizistischen und deshalb der Theorie feindlichen Haltung mit der Übertragung der Verantwortlichkeit für das Funktionieren der Produktion an die Bürokratie.(1) Indem nämlich sich diese beiden Faktoren verbinden, fließen ebenso Tendenzen des rechenhaften ökonomischen Technizismus in die eigentliche bürokratisch-formalistische Arbeit, wie umgekehrt formalistische, d.h. das Individuelle und Besondere (das für das „Objekt“ der bürokratischen Entscheidung, für den Menschen, zumeist das wichtige ist) transzendierende Tendenzen in die wirtschaftliche Arbeit, mit der die Bürokratie betraut ist, einfließen. Max Weber war es, der die rechenhaft-formalistische Struktur der Bürokratie im Kapitalismus aus der Notwendigkeit für die individualistische, auf dem freien Vertragsverhältnis unabhängiger Individuen beruhenden Warengesellschaft erklärte, bei Anrufung staatlich-rechtlicher Instanzen stets die Erfolgschancen berechnen zu können. Bei Nichteinlösung eines Wechsels z.B. muss der bürokratische Apparat „ohne Ansehen der Person“ so funktionieren, dass bei Einwurf eines Geldstückes ein bereits im voraus erwartetes fertiges Urteil herauskommt. Solange das Funktionieren des bürokratischen Apparates nur auf die privatrechtliche Sphäre beschränkt bleibt, kann es von außerordentlichem Nutzen sein; verhängnisvoll wird es, sobald auch die Sphäre des öffentlichen Geschehens in diesen Bereich gerät. Die verheerenden, wenn auch für die bürgerliche Gesellschaft, die aus historischen Gründen eine Verselbständigung des Staates gegenüber der Gesellschaft durchführen musste, unvermeidlichen Folgen der Bürokratisierung des öffentlichen Lebens im Kapitalismus sind schon oft erkannt und beschrieben worden. Diese Folgen gewinnen indes dort ein geradezu erschreckendes Ausmaß, wo Verwaltung und Wirtschaft in den Händen der Bürokratie vereinigt werden. Es ist klar, dass auf der Grundlage einer solchen „Vollendung“ der Macht und des Einflusses der Bürokratie eine Anschauung entstehen muss, die ebenso formalistisch, rechenhaft, ökonomistisch und praktizistisch sein muss wie ihr Träger. Da die östliche Bürokratie historisch an die Entstehungsgeschichte des stalinistischen Staates gebunden ist, kann der Rahmen, in dem sich diese Anschauung entwickelt, nur der Marxismus sein. Die marxistische Lehre aber, die zu einer ganz anderen Zeit und unter anderen Verhältnissen entstand und die als gesellschaftskritische Lehre alle echten humanistischen Ideale der Vergangenheit in ihr System einzubauen versuchte, entspricht nicht mehr den ideologischen Bedürfnissen der stalinistischen Bürokratie. Aus dem Widerspruch zwischen der Notwendigkeit, an der marxistischen Theorie festzuhalten und gleichzeitig eine ihr völlig entgegengesetzte bürokratische Ideologie zu entwickeln, deren die Bürokratie zur Rechtfertigung ihrer Praxis bedarf, entstand die Verfälschung des Marxismus. Diese Verfälschung war allerdings durch den Umstand begünstigt worden, dass der marxistische Materialismus von Anfang an nicht bloß von vielen ihm zuneigenden Interpreten mechanistisch-naturalistisch und ökonomistisch gefasst wurde, sondern auch von seinen Gegnern, von denen hier nur Stammler, Sombart, Koppel, Masaryk, de Man, Spann, Menzer als einige Beispiele angeführt seien. Die bürgerlichen Verfälscher der marxistischen Lehre haben damit ihren stalinistischen Verfälschern einen Bärendienst erwiesen. Da aber die verfälschte marxistische Theorie aus der traditionellen Anschauung des Marxismus, dass Theorie und Praxis eine Einheit zu bilden haben, nicht allein zur Rechtfertigung der bürokratischen Praxis verwandt, sondern zur Leitlinie des Handelns überhaupt erhoben wird, kann der Anschein erweckt werden, als würde das Handeln in jeder Beziehung dem vorgefassten theoretischen Urteil unterworfen. Wäre dem aber so, dann müsste der Theorie Freiheit zur Ausgestaltung und Fortführung ihrer Ideen gewährt werden. Davon ist trotz allen Geredes von der Notwendigkeit der „schöpferischen“ Fortführung der marxistischen Lehre keine Spur festzustellen. Die Erstarrung nicht nur der politischen Ansicht, sondern auch der Theorie zur „Linie“ hat gerade den Sinn, die Theorie der Politik voll und ganz zu unterwerfen und zu verhindern, dass sie andere als die von der Bürokratie selbst vorgezeichneten Wege wandelt. Dennoch ist es kein Zufall, dass die meisten stalinistischen Bürokraten sich mehr oder weniger mit theoretischen Fragen beschäftigen und in diesem Sinne tatsächlich „Theoretiker“ sind. Andererseits sind sie dies nur zum Schein, denn sie sind im wesentlichen praktische Politiker, und Politik treiben lässt sich nicht nach den Vorschriften einer wissenschaftlichen Theorie, die bestenfalls den politischen Trend zu zeichnen im der Lage ist. Ihre Vorliebe für die Theorie resultiert aus dem gleichen Misstrauen und aus der gleichen Schwäche, die auch Napoleon die Theoretiker hassen und sie als „Ideologen“ geringschätzig bewerten ließ. Sowohl das traditionelle Festhalten an der marxistischen Vorstellung von der überragenden Bedeutung der revolutionären Theorie für das revolutionäre Handeln, wie auch das Bedürfnis nach Begründung und Rechtfertigung einer gegen die ganze alte Welt sich aufbäumenden Handlungsweise – alle bisherigen Revolutionen waren deshalb auch ideologische Revolutionen – veranlassten die Bürokratie der Sowjetunion und in der Folge auch der übrigen Oststaaten die wichtige Rolle der Theorie anzuerkennen und zu unterstreichen. Da aber die stalinistische Bürokratie aus ihrer mechanistisch-praktizistischen und damit antiintellektualistischen Haut nicht heraus kann, d.h. die Furcht, der Abscheu und das Misstrauen gegen die Intellektuellen und die Wissenschaft (mit einer gewissen Ausnahme der Naturwissenschaft, die die Bürokratie als wesentlich praktisch ansieht) zu tief verwurzelt sind, zieht sie die Intelligenz einerseits unter ihre unmittelbare Kontrolle und versucht anderseits, durch Aneignung der wichtigsten „wissenschaftlichen“ Einsichten und Gemeinplätze sich selbst einen theoretischen Rang zu sichern, um auf diesem Wege eine Einmischung in die Belange der Wissenschaft erreichen zu können. Sie geht hierbei mit erstaunlicher Geschicklichkeit vor. Vorerst entnervt, schwächt und diffamiert sie die Wissenschaft, indem sie sie mit Hilfe ständiger Einmischungen und Vorschriften in eine mechanistisch-bürokratische Zwangsjacke steckt und ihre Schaffenskraft lähmt, um dann mit blendender Sicherheit die so selbst verschuldeten Schwächen herauszufinden und ein zumeist vor aller Öffentlichkeit tagendes Strafgericht gegen sie zu inszenieren. Die stalinistische Bürokratie kann es sich einfach nicht erlauben, ihre „Liebe zur Theorie“ ernst zu nehmen, denn sie misstraut der Wissenschaft von Grund auf als der Inkarnation der Freiheit des Geistes und damit der Freiheit überhaupt. Sie degradiert daher die Theorie zur Magd der praktizistisch-bürokratischen Bedürfnisse, zur Theologie einer nicht denkenden, sondern nur betenden Kirche, deren Priester die Bürokraten und deren Weihwedel die Wissenschaftler sind. Um mit den Intellektuellen, die sie nicht gänzlich entbehren kann, fertig zu werden, sorgt die Bürokratie für eine eigene und ihr willfährige „Intellektuellen“schicht, die die Eigenart hat, der Sphäre der politischen Tätigkeit zu entstammen, die Nabelschnur zur Bürokratie nicht abgerissen hat und die marxistische Theorie völlig nach dem Maß des bürokratischen Denkens zuschneidet. Diese Schicht ist die Geistesbürokratie des Stalinismus, die in ihrer Art einzig in der Geschichte dasteht. Die Geistesbürokraten sind die Spezialisten der Bürokratisierung des Marxismus. Es sind oft kluge und gerissene „Dialektiker“ (dies im schlechtesten Sinne des Wortes), die aber ungeachtet ihrer dogmenhaften Beherrschung der marxistischen Thesen über ein Halbwissen nicht hinausgelangen. Dennoch sind sie in der Lage, die Wissenschaftler mit einer ihnen spezifischen Methode, die aus einem Gemisch von spitzfindigem Ermitteln einzelner Schwächen und Einschüchterung besteht, auf die gewünschte Bahn des ideologischen Bürokratismus zu drängen. Wie dies im einzelnen auf den Gebieten der Philosophie, der Geschichtsbetrachtung, der Ökonomie und der politischen Theorie geschieht und was dabei herauskommt, welch ein Ergebnis erreicht wird, kann in diesem Rahmen nicht erläutert werden. Vergleicht man die heutigen Träger der stalinistisch-bürokratischen Ideologie oder, was dasselbe ist, die an einer Theorie sich orientierenden Politiker des Stalinismus etwa mit solchen wirklich theoretisierenden Politikern wie den Girondisten der großen Französischen Revolution oder den Professoren des Frankfurter Parlaments von 1848, so wird der Unterschied offenbar. Sowohl die Girondisten als auch die Abgeordneten der Paulskirche schätzten die theoretische Überlegung, wenn auch nicht als bloßen Selbstzweck, so doch als ein Erkenntnismittel, das allem Handeln vorausgeht und unter keinen Umständen von der niederen Sphäre praktischer politischer Bedürfnisse verunreinigt werden darf. In dieser Haltung lag sowohl ihre Schwäche als auch ihre Stärke. Ihre Stärke, weil sie in ihrer Ansicht eine geistige Stütze fanden, deren sie sich in jedem Sturm und in allen Augenblicken der Verwirrung bedienen konnten. Ihre Schwäche hingegen lag darin, dass sie eben wegen der starren Orientierung an der Theorie nicht jene Beweglichkeit und Raffinesse aufbrachten, die nun einmal keine Politik entbehren kann und deren einzelne Elemente nicht aus einer fertigen Theorie, sondern aus den Notwendigkeiten des Augenblicks geboren werden. Man vergegenwärtige sich zum Vergleich so gegensätzliche Geister wie Cromwell und Richelieu. Dabei wird klar, dass große Politiker durchaus ihre weltanschaulichen und theoretischen Grundsätze besitzen, von diesen jedoch keineswegs irgendeine Wegweisung für jeden Schritt des politischen Handelns erwarten. Die Politiker des Stalinismus lassen sich daher eher mit den eben erwähnten Gestalten als mit den Girondisten und Frankfurtern vergleichen. Was sie indes sowohl von den ersteren als auch von den letzteren unterscheidet, ist ihre Dekadenz, die zu einer Verfälschung und Entseelung ihrer eigenen theoretischen Ausgangsposition zwingt. Dadurch sind sie noch weitaus mehr mit allen dekadenten und daher eine ähnliche Beziehung zur Theorie eingehenden Bewegungen der Geschichte vergleichbar als mit echten und großen politischen Bewegungen und Personen. Die stalinistische Politik liebt es, mit der Theorie des Marxismus zu plagieren; aber sie ist, da ihre historische Funktion nicht mehr mit der einst wirklich marxistischen Ausgangsposition des russischen Sozialismus übereinstimmt, auch nicht mehr in der Lage, die Reinheit der marxistischen Theorie zu bewahren. Durch diese Haltung zur eigenen theoretischen Anschauung unterscheidet sich die stalinistische Bürokratie ebenso von den Girondisten wie von Cromwell und Richelieu. Das Verhältnis zwischen der stalinistischen Bürokratie und ihrer Ideologie gestaltet sich somit recht kompliziert und lässt sich nicht auf einen einfachen Nenner bringen. Diese Tatsache rechtfertigt keine Illusionen. Trotz ihrer Dekadenz sind die Wurzeln der theoretischen Ideologie der stalinistischen Bürokratie noch sehr stark und der erzieherische und den intellektuellen Habitus des Volkes gestaltende Einfluss dieser Ideologie noch nicht brüchig. Auch hier bestätigt sich die Erfahrung, dass, je stärker eine Nation einem solchen Einfluss unterliegt, um so gewisser eine geistige Tradition entsteht, die, möge sie auch nur einige Jahrzehnte alt sein, nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten überwunden werden kann. Dennoch ist die Annahme nicht von der Hand zu weisen – und alle Beobachtungen, die der Verfasser in der Sowjetzone machen konnte, bestätigen es -‚ dass die breite Schicht der äußerlich sich zunächst unterwerfenden Intellektuellen das tiefe Becken bildet, in dem sich der kritisch-oppositionelle, wenn auch prinzipiell sozialistische Geist sammelt.(2) Eine innere Erschütterung des Regimes vorausgesetzt, kann dann in Verbindung mit internationalen Ereignissen die Entwicklung von heute in ihrer Form noch nicht vorausschaubaren Fraktionskämpfen erwartet werden, die letzten Endes zu einer Demokratisierung der gesellschaftlichen Lebensform führen muss. Wie sich das im einzelnen abspielen wird, ist ebensowenig vorauszusehen, wie der Abfall Titos vorauszusehen war. Es ist aber anzunehmen, dass die Bürokratie und ihr Geist allmählich ermüden werden, da eine dekadente und marklose Ideologie auf die Dauer nicht die Kraft aufbringt, die Rolle eines festen und belebenden Glaubensdogmas zu spielen. Die Staatsführung mag sich dann noch so sehr gegen eine Schwächung ihrer Herrschaft wehren, eine Änderung der Verhältnisse, die sich vorerst in der Tiefe der Nation anbahnt, ist nicht zu verhindern. Welche konkrete politische Form diese Änderung annehmen wird, kann gleichfalls heute noch nicht vorausgesagt werden. Eines aber ist sicher: Eine einfache Wiederherstellung des Kapitalismus ist nicht möglich. Anmerkungen: (1) Nebenbei sei bemerkt, dass die Verbürokratisierung der Gesellschaft keineswegs eine notwendige Begleiterscheinung des Sozialismus darstellt. Diese Ansicht ist unhistorisch und schablonenhaft. Die Bürokratisierung der russischen Gesellschaft hatte ihren Grund in Mehrfachem, wovon wir hier nur das Wichtigste andeuten wollen: in der Rückständigkeit der östlichen Arbeiterschaft, die zur Selbstverwaltung unfähig war, in der zahlenmäßigen Schwäche der Arbeiterschaft, in der Schwächung der anfänglich außerordentlich starken Ausweitung der Demokratie durch die Passivität des noch durch keine demokratische Erziehung hindurchgegangenen Volkes (ähnlich Deutschland unter dem Faschismus), durch die Passivität der demokratischen Kräfte im Kampfe der Fraktionen, in dem Sichaufreiben und Zersplittern der demokratisch-sozialistischen Kräfte im Bürgerkriege, in der Übertragung der Polizeifunktion an die Bürokratie usw. (2) Was z.B. die SED betrifft, so kann von ihr etwa das gleiche gelten, was ein italienischer Bericht (Der Monat, 3.Jg., Heft 31, S.39) mitteilt: „Bei Kriegsende hatte die Kommunistische Partei Italiens Anspruch erheben können, die liberalste und toleranteste Europas zu sein. Aber ihr späteres Verhalten hat ihnen (den Kommunisten) besonders unter den Schriftstellern sehr geschadet.“

Erstveröffentlichung in: PZ-Archiv Nr.11, 5.6.1951, S.6f.