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» Über die Freiheit [1951]

Über die Freiheit [1951]

Man mache sich nichts vor: Es gibt keine gesellschaftliche Freiheit ohne Freiheit für das Individuum, das nach Selbstbestimmung und Unabhängigkeit strebt und das, solange es menschliche Geschichte gibt, unter Freiheit die möglichste Freiheit von allen Schranken und Bindungen verstanden hat, versteht und verstehen wird. Im Vergleich zu den vorangegangenen Gesellschaftsepochen stellt die bürgerliche Gesellschaft innerhalb der Klassengeschichte die letzte und höchste Form der Freiheit dar. Aber es ist ein Irrtum der bürgerlichen Ideologie, diese Form der Freiheit mit der absoluten Freiheit gleichzusetzen. Denn die bürgerliche Freiheit, die dem Individuum in weitgehendem Maße freie Bewegung gewährt, stellt gleichzeitig eine Form dar, die eine solche Freiheit nur vortäuscht, indem sie unter dem Schein der Freiheit die Weiterexistenz starker freiheitsbeschränkender Bindungen, d.h. wesentlicher Elemente der Unfreiheit, nicht bloß zuläßt, sondern geradezu voraussetzt. Der Widerspruchscharakter der bürgerlichen Freiheit ist Ausdruck des Widerspruchscharakters der bürgerlichen Klassengesellschaft überhaupt. Er liegt begründet in der Tatsache, daß einerseits in der bürgerlichen Gesellschaft das Individuum – jedes Individuum – als völlig autonomer und gleichberechtigter Warenbesitzer (Besitzer von Schuhen, geistigen Produkten oder von Arbeitskraft) und damit als völlig autonomer und gleichberechtigter Vertragspartner erscheint, andererseits aber der einseitige, d.h. ganze Klassen ausschließende Besitz an den Produktionsmitteln gleichzeitig diese Autonomie und Gleichberechtigung der Individuen aufhebt. Der durch diese Tatsache ausgedrückte Widerspruch ist der Widerspruch zwischen dem bloß rechtlichen (formalen) und dem auf der Besitzverteilung beruhenden faktischen (sozialen) Zustand in der bürgerlichen Gesellschaft.

Rechtliche Freiheit – ökonomische Unfreiheit!
Es ließe sich (was nicht die Absicht dieses Aufsatzes ist, der nur die wichtigsten begrifflichen Bestimmungen zu geben versucht) zeigen, daß aus dem erwähnten Widerspruchscharakter des bürgerlichen Seins jene Erscheinung mit Notwendigkeit resultiert, die in der marxistischen Theorie unter der Bezeichnung der Entfremdung und Verdinglichung bekannt ist. Die Bedeutung einer solchen Untersuchung läge dann im Beweis, daß selbst für die im Besitze der Produktionsmittel sich befindende bürgerliche Klasse der Widerspruch zwischen der formalen und der sozialen Freiheit seine, wenn auch besondere, so doch sehr konkrete und tiefgreifende Auswirkung hinsichtlich der Freiheit des bürgerlichen Individuums hat; auch das bürgerliche Individuum sieht sich in den Widerspruch zwischen Formalität und Faktizität unentrinnbar verstrickt, welcher Umstand selbst bis tief in das bürgerliche Denken hinein wirkt.

Die Aufhebung des Widerspruchs zwischen der formalen Freiheit und der sozialen Unfreiheit bedeutet die Aufhebung der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt; sie ist innerhalb dieser Gesellschaft nicht möglich. Wenn wir zu Beginn eine wesentliche Bestimmung der Freiheit darin erkannten, daß sie dem Individuum die möglichste Unabhängigkeit und Selbstbestimmung gewährt, so ist zweifellos der Sozialismus, der die notwendige Folge der Aufhebung des obigen Widerspruchs sein muß – und wir meinen selbstverständlich den vollendeten und der Übergangsmaßnahmen nicht mehr bedürfenden Sozialismus -‚ die historische Inkarnation der Freiheit. Auf dieser Höhe der historischen Entwicklung, die nur von Reaktionären und Unwissenden in ihrer historischen Möglichkeit geleugnet werden kann, ist die Freiheit des Individuums sowohl nach der rechtlichen Seite hin (etwa im Gegensatz zur feudalständischen, in juristischer Form auftretenden Bindung), wie auch nach der ökonomischen Seite (im Gegensatz zu jeder Klassengesellschaft) voll hergestellt.

Aber es wäre, besonders für die Sozialisten, verhängnisvoll zu glauben, daß mit dieser Bestimmung der Freiheit als der Freiheit des Individuums von Bindungen, durch die es sich anderen Individuen oder objektiven Mächten ökonomisch oder rechtlich unterworfen sieht, auch die letzte Bestimmung des Freiheitsbegriffs gewonnen wäre.

So sehr es wahr und verständlich ist, daß in aller Klassengesellschaft die Sehnsucht nach dem Abschütteln solcher Bindungen die Menschen beherrscht, d.h., daß das einfache Nichtvorhandensein dieser Bindungen, also etwas bloß Negatives, mit Freiheit schlechthin gleichgesetzt wird, so berechtigt ist es auch, einem solchen bloß negativen Freiheitsbegriff mit Mißtrauen zu begegnen. Dieses Mißtrauen hat nichts zu tun mit jener reaktionären Verleumdung des Menschen, wonach die voll der Freiheit teilhaftig gewordenen Individuen sich nur noch der Faulenzerei, Freßsucht und Fleischeslust hingeben und der Entartung anheimfallen werden. Nicht nur ist die Arbeit ein Trieb und ein natürliches Bedürfnis und kann in der von allem unmenschlichen Zwange befreiten Gestalt ebenso zur Lust werden wie viele andere Betätigungen, die der Mensch heute schon freiwillig und wiederum aus einem tiefen Bedürfnis heraus auf sich nimmt, sondern es kommt noch hinzu, daß unter der Aufsicht und Erziehung einer ausschließlich in den Dienst des Menschen gestellten gesellschaftlichen Organisation ohne Beschränkung der individuellen Freiheit der Mensch angeleitet werden kann, seine Kräfte und Anlagen fruchtbringend zu nützen. Doch dies nur nebenbei.

Freiheit wovon? – Freiheit wozu?
Unser Mißtrauen gegen den bloß negativen Freiheitsbegriff resultiert vielmehr gerade aus der Überzeugung von der unendlichen Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeit der menschlichen Persönlichkeit, welche Überzeugung wir grundsätzlich mit den großen bürgerlichen Humanisten der bürgerlichen Aufstiegszeit teilen, die aus den Erkenntnissen des wissenschaftlichen Sozialismus sich ergebenden wesentlichen Unterschiede in der Auffassung abgerechnet. Daß wir uns hierbei mit Marx in Übereinstimmung befinden, sei hier nur an einem einzigen Beispiel demonstriert. Nach Schiller hat die Arbeitsteilung die Schuld an der Deformation des Menschen, der der „Kultur“ unterworfen ist und dem Zustande der „Natur“, wie er in der griechischen Antike eine schöne Vollendung fand, sich entfremdet hat; damit ist der ganze Mensch verlorengegangen; das wesentlichste Merkmal im Verhalten des noch seiner Totalität mächtigen Menschen ist der „Spieltrieb“. Marx und Engels kritisieren ebenso die die Persönlichkeit zerteilende Wirkung der Arbeitsteilung und fordern die Wiederherstellung des ganzen Menschen; und wie Schiller die freie Verfügungsgewalt des Individuums über die Vielfalt und Potenz seiner Kräfte und Anlagen in der Form ihrer ständigen Betätigung und Übung sehr treffend als Spieltrieb bezeichnet, so auch Marx, der in seinem Hauptwerk, dem „Kapital“, nicht weniger als zweimal sich in ähnlicher Weise ausdrückt, so z.B. wenn er einmal vom „freien Spiel der geistigen und physischen Kräfte“ spricht. Es ist höchst bezeichnend für die Einengung des Sozialismus auf einen naiven „Glücks-“ und Wurstzipfelsozialismus sowohl im Reformismus als auch im Stalinismus – oh, welch‘ wunderbare Harmonie zwischen den feindlichen Brüdern ergibt sich aus der theoretischen Unkenntnis und Dogmatisierung des Marxismus! -‚ daß diese wichtige Stelle bei Marx so gut wie gar nicht bemerkt und noch weniger in ihrer theoretischen Bedeutung erkannt wurde.

Freiheit zur Persönlichkeitsbildung!
Dem aufmerksamen Leser wird aus dem bisherigen bereits klargeworden sein, welche weitere Bestimmung des Freiheitsbegriffes wir vom sozialistischen Standpunkt für unerläßlich halten. Zu den beiden negativen, weil auf die bloße Überwindung von historisch entstandenen gesellschaftlichen Bindungen und Schranken gerichteten Bestimmungen der persönlichen oder formalen und ökonomischen oder sozialen Freiheit kommt die dritte positive Bestimmung hinzu: In ihr begreift sich die Tatsache, daß der Mensch nur dann voll und ganz in den Genuß der Freiheit gelangt und im eigentlichen Sinne des Wortes ein freies Wesen wird, wenn er auf jener Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung angekommen ist, auf der die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit zu Totalität und Harmonie praktische Möglichkeit geworden ist. Es läßt sich in definitorischer Verkürzung dieser Tatbestand mit den Worten ausdrücken: Freiheit ist Persönlichkeit! Der seiner Kräfte nicht bewußte, seine Begabungen im Schlummerzustande erhaltende und sie nicht produktiv betätigende Mensch ist niemals frei, möge ihm die unter den menschenfeindlichen Verhältnissen des Kapitalismus geweckte Sehnsucht nach der Herstellung jener Freiheiten, die wir die negativen genannt haben, als die Inkarnation der Freiheit überhaupt erscheinen.

Es bleibt noch in diesem Zusammenhange die Frage zu beantworten, in welchem Verhältnis die beiden negativen Bestimmungen der Freiheit zu ihrer positiven Bestimmung stehen. Die Antwort lautet: in dem Verhältnis der Voraussetzungen zur Verwirklichung der Freiheit. Dabei sind diese Voraussetzungen gleichzeitig nur im Hinblick auf das endgültige Ziel der sozialistischen Freiheit bloße Voraussetzungen, im historischen Prozeß selbst wiederum zu verwirklichende Ziele und daher ihrerseits Stufen der Verwirklichung der Freiheit.

Diese dialektische Bezüglichkeit und Widersprüchlichkeit im historisch-konkreten Begriff der Freiheit nicht erkannt oder nicht genügend beachtet zu haben, ist der gemeinsame (erkenntnistheoretische) Mangel zahlreicher sonst völlig verschiedener Ansichten über die Freiheit, angefangen von den bürgerlichen Humanisten des 18.Jahrhunderts bis hinauf zu den Vulgarisatoren des Marxismus, die die Freiheit aus dem Fehlen der Unfreiheit erklären, ähnlich wie manche Ökonomen nach einem Worte von Marx die Armut aus der poverté erklärt haben.

Bis jetzt haben wir nur Vorbedingungen der Freiheit
Zu einer Zeit, als es noch keine russische Revolution gab, mochte eine solche Gleichsetzung von Freiheit mit der Möglichkeit zur Entwicklung der Persönlichkeit noch als eine völlig abstrakte, wenig sinnvolle und die politische Praxis in keiner Weise berührende „idealistische“ Konstruktion erscheinen. War in einigen Ländern bereits mit Müh‘ und Not die individuelle Freiheit mit all den Konsequenzen der Gewissens-, Preß-, Versammlungs- und Organisationsfreiheit einigermaßen sichergestellt, so konnte man angesichts der verelendeten, unter menschenunwürdigen Verhältnissen lebenden und in maßloser Weise vom Kapitalismus ausgebeuteten Massen tatsächlich an nichts anderes denken als an die Erkämpfung der sozialen Freiheit, d.h. der Freiheit von Elend, ökonomischem Druck und Ausbeutung auf dem Wege der Vernichtung der bürgerlichen Klassenherrschaft. Es wurde zwar stets in kleinen Kreisen und in utopisierender Weise über die künftige Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit lebhaft diskutiert, aber man nahm selbst hier diese Ideen irgendwie nicht ganz ernst. Das naheliegende und alle Sozialisten direkt berührende Problem war die ökonomische Besserstellung der Massen.

Aber der Mangel einer solchen einseitigen Vorstellungsweise zeigte sich sofort, sobald der erste sozialistische Staat der Welt daranging, die sozialistischen Ideale zu verwirklichen. Zunächst haben objektive Umstände, wie der wirtschaftliche Ruin als Folge von Krieg und Bürgerkrieg, die ökonomische Zurückgebliebenheit Rußlands und die Notwendigkeit, angesichts der Bedrohung von außen aufzurüsten, die Lösung selbst des rein ökonomischen Freiheitsproblems erschwert. Aber nicht nur die objektiven Schwierigkeiten waren daran schuld, daß ein flacher, den Menschen und seine Individualität mißachtender Ökonomismus sich breit machte und je länger desto mehr der gesamten ökonomischen und besonders politischen Praxis eine unhumanistische Note aufprägte; nicht minder und nicht zuletzt ist dafür verantwortlich zu machen die noch aus der kapitalistischen Verdinglichungsstruktur stammende und im „sozialistischen“ Ökonomismus fortwirkende Verengung der sozialistischen Problematik auf eine einseitig ökonomische Sicht, wobei gerade das Stehenbleiben bei der Idee der ökonomischen Befreiung des Menschen jene Mechanisierung des politischen und theoretischen Denkens mit verschuldete, die ein wesentliches Merkmal der Ideologie der sowjetischen Bürokratie ausmacht.

Wer sich mit dem eigenartigen Phänomen der Bürokratisierung der sozialistischen Theorie in der Sowjetunion beschäftigt und Gelegenheit gehabt hat, es ausführlich zu studieren, wird an der Verwirtschaftlichung und an der damit eng zusammenhängenden Enthumanisierung des Denkens und der Praxis nicht vorbeigehen können. Eine der interessantesten, aber auch traurigsten Erscheinungen in dem Entartungsprozeß der bürokratischen Ideologie ist die Negierung der Notwendigkeit der Beibehaltung der individuellen, im Kapitalismus bloß formalen, auf dem Boden der sozialistischen Ökonomie aber auf eine höhere Stufe ihrer Verwirklichung gelangenden Freiheit, der, sofern sie sich in den Augen der arbeitenden und sozialistisch denkenden Massen nicht ganz als Notwendigkeit verleugnen läßt, nur in scheinhafter (teilweise sich sogar des gewöhnlichen Schwindels – wie speziell in der Ostzone zu beobachten – bedienender) Weise ein gewisser Spielraum zugestanden wird. Das Entscheidende ist hierbei aber, daß gerade wegen dieser mangelnden Sicht auf die grundlegende Rolle der individuellen Freiheit im sozialistischen Staate (die sich mit der Wachsamkeit gegen den Klassenfeind durchaus vereinbaren läßt) auch die Sicht auf das Problem der Entwicklung der menschlichen Persönlichkeit im oben dargestellten Sinne vollkommen verlorengeht, die Beziehung zwischen der negativen Freiheit als Voraussetzung und der positiven Freiheit als Verwirklichung unerkannt bleibt und dadurch das humanistische Richtmaß für das sozialistische Handeln, d.h. das unentbehrliche Korrektiv in aller sozialistischen Menschenbehandlung, Ökonomie, Politik und Wissenschaft, einfach fehlt. Die verheerende Folge ist die Herabwürdigung des arbeitenden Menschen zu einem passiven Werkzeug einer ökonomischen Zielsetzung, seine Ausschaltung als einer in wirklich demokratischer Weise mit gestaltenden Kraft (siehe Jugoslawien, wo in letzter Zeit mit Erfolg eine wirkliche Demokratisierung des sozialen Lebens durchgeführt wird), die Vernichtung der freien Diskussion in der Wissenschaft mit allen Folgen der Dogmatisierung der marxistischen Theorie, ihrer Entartung zu einem vulgären Ökonomismus und der kindlich-naiven Gleichsetzung der bürokratischen Denkweise mit marxistischem Schöpfertum usw.

Die spätbürgerliche Kümmerform der Freiheit
Aber wenn auch in seiner revolutionären Aufstiegszeit die großen Ideologen des Bürgertums stets und nicht zuletzt unter Freiheit die auf der Grundlage des laissez-faire und der darauf entstehenden gesellschaftlichen Harmonie sich entfaltende Möglichkeit zur unendlichen Entwicklung und Wiederherstellung der Totalität der Persönlichkeit verstanden, so ist von diesem einstigen humanistischen Ideal beim heutigen Bürgertum nichts mehr zu verspüren. Was übriggeblieben ist, das ist ein leerer Konkurrenz-Individualismus, durchtränkt von einem pessimistisch-dekadenten Menschenbild, der der Vorstellung eines Hobbes, wonach die Menschen von Natur aus nur ihr eigenes Interesse verfolgende Raubtiere darstellen, wieder recht nahe kommt. In den beiden scheinbar einander grundsätzlich entgegengesetzten, in Wahrheit aber der gleichen Wurzel entspringenden Formen des kapitalistischen Individualismus, im Liberalismus (heute vertreten durch Röpke und Hayek) und im Monopolismus, hat das alte humanistische Ideal des Bürgertums gleichermaßen sein Heimatrecht verloren. An die Stelle dieses Ideals ist – ob zugestandener- oder nicht zugestandenermaßen ist nicht von Belang – die Idee vom Recht des Stärkeren getreten, und das ist das Recht des Besitzenden.

Mit welchem Recht von einem solchen Standpunkt aus mit Fingern auf die Sowjetunion gewiesen wird, bleibt völlig unerfindlich. Die Reaktionäre pflegen auf ihre Demokratie zu verweisen. Ja, es ist tatsächlich ihre Demokratie, die wir vor Augen haben. Wie viele sozialistische oder gar marxistische Professoren dürfen auf Grund des gut demokratischen Rechts der Gleichberechtigung der freien Meinungsäußerung an den Universitäten lehren? Nicht der Rede wert! Die bürgerliche Demokratie ist nur eine Form, hinter deren goldgelbem Aufputz sich die Diktatur der Bourgeoisie verbirgt, jederzeit bereit, offen hervorzubrechen, wenn ein ernster Schritt von der bloß formalen zur sozialen Freiheit hin getan werden soll, d.h. ein Schritt, der das bürgerliche freiheitsfeindliche Monopol an den Produktionsmitteln zu erschüttern droht.

Die Schreier, die sich über die Diktatur in der Sowjetunion mokieren, vergessen, daß die Bourgeoisie ebenfalls sich der Diktatur bediente, um zur Macht zu kommen. Sollen wir sie an so markante Beispiele wie die Diktatur der Jakobiner, die Cromwellsche Diktatur und die Diktatur Calvins in Genf erinnern? Das wird nicht nötig sein, denn dazu sind sie zu gebildet, um das nicht zu wissen. Aber ihre Bildung reicht nicht mehr so weit zu wissen, daß ihre eigene Demokratie, „ihre“ Demokratie, auf die sie so unendlich stolz sind, gar nicht das Werk des Bürgertums gewesen ist, sondern das Werk der nachdrängenden unteren Klassen. Daran wollen wir sie mit einigen kurzgefaßten historischen Hinweisen „erinnern“.

Nicht das Bürgertum brachte den Massen die Freiheit…
Die gesamte Geschichte der Entstehung der bürgerlichen Demokratie ist von dem Widerspruch belastet, daß einerseits die Idee der Volkssouveränität auf die Fahnen der revolutionären Bourgeoisie geschrieben wird, andererseits aber dieselbe Bourgeoisie ständig erklärt, die Volkssouveränität sei nicht als die Souveränität des ganzen Volkes aufzufassen, sondern nur als die Souveränität der Besitzenden. Im Kommunistischen Manifest drückt das Marx so aus, daß er sagt, für die Bourgeoisie ist „die Person der Eigentümer“. Nach der Auffassung, die dieser Gleichsetzung im bürgerlichen Bewußtsein zugrunde liegt, ist der Eigentumslose im letzten Sinne nicht Person, deshalb auch nicht vollwertiges Rechtssubjekt und des vollen Gebrauchs der Freiheitsrechte nicht fähig. John Locke z.B. sagt in seinen „Zwei Versuchen“ im Zusammenhang einer Betrachtung über die Sklaverei ausdrücklich, daß die Eigentumslosen als nicht zur Gesellschaft gehörig zu betrachten seien. Ganz ähnlich argumentiert Cromwell in seiner Diskussion mit den Soldatenräten; er erklärt, daß den Besitzlosen nicht das Wahlrecht gewährt werden könne, weil sie kein Interesse am Staate hätten. Mit einer ganz ähnlichen Begründung wird in der ersten Nationalversammlung der großen Französischen Revolution von einem Anhänger der physiokratischen Anschauung, also einem konsequenten Vertreter der bürgerlichen Gesellschaftsauffassung, der Antrag gestellt, den Besitzlosen nicht das Wahlrecht zu gewähren, da sie nicht zur Gesellschaft (!) gehören. Selbst in der zweiten, d.h. radikaleren Fassung des „Volksvertrages“ von John Lilburn (Führer der Leveller in der großen englischen Revolution), in der zum ersten Male ein vollendetes Programm der bürgerlichen Demokratie aufgestellt worden ist, wird den Besitzlosen das Wahlrecht entzogen. Bis zu Kant und Schön und selbstverständlich darüber hinaus wird dieser Standpunkt der Nichtzulassung der Besitzlosen zum vollen Genuß der bürgerlichen Freiheitsrechte von den bürgerlichen Ideologen beibehalten.

Das Bild ist gerade das Umgekehrte von heute. Während in den früheren Jahrhunderten der humanistische Glaube an die künftige Entwicklung der Gesellschaft zu einem harmonischen Zustand und die damit verbundene Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit aller Gesellschaftsmitglieder noch einher ging mit einem tiefen Mißtrauen gegen den Eigentumslosen (z.B. schon bei John Milton, der gleichfalls das Wahlrecht beschränkt sehen wollte), geht in der Zelt der stabilisierten demokratischen Diktatur der Bourgeoisie ein tiefer menschenfeindlicher Pessimismus Hand in Hand mit dem auf Erfahrung beruhenden Wissen, daß die bürgerlich-,,demokratischen“ Herrschaftsmethoden vollauf ausreichen, um dem den Volksmassen gewährten Wahlrecht die revolutionäre Spitze abzubrechen, also Hand in Hand mit einem reaktionären Vertrauen zu den Besitzlosen.

Man hat versucht, die Durchbrechung der Volkssouveränitätsidee, d.h. der programmatischen Grundidee der bürgerlichen Demokratie, durch die alten revolutionären Vorkämpfer der bürgerlichen Demokratie aus der Furcht zu erklären, die unwissenden und vielfach im Dienste des feudalen Adels stehenden Knechte, Diener und Arbeiter würden ihren Herren die Stimme geben (Vorländer, Max Adler, Bernstein, Meusel u.a.). Aber gegen diese Auffassung, die einen gewöhnlichen Hereinfall auf die Argumente und Ausreden der Ideologen der Vergangenheit selbst darstellt, spricht dreierlei.

Erstens: Dieses Argument wird keineswegs stets und nicht einmal in der Mehrzahl der Fälle gebraucht. Vielmehr wird vielfach offen und in weitaus überzeugenderer Weise die Unfähigkeit des Besitzlosen, sein Interesse der Gesellschaft – die stets als eine Gesellschaft der Besitzenden aufgefaßt wird (sehr ausdrücklich bei Locke) – zu unterwerfen, betont.

Zweitens: Es fällt auf, daß man niemals daran denkt, etwa jenen, die man in offenen Feldschlachten bekämpft und zu Hunderten auf das Schafott schickt, nämlich den Adligen, das Wahlrecht zu entziehen. Wir haben hierin einen Beweis, daß der Besitzende immer als des Gebrauchs der Freiheitsrechte fähig beurteilt wird, vorausgesetzt, daß er sich nicht gegen diese Freiheitsrechte selbst stellt. Der Adlige also, der sich der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Gesetzen unterwirft, ist Besitzender, Person, Staatsbürger wie Bourgeois, wer Besitz hat ist daher von vornherein zum Gebrauch des Wahlrechts fähig.

Drittens: Selbst zu einer Zeit, als längst bewiesen war, daß die Volksmassen antifeudal gesinnt sind und als später die feudale Reaktion keine ernste Gefahr mehr darstellte, hat die Bourgeoisie sich geweigert, die Besitzlosen zum Wahlrecht zuzulassen. 1793 waren es die Volksmassen unter der Führung proletarischer Elemente gewesen, die die demokratische Verfassung dieses Jahres, in der ausnahmslos allen das Recht zu wählen gegeben wurde, erzwungen hatten. Es stand von diesem Augenblick an fest, daß das Volk ebenso antifeudal gesinnt sei wie die Bourgeoisie. Aber 1794, nach dem Sturze Robespierres, war es dieselbe Bourgeoisie, die den Besitzlosen das Wahlrecht wieder entzog. Demgegenüber pflegt man sich auf England und seine „liberalen“ Wahlreformen zu berufen. Es ist dies, sagt man, das England der alten freiheitlichen Traditionen, der altehrwürdigen parlamentarischen Regierungsform und der Habeas-Corpus-Akte(1). Es ist aber auch, sei dem entgegengehalten, das England, unter dessen „parlamentarischen“ Regierungsformen das größte Bauernlegen der neuzeitlichen Geschichte, das selbst das preußische in den Schatten stellt (die Enclosures(2) des 18.Jahrhunderts, die Marx als einen „parlamentarischen Raub“ bezeichnet), stattgefunden hat. Im übrigen waren die englischen „Parlamente“ durchweg feudaler als die gleichzeitigen französischen états généreaux, in denen das Bürgertum für sich beriet, während in England der Ritteradel dem Bürgertum zugesellt war und, wie alle ehrlichen Historiker von Hatschek bis Trevelyan ohne weiteres zugeben, es immer verstand, seine feudalen (!) Belange durchzusetzen. Wir können in diesem Rahmen nicht den Nachweis führen, daß es mit den übrigen „freiheitlichen“ Einrichtungen und Dokumenten ganz ebenso bestellt war. Nur über die Habeas-Corpus-Akte sei ein Wort gesagt, weil ihr Schicksal beweist, wie wenig man zu einer Zeit, als das Bürgertum schon ein gewichtiges Wörtchen zu reden hatte, geneigt war, das in diesem Dokument verwirklichte Stückchen demokratischer Volkssouveränität ernst zu nehmen.

Schon zwischen 1688 und 1723 hatte man die Habeas-Corpus-Akte nicht weniger als siebenmal aufgehoben; doch war das noch eine „mittelalterliche“ Zeit. Aber selbst als die englische Gesellschaft so weit entwickelt war, daß die ersten Schritte zur bürgerlichen Demokratie gemacht werden konnten, hat der jüngere Pitt, der gewiß nicht als ein Vertreter des Feudalismus betrachtet werden kann, sie im Jahre 1794 suspendiert, welcher Zustand bis 1802 währte. Eine weitere Suspendierung erfolgte 1817 bis 1818, gefolgt von den berüchtigten Ausnahme- und Verfolgungsgesetzen von 1819.

… sondern die Massen haben sie sich selbst erkämpft!
Schließlich die berühmten „liberalen“ Wahlreformen Englands im 19.Jahrhundert. Um es kurz zu sagen: Selbst da, wo sie eine äußerst gemäßigte, und das heißt wiederum eine in undemokratischer Weise gegen das Volk gerichtete Form annahmen, mußte die Volksbewegung hierbei kräftig nachhelfen, so sehr fürchtete sich die liberale Bourgeoisie vor einer allzu großen Ausweitung des Kreises der Wahlberechtigten. 1794, 1815 und in der Bewegung des Chartismus, der in den zwanziger Jahren seinen radikalsten Stand erlebt, haben wir Höhepunkte des Kampfes für das allgemeine und gleiche Wahlrecht. Hier führen immer proletarische und kleinbürgerliche Elemente und nicht etwa „liberale“ Bürgerliche. Als infolge der Julirevolution in Frankreich und der belgischen Revolution von 1830 das reaktionäre Ministerium Wellington gestürzt wird, bequemt sich die Bourgeoisie in ihrem eigenen Interesse (!) zu einer Wahlreform, die allem, was unter dem Begriff der Volkssouveränität verstanden wurde, ins Gesicht schlägt. Die Wahlreform von 1832 ist eine Reform unter vollem Ausschluß der Besitzlosen. Dabei sind es wieder diese Besitzlosen, die durch eine Straßenbewegung (besonders in Bristol und Manchester) den Widerstand des Oberhauses brechen. Die zweite Wahlreform von 1867, die von dem liberalen Führer Gladstone in einer sehr gemäßigten Form geplant war, wird von der liberalen Mehrheit verworfen, infolge der reaktionären Ängstlichkeit der Liberalen in geschickter Weise diesen aus der Hand genommen und vom konservativen Disraeli durchgeführt. Aber auch sie ist, trotzdem Disraeli weit über die Vorschläge Gladstones hinausgeht, eine noch wesentlich undemokratische Reform. Von da ab (1884) geht es besser mit der Wahlrechtsreform, denn das Proletariat zeigt alle Anzeichen des Verlustes des Glaubens an seine eigene Kraft und damit der Zuwendung zum bürgerlichen Liberalismus. 1864 spricht Marx in der Inauguraladresse von der Entartung der englischen Arbeiterschaft. 1868 endet die Wahl mit einer völligen Niederlage der Arbeiterkandidaten. Die Bourgeoisie erkennt, daß es möglich, klüger und leichter ist, mit Hilfe der Volksmassen als gegen sie sich an der Herrschaft zu halten. Sie macht die Erfahrung, daß eine relative Monopolisierung der öffentlichen Einrichtungen für die Meinungsbildung ein weitaus zuverlässigeres Herrschaftsmittel darstellt als die bloße Gewalt.

Aber ungeachtet der aufgezeigten Widersprüche, die die Ideologie und Praxis des revolutionären bürgerlichen Humanismus durchzogen, wird der Historiker angesichts der völligen Dekadenz der heutigen bürgerlichen Ideologie nicht umhin können, von jenem großen Menschheitsideal, das trotz aller Gehemmtheit dem alten bürgerlich-humanistischen Denken vorschwebte, mit Achtung zu sprechen. Und noch viel mehr: Sofern die Ideale der großen bürgerlichen Ideologen Ideale der Freiheit waren, bilden sie auf einer höheren und wissenschaftlich begründeten Grundlage ein wichtiges Element, an das der Sozialismus, wenn auch nicht unkritisch, weiterbauend anknüpfen kann. Das Übersehen des positiven Elements in der bürgerlich-fortschrittlichen Freiheitsidee schließt die Gefahr der Ökonomisierung und Vulgarisierung des sozialistischen Freiheitsbegriffs in sich. Ihr zu begegnen muß eine der Hauptaufgaben der sozialistischen theoretischen Arbeit sein. Erst wenn es uns gelingt zu beweisen, daß der Sozialismus die Verwirklichung aller großen Menschheitsideale möglich macht, erst dann dürfen wir hoffen, jenen Glauben an ihn im Volke zu wecken, dessen das Volk im Kampfe um seine Freiheit bedarf.

Anmerkungen:

(1) [Die Habeas-Corpus-Akte (1679) ist ein Rechtsmittel gegen ungerechtfertigte Verhaftung.]

(2) [„Enclosures“: Die gewaltsamen Einhegungen bäuerlichen Landes in aristokratischen Besitz führten wesentlich zur Schaffung eines land- und besitzlosen Proletariats.] Erstveröffentlichung unter dem Titel „Über die Freiheit. Ein marxistischer Beitrag zur neuesten klassenverbindenden Parole zum 1.Mai“ und dem Pseudonym „Peter Vansen“ in: pro und contra. Diskussionsblätter für demokratischen Sozialismus, Mai 1951, S.74ff. Die historische Analyse der bürgerlichen Sozialphilosophie ist ausführlich ausgeführt in Leo Koflers Schrift Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Versuch einer verstehenden Deutung der Neuzeit (1948)

entnommen aus: Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit. Ausgewählte politisch-philosophische Texte eines marxistischen Einzelgängers, Hamburg (VSA) 2000, S.30-39