2024-03-19 09:14:20 AM - it GIVES an error...
» Ethischer oder marxistischer Sozialismus? [1955]

Ethischer oder marxistischer Sozialismus? [1955]

1. Soziologische und ethische Betrachtungsweise
Nelson ist der vor dem zweiten Weltkriege verstorbene Begründer einer ethisch-sozialistischen Richtung. Deren wichtigstes Anliegen ist die Abgrenzung gegen den Marxismus überall da, wo sie vermeint, dass dieser infolge einer naturhaften Gesetzesvorstellung dem ethischen Faktor und der individuellen Verantwortung in der Entwicklung der Gesellschaft zum Sozialismus nicht Rechnung getragen habe.

Da Nelson in der Begründung seiner Auffassung von Kant und insbesondere von Fries ausgeht, sich also auf philosophischem Boden bewegt, ist es nicht zu umgehen, einige philosophische Grundlagen des Nelsonianismus zu diskutieren. Der Standpunkt des „philosophischen Kritizismus“ im Allgemeinen und des Nelsonianismus im Besonderen ist bereits des öfteren und erfolgreich kritisiert worden.1 Aber diese Kritik bewegte sich zumeist auf dem gleichen Boden, auf dem Nelson stand, nämlich: erstens auf dem der Philosophie und zweitens auf dem Boden des subjektiven Idealismus, der sich in einem prinzipiellen Gegensatz zum objektiven Idealismus (Hegel, Schelling) befindet.

Hier sind diese Kritiken, obgleich sie oft Wesentliches und Interessantes aussagen, ohne Belang, denn wir verlassen im Folgenden den Boden der Philosophie überhaupt, um ihn mit jenem der Soziologie zu vertauschen.

Subjektivismus und Ethik
Der große Mathematiker Henri Poincaré, berichtet Nelson einmal,2 war der Meinung, dass das Problem der Ethik wissenschaftlich für immer unlösbar sei. Nelson widerspricht ihm, aber in einem gewissen Sinne hat Poincaré recht. Sofern man sich nämlich in traditioneller Weise bemüht, die Frage nach dem Wesen ethischer Postulate von der Betrachtung des vereinzelten Individuums her aufzuwerfen und zu beantworten,3 ist eine Lösung tatsächlich nicht zu erhoffen. Sowohl der theoretische Ausgangspunkt Nelsons wie auch der der meisten seiner Kritiker erscheint einseitig subjektivistisch und daher schon als solcher verfehlt. Die oft behauptete Unlösbarkeit des Problems der Ethik resultiert unvermeidlich aus dem subjektivistischen Versuch, diese Frage vom isolierten, d.h. abseits seiner soziologischen Bindungen als für sich bestehend gedachten Subjekt her zu lösen. Dass das Individuum dann bestenfalls nachträglich in seiner Bewegung im gesellschaftlichen Raum, dem es zugehört, betrachtet wird, macht für den subjektivistischen Ethiker das Problem nur noch verworrener und mildert nicht die Fehler, die mit der falschen Ausgangsbasis unvermeidlich verknüpft sind. Das isoliert vorgestellte Individuum ist eine Abstraktion. In dieser Form der Abstraktion kann man z.B. jede Möglichkeit der freien Entscheidung zwischen zwei Zielen zugestehen. Aber diese Möglichkeit erweist sich als höchst kompliziert und vielfach eingeschränkt, sobald man den Begriff des Individuums von seiner Abstraktheit befreit und ihn als sozial determiniert erkennt. Der wirkliche Lebensraum des menschlichen Individuums ist der zwischenindividuelle oder gesellschaftliche. Nur indem wir den gedanklich isolierten und „philosophisch“ zum autonomen Subjekt erhobenen Menschen in den gesellschaftlichen Raum zurückversetzen, sind wir in der Lage, ihn in seiner Totalität zu begreifen, und zu dieser Totalität gehören auch seine ethischen Ideen.

Das Versagen der subjektivistischen Ethik ist am greifbarsten da, wo sie ihre methodologischen Grundsätze entwickelt, in der „reinen“ Theorie. Hier vertritt Nelson die These, dass es „oberste Werte“ wie Gerechtigkeit, Freiheit, das Gute, das Böse, das Schöne, das Erhabene usw. gebe, die niemals aus der Erkenntnis des historischen und sozialen Prozesses gewonnen werden können, sondern unableitbar als Grundwerte (Grundwerturteile) der menschlichen Vernunft innewohnen. Da sie also nicht als kausal gebunden erscheinen, unterliegen sie dem aller Kausalität entgegengesetzten Prinzip: dem des Sollens und dem diesem zugehörigen praktischen Komplement der freien Entscheidung. Schon Bernstein habe gesagt, argumentieren Vertreter des „ethischen“ Sozialismus: Die Tatsache, dass einer Sozialist sei, begründe nicht die Tatsache, dass er Sozialist sein solle.

Dagegen ist propädeutisch einzuwenden: Ob einer Sozialist sein soll, wird sich niemals mit Sicherheit erweisen lassen; aber dass der Sozialismus sich als gesellschaftliches Ideal in der Gesamtheit der gesellschaftlichen Beziehungen verwurzelt erkennen lässt und damit unzählige Menschen vor die Entscheidung stellt, ob sie Sozialisten werden wollen, bleibt in dieser Form des Zusammenhangs von Subjektivem und Objektivem das Maßgebliche. Ob aus dieser gesellschaftlich bedingten Möglichkeit, dass viele Subjekte sich für den Sozialismus entscheiden, Wirklichkeit wird, hängt wiederum von vielen Faktoren ab. Der hier seitens des abstrakten Ethizismus erhobene Einwand, dass bestimmte Ziele und Prinzipien nur deshalb als gerecht, wahr und gut ausgegeben werden können, weil die Begriffe des Gerechten, Wahren und Guten schon vorher in unserer Vernunft verborgen angelegt sind, beruht auf Selbsttäuschung. Dieser Einwand gründet auf dem ihm vorangehenden, dass selbst die eindeutige Erkenntnis eines kausalen Tatbestandes oder einer historischen Situation noch nicht gestatte auszusagen, ob die hier erkannten Zustände gerecht sind oder nicht; ebenso bleibe unerfindlich, warum die Menschen jederzeit die Prinzipien der Gerechtigkeit usw. anerkennen und als verpflichtend erleben.

Die von der subjektivistischen Ethik als nicht weiter erklärbar ausgegebenen ethischen Grundwahrheiten der Vernunft erweisen sich aber bei näherer Untersuchung als begriffliche Abstraktionen, gewonnen auf dem Wege allmählicher Verallgemeinerungen dessen, was sich die Menschen im Wechsel der Zeiten als Ziel ihres Handelns und daher ethisch verklärt, d.h. als gerecht, gut und wahr vorzustellen pflegen. Entscheidend bleibt dabei, dass wir es bei diesen Begriffen mit Resultaten jenes abstrahierenden Denkens zu tun haben, das abstrahieren muss, um das Konkrete unter einen allgemeinen Begriff zu subsumieren, ohne welchen Vorgang wir nicht einmal eine gemeingültige Sprache hätten. Dass bei den ethischen Begriffen im Gegensatz zu solchen wie etwa „Tisch“ oder „Bewegung“ starke Erlebnis- und Gefühlsakzente mitspielen, die dem schicksalhaften, geschichtlichen Sein des Menschen entspringen, hat die formalen Ethiker dazu verleitet, ihnen eine besondere begriffliche Wesenheit zu unterstellen.
Zwei einander entgegengesetzte Standpunkte ringen um den Vorrang, das Problem der Ethik lösen zu können: der subjektivistisch-philosophische und der objektivistisch-soziologische. Wenn wir danach fragen, wo die Wurzel für eine menschliche Verhaltensweise wie die individuelle Verantwortung zu suchen sei, werden die Antworten verschieden ausfallen. Der Subjektivist wird sagen: in der rational nicht restlos aufhellbaren Grundlage unserer subjektiven Vernunft; der Objektivist dagegen: aus dem vom gesellschaftlichen Sein her geprägten, durch die Einheit von Handeln und Denken ausgezeichneten Wesen des Menschen. Ist man sich über die subjektivistische Einseitigkeit in der Fragestellung der abstrakten Ethik nicht klar geworden, dann wirkt ein in der nelsonianischen Theorie grundlegendes erkenntnistheoretisches Argument sehr bestechend. Dieses Argument bedient sich des alten subjektivistisch-philosophischen Hinweises auf die Gefahr des erkenntnismäßigen circulus vitiosus: Wenn das Erkenntnisvermögen unserer Vernunft zur Diskussion gestellt werden soll, dann müsste ein Kriterium seiner Beurteilung außerhalb der Vernunft (im „Gegenstand“) gefunden werden. Da dieses Kriterium aber wiederum nur unserem Erkenntnisvermögen entstammen kann, bleibt bei dieser Fragestellung ein Zirkel unvermeidlich. Daraus folgt, dass die in unserer Vernunft vorfindbaren Begriffe wie Gerechtigkeit, Fortschritt, Freiheit, das Gute, das Böse usw. nicht durch einen Vergleich mit Gegebenheiten außerhalb der Vernunft, der Wirklichkeit, erklärt werden können. Denn in diesem Falle würde die Wirklichkeit nur zum Schein angerufen werden; in Wahrheit wären die Kriterien wiederum nur unserer Vernunft entnommen. Prägnant formuliert Nelson:

„Wie die Erkenntnistheorie allgemein nach einem Kriterium der Gültigkeit der Erkenntnis fragt, so fragt insbesondere die erkenntnistheoretisch verfahrende Ethik nach dem Kriterium der Gültigkeit ethischer Erkenntnisse.“ „Die Forderung eines solchen erkenntnistheoretischen Kriteriums lässt sich ganz allgemein als unerfüllbar erweisen.“ „Um die Gültigkeit einer Erkenntnis zu prüfen, müsste die Erkenntnis mit ihrem Gegenstand verglichen werden. Um sie aber mit ihrem Gegenstand vergleichen zu können, müsste ich den Gegenstand schon kennen. Ich müsste also schon wissen, dass meine Erkenntnis von ihm gültig ist.“4

Diese Argumentation besteht nur zu Recht für die philosophische Erkenntnistheorie, die nach den prinzipiell erkenntnismäßigen Grenzen und Möglichkeiten der Erkenntnis „überhaupt“ forscht; und auch hier nur für den subjektivistisch-philosophischen Standpunkt, denn jeder echte Hegelianer würde sie bestreiten. Nelson bleibt in der Vorstellung der philosophisch-subjektivistischen Ethik verhaftet, dass die „formalen“ Prinzipien der Ethik nicht dem konkreten gesellschaftlichen Sein zugehören, sondern Kategorien des „Bewusstseins überhaupt“ darstellen; er folgt Kant und Fries und hält daher die philosophische Erkenntnistheorie für den allein akzeptablen Ausgangspunkt. Nelson übersieht, dass es sich bei der Problematik der Ethik wesentlich um eine solche des konkreten gesellschaftlichen Seins handelt und dass daher die wissenschaftliche, jedoch nicht die philosophische Untersuchungsmethode angemessen ist. Was würde er zu einem Physiker sagen, wenn dieser die konkreten Ergebnisse seiner Forschung der Kantschen Erkenntnistheorie entnehmen wollte?

Der Begriff des Bewusstseins
Offenbar ist Nelson wie viele seiner philosophischen Kollegen einer unkritischen Verwechslung des Begriffs des Bewusstseins unterlegen. Es muss betont werden, dass zwischen dem konkreten Bewusstsein in der zwischenmenschlichen Beziehung, dem Bewusstsein als soziologischem Begriff und dem von der philosophischen Erkenntnistheorie gemeinten „Bewusstsein überhaupt“ scharf unterschieden werden muss. Macht man diesen Unterschied nicht, dann erscheint das Phänomen des ethischen Sollens zwangsläufig als eine seinsmäßig unableitbare Gegebenheit des abstrakten, nur die Philosophie angehenden „Bewusstseins überhaupt“, dem sich ausschließlich mit philosophisch-erkenntnistheoretischen Mitteln beikommen lässt.

Was ist der wesentliche Unterschied zwischen dem philosophischen „Bewusstsein überhaupt“ und dem soziologischen Bewusstseinsbegriff? Das Bewusstsein, mit dem es die Philosophie zu tun hat, fragt nach der Beziehung von Bewusstsein und „Welt“, Subjekt und Objekt, die in einem unendlichen Gegensatz zueinander sich befinden. Das soziologische Bewusstsein hingegen hat es mit einer ganz bestimmten Welt, nämlich mit der von ihm selbst erzeugten gesellschaftlichen und geschichtlichen als Objekt der Erkenntnis zu tun, d.h. Subjekt und Objekt fallen hier zusammen, die Erkenntnis wird zu einer Selbsterkenntnis des Subjekts. Das Verhältnis von Erkenntnis und „Gegenstand“ verschiebt sich auf der Erkenntnisebene des soziologischen Bewusstseins, dem zweifellos auch die ethischen Erscheinungen zugehören, vollkommen. Spinoza spricht einmal davon, dass es einen grundlegenden Unterschied ausmachen würde, wenn der geworfene Stein denken könnte und in der Lage wäre, Aussagen über sich selbst zu machen – ein Hinweis, über den nachzudenken sich lohnt.

Die sich selbst durch bewusste (d.h. stets durch das Bewusstsein hindurch vollzogene) Tätigkeit „machende“ Gesellschaft findet die Kriterien ihrer Erkenntnis in sich selbst, in ihren an sich einsehbaren und verstehbaren Absichten, Zielen und Voraussetzungen der Verwirklichung dieser Ziele. Schon Giambattista Vico hat – wie Marx im Kapital bemerkt – gewusst, dass sich der Selbsterkenntnis der Gesellschaft keinerlei prinzipielle, d.h. bestimmte Erkenntnisgrenzen setzen. Um ein Kriterium für die ethische Beurteilung des menschlichen Verhaltens zu finden, genügt es nachzuweisen, dass der gesellschaftlichen Bewegung (der Geschichte) bestimmte reale Ziele leitend zugrunde liegen, die als bewusste oder unbewusste Motive menschlichen Handelns die Kraft besitzen, immer höhere Formen menschlichen Seins zu provozieren. Hier taucht die Frage des Fortschritts in der Geschichte auf – aber nicht in der Form eines bestimmten subjektiven Werturteils, sondern als unmittelbare und erkennbare Realität.
In der philosophischen und in der soziologischen Fragestellung nach der Subjekt-Objekt-Beziehung geht es um ganz verschiedene, ja entgegengesetzte Formen dieser Beziehung. Die Folgerungen für Theorie und Praxis sind weitreichend.

2. Nelsonianismus und Marxismus
Die wichtigste methodische Leistung der Marxschen Gesellschaftslehre besteht darin, die Erscheinungen, die in unendlicher Vielfalt, Verschiedenheit und Gegensätzlichkeit in der Geschichte auftreten, als Momente eines zur Einheit gefügten Prozesses verstehbar zu machen. Die für die Gesellschaftstheorie grundlegende Frage, wie das Begreifen der geschichtlichen Vielfalt als Einheit möglich ist, hat Marx als erster und einziger beantwortet. Das Bedeutsame dieser Leistung liegt nicht so sehr darin, dass das Einzelne einem übergeordneten „Gesetz“ untergeordnet wird, sondern vielmehr darin, dass dieses Moment – trotz des Nachweises seiner Bestimmtheit durch den totalen Prozess – in seiner Besonderheit, Einmaligkeit und Individualität nicht (wie in der alten vormarxistischen, später positivistischen und weitgehend in der heutigen Gesellschaftsbetrachtung) beschränkt oder gar „vernichtet“ wird, sondern weil es sich im Gegenteil in dieser seiner Besonderheit erst hier seinem eigentlichen Wesen nach dem „Verstehen“ erschließt.

Einheit und Vielfalt
Für Marx ist das wissenschaftliche Durchschauen des Ganzen wie des Details von gleicher Bedeutung; beides ist wechselseitig bedingt. Das Durchschauen des Ganzen, der Totalität, ist keine Frage des Umfangs. Vielmehr geht es hier um die konkrete Bezüglichkeit der Momente zum Prozess und untereinander in diesem Prozess, eben um das Begreifen der Vielfalt in ihrer Einheit; und dies zu dem Zweck, Schein und Wesen des Ganzen wie der einzelnen „Tatsachen“ voneinander zu trennen und so Geschichte in ihrem wahren Gehalt zu erkennen.

Zu diesen einzelnen, „individuellen“ (Rickert) Tatsachen gehören aber nicht nur Kriege, Revolutionen, politische Daten, religiöse, philosophische und künstlerische Strömungen, sondern nicht minder die einzelnen Personen, von denen historisch allerdings nur jene von Interesse sind, die eine besondere wirtschaftliche, politische oder geistige Rolle gespielt haben. Und zu diesen Personen gehören wiederum ihre individuellen Eigenschaften, Schicksale, Gewohnheiten, Gaben, moralischen Verhaltensweisen und ethischen Ziele. Die Schwierigkeit liegt nur darin, die konkrete und komplizierte Bezogenheit zwischen diesen so gearteten Individuen und den allgemeinen Verhältnissen – unter denen sie leben und mit denen sie sich, je bedeutender sie sind, desto umfassender und tiefer auseinandersetzen – aufzudecken und auf diese Weise sowohl die wirkliche und nicht an der Oberfläche liegende Wesenheit dieser Individuen als auch die der allgemeinen Verhältnisse, der gesellschaftlichen Totalität, zu entschleiern.

Hat man begriffen, in welcher Weise die marxistische Lehre die Rolle des Individuums in der Geschichte auffasst, dann ist es einfach unmöglich, diese Rolle so auszudeuten, als ob die individuelle Aktivität, Entscheidungsfähigkeit und frei gewollte ethische Ausrichtung des individuellen Denkens hier irgendwie vernachlässigt oder gar unberücksichtigt gelassen würde. Es ist vom marxistischen Standpunkt völlig undenkbar, sich vorzustellen, dass die Individuen sich in ihrem Handeln nicht von einer Sollensvorstellung – die nichts anderes darstellt als das „ethische“ Ideal der Nelsonianer – leiten lassen. Das aus den Schranken des eigenen Denkens entspringende Missverständnis geht dahin zu glauben, dass das, was die Marxisten als Vorhandensein ethischer Prinzipien zugeben, in ihrem System infolge der Unterwerfung allen Geschehens unter ein „Naturgesetz“ nur scheinhafte Bedeutung besitzt; denn das „Ethische“ gewinnt hier nicht Selbstständigkeit, sondern manifestiert sich als bloße passive Spiegelung „ökonomischer“ Vorgänge. Dieses Missverständnis beruht auf dem Verhaftetsein Nelsons im mechanisch-naturwissenschaftlichen Gesetzesbegriff (woran übrigens die Marxisten seiner Zeit, die aus bestimmten historischen Gründen die marxistische Lehre ökonomistisch-mechanisch verbildet apperzepierten und in dieser Verbildung dem Stalinismus vererbten, nicht unschuldig sind) und auf der Unkenntnis der marxistischen Lehre.

Der Marxismus hat einen dem naturwissenschaftlichen geradezu entgegengesetzten Gesetzesbegriff entwickelt. Sein Kern ist die durch das Bewusstsein und die individuelle Aktivität – die vom einfachsten praktischen Arbeitsvollzug bis hinauf in den Bereich der ethischen Entscheidung und Zielsetzung reicht – vermittelte Subjekt-Objekt-Beziehung. Während Hobbes, Spinoza und den Materialisten des 18.Jahrhunderts die „freien“ Handlungen, Absichten, Ziele und ethischen Entscheidungen tatsächlich als bloßer Schein, als Selbsttäuschung der passiv dem „Gesetz“ unterworfenen Individuen erschienen, löst Marx das Problem, indem er zeigt, wie auf dem Wege des Umschlagens des Subjektiven ins Objektive beide Seiten vollgültig zur Wirkung kommen und ihre Bedeutung behalten. Marx bezieht in seine zugleich individualisierende und verallgemeinernde Theorie die Tatsache der ständigen Veränderung der gesellschaftlichen Umstände im Rahmen des geschichtlichen Prozesses ein, wobei diese Veränderung ihrerseits wiederum nur durch die Aktivität der Individuen selbst vollzogen wird. Und ein Moment in dieser Aktivität ist auch die ethische Zielsetzung.

Die geschichtliche „Notwendigkeit“
Der in einer solchen Gesetzesvorstellung entstehende Begriff der geschichtlichen „Notwendigkeit“ bedeutet nichts „naturgesetzlich“ Mechanisches, sondern das Gegenteil. Er wird in seiner eigentlichen und von Marx gemeinten Bedeutung verstehbar, wenn man ihn aus den beiden folgenden Komponenten zusammengesetzt denkt: aus der Widersprüchlichkeit der alten Ordnung (etwa der kapitalistischen) und der daraus entspringenden Tendenz, immer mehr Menschen oder ganz bestimmte, hierfür historisch disponierte und entscheidende Klassen vor die subjektive Entscheidung zu stellen, eine andere Ordnung zu wollen (in diesem Falle die sozialistische) und zur „ethischen“ Forderung zu erheben. Was konkret daraus wird, das hängt von vielen Faktoren objektiver und subjektiver Art ab. So z.B. besteht kein Zweifel, dass die für die sozialistische Bewusstseinsbildung hemmende Existenz des Stalinismus es verhindert hat, dass die sozialistisch-freiheitliche Bewegung in Europa nicht so weit gekommen ist, wie es der Reife der Verhältnisse entsprechen würde. Die „Notwendigkeit“ der auf eine bestimmte Gesellschaftsordnung folgenden höheren beruht überdies noch darauf, dass, wenn überhaupt eine Weiterentwicklung stattfindet – d.h. die alte Gesellschaft nicht stagniert oder gar zugrunde geht –, die neue nur jene Form annehmen kann, deren Bedingungen in der früheren Gesellschaft bereits entwickelt worden sind. Der Mensch kann keine gesellschaftlichen Ordnungen willkürlich erfinden – vielleicht mit der einzigen Ausnahme der „ethischen Sozialisten“. So schreibt Nelson über den Marxismus:
„Die Schöpfer dieser Lehre gingen von der Meinung aus, dass der Sozialismus nur dadurch wissenschaftlich begründet werden könne, dass er dem Bereiche bloßer ethischer Ideale entzogen und als naturnotwendiges Produkt der nach bestimmten Gesetzen sich umwandelnden sozialen Verhältnisse erweisen würde.“5

Nelsons Schüler folgen ihm in der Unterstellung einer mechanischen „Naturnotwendigkeit“, und zwar mit der offenbaren Absicht, den Marxisten die Fähigkeit zur „ethischen Verantwortung“ abzusprechen und sie für sich allein in Anspruch zu nehmen. Willi Eichler formuliert so:

„Und der historische Materialist sieht bei aller Anspornung des sozialistischen Kämpfers weitgehend von einer philosophischen Begründung dieser Kampfesnotwendigkeit ab, weil ‘letzten Endes’ das Umschlagen in die neue Gesellschaft unvermeidlich ist. – … (D)ie Verantwortung des Einzelnen für das Schicksal der Gesellschaft wird auf ein Mindestmaß herabgesetzt.“6
Und Theodor Steinbüchel assistiert: „Mit diesem vernunftgläubigen Rationalismus musste der ‘wissenschaftliche’ – und das hieß naturwissenschaftlich-gesetzliche – Sozialismus fallen.“7

Dass nicht alle Theologen so wenig von der marxistischen Lehre begriffen haben, beweist Paul Tillich: „Freiheit und historisches Schicksal sind keine Gegensätze für das prophetische und das marxistische Denken. Von beiden wird die mechanistische Naturnotwendigkeit ebenso wie die bloße Zufälligkeit des Geschichtsverlaufs verneint. Die prophetische wie die ursprünglich marxistische Dialektik stehen über der Ebene dieser Alternative.“8

Nelson konnte die wirkliche Ansicht des Marxismus aus einer bestimmten subjektiven Schranke heraus nicht erkennen, er war ursprünglich und wesentlich Mathematiker und Naturwissenschaftler. Die völlige Unvergleichbarkeit des menschlichen und des außermenschlichen Seins wie die Unübertragbarkeit von Erkenntnissen aus beiden Bereichen sind ihm entgangen. Lediglich auf den ersten Blick scheint das Gegenteil der Fall zu sein, denn der nelsonianische Ethizismus behauptet die Bindung des Menschen an normative (Sollens-)Prinzipien, die unableitbar sind und nur für ihn gelten. Aber bei näherem Zusehen erweist sich Nelsons Denken als höchst naturwissenschaftlich-mechanistisch geprägt: Die Grundlagen seiner systematischen Ableitungen sind die Setzung und Bejahung eines auch den Menschen einbeziehenden kausalen Zusammenhangs – nach naturwissenschaftlichem Vorbild – und die Unterworfenheit des gesellschaftlichen Geschehens unter Gesetze mehr oder weniger naturwissenschaftlicher Prägung. Nelson spricht vom „Geschehen, das unter Naturgesetzen steht“. Gerade deshalb, weil er die Geltung einer solchen naturhaften Kausalgesetzlichkeit in der menschlichen Welt akzeptiert, kann er überhaupt widerspruchslos dazu gelangen, ihre vollkommene Fremdheit gegenüber allen Phänomenen der menschlichen Freiheit und des Sollens zu postulieren.

Sein und Sollen
Der Bruch, den er zwischen dem kausalbedingten Sein und dem ausschließlich normativ geprägten Sollen entstehen lässt, hat hierin seinen Grund. Mit dieser Auffassung nähert sich Nelson wiederum der Vorstellungsweise des Materialismus des 18. Jahrhunderts, der gleichfalls neben das naturwissenschaftlich begriffene Gesetz eine kleinere Sphäre vollkommener Freiheit setzte (z.B. Montesquieu, Holbach und Helvetius). Das Fehlen eines wirklichen und eigentlichen Verständnisses des nicht „naturwissenschaftlich“ zu begreifenden gesellschaftlichen Gesetzesbegriffes verbaut hoffnungs- und ausweglos die Möglichkeit zum Verständnis des gesellschaftlichen Seinsbereichs überhaupt. Mit der mechanischen Trennung von Sein und Sollen fällt der Nelsonianismus auf das Niveau des naiven und unkritischen Alltagsbewusstseins zurück, das dem schicksalhaften Unterworfensein unter unveränderbare „Gesetze“ gleichfalls das subjektive Wollen, die individuelle Spekulation und die persönliche Ethik entgegenzusetzen sucht. Es entsteht auf diese Weise jenes einfache Schema des Sichverhaltens, das gern als „Weisheit“ ausgegeben wird, wovon aber Hegel mit Recht sagt, dass ihr „Pfiff“ so bald erlernt ist, als es leicht ist, ihn auszuüben. Das Instrument dieses gleichförmigen Formalismus ist nicht schwerer zu handhaben als die Palette eines Malers, auf der sich nur zwei Farben befinden.“

In seiner Kritik der praktischen Vernunft fordert Nelson, dass neben dem „Geschehen, das unter Naturgesetzen steht“, das „Zufällige, das nicht mit Notwendigkeit bestimmt ist“, anerkannt werde. Er stellt diese Forderung so, als ob es bei Marx keine Theorie des Verhältnisses von Zufälligkeit und Notwendigkeit gäbe. Um seine Theorie der Zufälligkeit – oder, was dasselbe ist, die der Freiheit und der ethischen Axiomatik – zu begründen‚ grenzt er sich seiner Grundthese entsprechend gegen jeden empirischen Einfluss auf seine formallogisch geführte Untersuchung ab. Woher aber nimmt Nelson in seinem formallogischen Denken die Prämissen, auf denen er sein System aufbaut?

Da er sich in seiner subjektivistischen Denkart – irregeleitet von einer auf das zwischenmenschliche Problem der Ethik nicht anwendbaren subjektivistischen Erkenntnistheorie – weigert, das Problem vom Gesellschaftlichen her anzugehen, bleibt immer nur übrig, die „dunklen“ (Nelson) und verworrenen Erlebnisse des subjektiven Bewusstseins zu befragen. Das bedeutet aber nichts anderes, als das Problem heillos zu mystifizieren, d.h. den Irrationalismus und die Mystik als Grundlage für die Lösung der ethischen Frage anzuerkennen. Daran ändert sehr wenig, dass Nelson behauptet, die ursprünglich dunklen Motive ethischer Grunderlebnisse mit streng rationalen Mitteln aufhellen zu wollen, denn diese Aufhellung geht nicht so weit, einen außerhalb des subjektiven Bewusstseins liegenden Grund für das Entstehen dieser Erlebnisse aufzudecken. Die „Aufhellung“ bleibt also nur eine scheinbare, eine leere Behauptung.

Nelson begnügt sich damit, das Vorhandensein ethischer Vorstellungen in der Form notwendiger Erscheinungen in aller menschlichen Vernunft festzustellen. Er beruft sich hierbei auf das „Selbstvertrauen der Vernunft“,9 das er als ausreichend ansieht, um sichere Ausgangspunkte zu gewinnen.

Die bekannte Tatsache, dass der Mensch in seinem Bewusstsein die abstrakten Vorstellungen von ethischen Werten hat und sich ihrer mit einiger Bestimmtheit bewusst ist, „Selbstvertrauen der Vernunft“ zu nennen, bedeutet, einen gewöhnlichen Kieselstein in einem goldenen Gefäß aufzubewahren. Das vernunftmäßige Selbstvertrauen besitzt nicht einmal die Kraft, auch nur in einem einzigen und einfachen konkreten Falle darüber zu entscheiden, ob eine Handlung gerecht oder ungerecht, gut oder böse usw. ist. Die Nelsonsche Untersuchung bleibt im formalen Windmühlengefecht stecken.

Es ist nun interessant und aufschlussreich zu sehen, wie Nelson an dem Punkte seiner formallogischen und sich im Kreise drehenden syllogistischen Ableitung, an dem er als Sozialist genötigt ist, konkrete Aussagen über den Menschen zu machen, plötzlich – wenn auch unter Wahrung des Scheins, als ob die Linie der formal „kritischen“ Methode nicht verletzt würde – in die Nähe von Marx gelangt und vom Empirisch-Konkreten her Aussagen macht. Natürlich sind auch diese Aussagen noch viel zu sehr im Abstrakten befangen, es fehlt ihnen die anthropologische Tiefsicht, mit der sich Marx des Menschen theoretisch bemächtigt. Nelson ermangelt der Sinn für diese Methode vollkommen. Aber kann er deshalb an den konkreten Fragen des Menschen vorbeigehen? Durchaus nicht, denn für den Sozialisten Nelson hat ebenso wie für den Sozialisten Marx die „Philosophie“ nur den Sinn, letztlich dem Menschen zu dienen.

Auf dem Wege der „Selbstverwirklichung“
Der Kulminationspunkt in Marx‘ Anthropologie ist die Lehre von der „Selbstverwirklichung des Menschen“. Ihre Bedeutung ist eine humanistische und geschichtlich optimistische. Kurz zusammengefasst besagt sie: Es ist dem mit Bewusstsein begabten Menschen angemessen, nicht nur wie das Tier nach gewöhnlicher Erhaltung des Lebens zu streben, sondern die in der Tatsache der Bewusstseinsbegabtheit begründete Anlage zu einer stets fortschreitenden gesellschaftlichen wie individuellen Weiter- und Höherentwicklung zur Triebkraft des geschichtlichen Prozesses zu machen. Das Tier hat nur „Entwicklung“, der Mensch aber vollzieht „Geschichte“ im Bewusstsein seiner selbst und in dem Streben, alle in ihm angelegten Möglichkeiten zu entwickeln, sich „selbst zu verwirklichen“. Dass der Mensch diesen Weg der Selbstverwirklichung geschichtlich nicht geradlinig verfolgen kann, sondern nur durch die Widersprüche, Hemmungen, Rückfälle, komplizierte Formen der Entfremdung und Epochen des menschlichen Zusammenbruchs hindurch, ist eine andere Frage.10 Für Marx erscheint die Geschichte als eine Stufenfolge von immer höheren Stufen der Freiheit und der Selbstverwirklichung des Menschen.

Das so von Marx gezeichnete optimistische Geschichtsbild gibt die vollkommen zureichende Grundlage für die Beurteilung der einzelnen Momente, Handlungen und Meinungen in Übereinstimmung mit oder im Gegensatz zu den historisch sich realisierenden Tendenzen der menschlichen Selbstverwirklichung, oder was dasselbe ist, für die Beurteilung der Frage, ob diese Handlungen und Meinungen „ethisch“ oder „unethisch“ sind. Dem Marxisten genügt es, im Besitze der Einsicht in die auf die Selbstverwirklichung des Menschen gerichteten inneren Triebkräfte, Tendenzen und Entwicklungsrichtungen der Geschichte zu sein, um ethische Urteile fällen zu können und um sein eigenes Verhalten als ethisch gerechtfertigt zu erkennen. Überdies bestärkt ihn das Wissen von der ethischen Wesenheit seiner Ziele in seiner Entschlusskraft und seinem Handeln Er weiß, dass eine höhere gesellschaftliche Ordnung kommen „muss“, weil (wenn auch unter der Führung der Voranmarschierenden) immer mehr Menschen durch die Widersprüche der alten Ordnung dahin gebracht werden, den Sozialismus für das Bessere zu halten und die daraus sich ergebende ethische Verantwortung für die Realisierung der gesetzten Ziele auf sich zu nehmen. Dass dies wiederum nicht mechanisch oder automatisch geschieht, sondern sich z.B. des komplizierten Prozesses der vorangehenden Bewusstseinsbildung führender Elemente bedient, und dass dieser Prozess durch das subjektive Versagen dieser Elemente gehemmt werden kann, ist keine Entdeckung der „ethischen Sozialisten“, sondern gerade aus marxistischer Erkenntnis der dialektischen Beziehung von Subjektivem und Objektivem verstehbar.

Es genügt eben nicht, nur ethisch zu sein. Das sind, formal gesehen, vielfach auch die führenden Kreise unserer Gegner. Man muss auch das historische Recht auf seiner Seite haben, um es wirklich zu sein! Das weiß auch Nelson. Wüsste er es nicht, würde er nicht unversehens Kategorien marxistischen Denkens entlehnen, die nicht der „reinen Vernunft“, sondern der konkreten Wirklichkeit entstammen. Nelson spricht selbst von der „Selbstbestimmung“ des Menschen, und was ist das anderes als eine farblose Fassung für die „Selbstverwirklichung des Menschen“?

Wir sehen, wie sich die „ethische Verbindlichkeit“ der Nelsonianer aus der konkreten Situation des Menschen als geschichtlichem und nach Selbstverwirklichung strebendem Wesen erklären lässt. Dass den Menschen zumeist die Wesenheit ihres eigenen Seins nicht bewusst wird, ist kein Gegenargument. Im konkreten geschichtlichen Prozess bilden sich viele einander widerstrebende Kräfte aus, die alle der Meinung sind, das ethische Recht auf ihrer Seite zu haben Es behalten aber jene recht, auf deren Seite die fortschreitende historische Tendenz ist (deren Wesenheit wir am Faktum der „Selbstverwirklichung des Menschen“ erkennen). An dem Zusammenhang von konkreter geschichtlicher Situation und Ethik erweist sich nur von neuem die gewaltige Bedeutung, die der Marxschen Entdeckung des Zusammenhangs von gesellschaftlichem Sein und Bewusstsein zukommt. In diesem Zusammenhang spielt das Bewusstsein nicht etwa die Rolle eines passiven Reflexes, wie Verfälscher der marxistischen Lehre ihr unterstellen, sondern es hat die Funktion der Ermöglichung von Geschichte überhaupt. Denn in allen seinen Handlungen muss sich der Mensch, in falscher oder richtiger Form, seiner Situation bewusst werden, um daraus Schlüsse für sein Handeln zu ziehen. Das ist jedoch keine nelsonianische, sondern eine marxistische Einsicht.

3. Wer hat versagt?
Wir wollen und können uns hier nicht auf Einzelheiten der Diskussion einlassen, z.B. auf die Frage, ob Marx die soziale Entwicklung richtig vorausgesagt hat, obgleich sich das Argument der „Ethiker“, der Mittelstand habe zahlenmäßig zugenommen, entkräften lässt. Die von Marx vorausgesagte Konzentration des Kapitals in den Händen einer immer kleineren Zahl von Menschen ist eingetroffen.11

Es ist auch nicht möglich, hier das höchst komplizierte Problem des marxistischen Humanismus darzustellen, wobei sich ergeben würde, dass das Marxsche System nicht nur das einzige ist, das konsequent und ausschließlich vom Menschen ausgeht und beim Menschen endet – während andere Systeme in vulgärmaterialistischer Art außermenschliche Faktoren gelten lassen –‚ sondern auch eine Freiheitslehre entwickelt, die mit ihrer konsequenten Vorstellung von einer freien und demokratischen, humanistischen und „ethischen“ Gesellschaft in der Geschichte der Freiheitsideen einschließlich des Nelsonianismus allein dasteht.

Das bürokratische „Bewusstsein“
Der Marxismus ist den heutigen bürgerlich-kapitalistischen Verhältnissen gleichzeitig angemessen und unangemessen. Angemessen, weil er am tiefsten ihre Struktur und ihre Probleme erfasst, sie am besten versteht. Unangemessen, weil die von ihm geforderte komplizierte Denkweise der Ganzheitsbetrachtung auf große Schwierigkeiten der Handhabung stößt, die in der Tatsache begründet sind, dass die individualisierte und anarchische, vom Gegensatz zwischen der Rationalisierung des Teilgebietes und dem Irrationalismus des ganzen Prozesses zerrissene kapitalistische Gesellschaft sich dem Erfassen der gesellschaftlichen Erscheinungswelt als totalem Zusammenhang entzieht. In dieser Schwierigkeit liegt einer der Gründe für die mechanistische, ökonomistische und reformistische Deformation der marxistischen Lehre. Aber diese Schwierigkeit, das Ganze des Prozesses zu durchschauen und sich damit die Wesenheit der kapitalistischen Umwelt klarzumachen, hat noch weitere Folgen. Selbst bei subjektiver Ehrlichkeit und Anständigkeit entsteht die Neigung, dem äußeren Schein der kapitalistischen Wirklichkeit zu unterliegen, d.h. die im „rationell“ auf das Teilgebiet orientierten „Tatsachen“phänomene als ihrem Wesen entsprechend hinzunehmen und sich so auf einen Weg zu begeben, der schließlich bei der teilweisen oder gänzlichen Unterwerfung unter das bürgerliche Bewusstsein endet. Und wo dieses (unbewusste) Unterliegen unter die Phänomenalität der bürgerlichen Denkweise sich mit einem funktionärmäßig-spezialistischen – und d.h. wiederum mit einem der Ganzheitsbetrachtung feindlichen – Aufgabenkreis verbindet, da entsteht jene typische Bewusstseinsform, die wir bürokratisch zu nennen pflegen.

Zu den typischen Merkmalen des bürokratischen Funktionärsbewusstseins gehört also das Stehenbleiben bei den gedanklich „unvermittelten“ Teilen (Erscheinungen) der Wirklichkeit – und es ist klar, dass von hier bis zur Zerteilung der Wirklichkeit in eine Sphäre des einseitig kausalbestimmten Seins und eine solche des freien Sollens nur ein Schritt ist! Die Funktionärs,,ethik“ hat wesentlich hier ihre Wurzel, und die Tatsache, dass eine theoretisch-philosophische Trennung von Sein und Sollen auf der Höhe subtiler Überlegungen vollzogen wird, erleichtert den Prozess der Aneignung solcher Elemente bürgerlichen Bewusstseins. Der Fichtesche, aus seinem verabsolutierten Sollensprinzip erfließende utopische Idealismus unterlag zwar wie jeder einseitige Utopismus der Faktizität (dem äußeren „Tatsachen“schein) seiner Zeit, aber diese Zeit war von der Gesinnung des aufsteigenden Bürgertums geprägt, und ihr großes Omen war die Französische Revolution. Daher die großartige, wenn auch utopisch übersteigerte Gesinnung Fichtes, seine fortschrittsfreudige Kraft und sein vorwärtsweisender Scharfsinn. Anders verhält es sich mit den heutigen Nelsonianern. Noch ihr Lehrer konnte sich an der russischen Revolution begeistern; ihr stalinistisches Absinken erlebte er nur in den Anfängen. Ein solches Richtmaß, ein solcher Halt, durch den ihre methodische und erkenntnismäßige Schranke paralysiert würde, fehlt den „ethischen Sozialisten“ von heute. Deshalb eröffnet das Fehlen eines methodischen Mittels in ihrer Theorie, mit dessen Hilfe sie die täuschende Erscheinungswelt der kapitalistischen Umwelt erkennen könnten, der Bürokratisierung ihres Bewusstseins – wie wir sie oben beschrieben haben – Tür und Tor. Der Mangel an einem die Wirklichkeit entschleiernden Totalitätsdenken wird zur Ursache des allmählichen Unterliegens unter diese Wirklichkeit – bei äußerer Beibehaltung eines scheinkritischen „ethischen“ Verhaltens ihr gegenüber.

Dieser Zustand des sich vergrößernden Widerspruchs zwischen der sozialistischen Kritik am Kapitalismus und dem gleichzeitigen Unterliegen unter die Gegebenheiten der kapitalistischen Umwelt findet seinen ideologischen Ausdruck in der zunächst theoretischen Trennung der Faktizität – in welcher die Praxis des Alltags sich zu bewegen hat – und der schönen Humanität, in der sich die reine Idee zu Hause fühlt. Eine solche Denkweise wird leicht zur ideologischen Form, durch die die praktische Tendenz zur Trennung von Sein und Sollen vertieft und zur Grundlage der Rechtfertigung der widerspruchsvollen Funktionsweise des Trägers wird. Das Reich des „reinen“ Sollens vermittelt zwar ein ganzes System des Guten, Gerechten, Schönen und Wahren, bestenfalls auch des Rechtes des Menschen auf „Selbstbestimmung“, aber keinen einzigen Satz, aus dem sich schließen ließe, wie in einer sozialistischen Weise richtig gehandelt werden soll. Ethische Postulate sind zwar „allgemeinverpflichtend“, verpflichten aber, sobald das Handeln, die Praxis beginnt, in der Tat zu gar nichts.

In diesem Zusammenhang sei noch eine letzte, heute vieldiskutierte Frage berührt: Der Weg der sozialistischen Bewegung zur „Volkspartei“.

Ob gerade die „ethischen Sozialisten“ den Weg zur Volkspartei zeigen können, ist zweifelhaft. Die minimale und gleichzeitig wichtigste Voraussetzung für die Entwicklung der SPD zu einer Volkspartei ist eine tiefsichtige und vor allem wirkungsvolle Idee, die die Kraft besitzt, das selbstsichere Gleichgewicht des überholten bürgerlichen Selbstbewusstseins zu sprengen, die Massen dem Einfluss der kapitalistischen Ideologie zu entziehen und sie mit sozialistischem Gedankengut zu erfüllen. Bis jetzt hat noch jede große historische Bewegung in einer solchen Idee gewurzelt. Wir warten bei den nichtmarxistischen Sozialisten vergeblich auf diese Idee.

Jede bedeutende historische Bewegung wurde getragen von drei Säulen: der Mission (Ausbreitung der Idee), der Organisation (Erfassung der Gewonnenen) und der Politik (Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner). Wehe, wenn die Mission nur einen Augenblick vernachlässigt oder wenn sie auch nur an die letzte Stelle gedrängt wurde! Heute sind wir soweit. Was haben die „ethischen Sozialisten“ vermocht, um die missionarische Grundlage des Sozialismus zur Entfaltung zu bringen?

Man verweist auf das Kleinbürgertum, das sich vom Marxismus nicht mehr „fangen“ lässt. (Dass das Kleinbürgertum – besonders die Jugend – einst in großen Massen mit dem Marxismus sympathisierte, wird nicht zur Diskussion gestellt.) Daran ist etwas Wahres, wenn man nicht der Meinung ist, dass es eine demokratische, freie und unbürokratische sozialistische Planwirtschaft geben kann, und sich weigert, wenigstens zum Zwecke der Information mit Marxisten darüber zu diskutieren. Es bleibt aber ebenso wahr, dass man den kleinbürgerlichen Angestellten mit Versprechungen noch viel weniger gewinnen kann als mit Hilfe einer machtvollen Idee. Wäre diese Behauptung falsch, dann hätte es der Deutsche Gewerkschaftsbund sehr leicht, die Angestellten, die infolge des besseren gewerkschaftlichen Kampfes der Arbeiter heute durchschnittlich weniger verdienen als diese, zu erfassen. Wer sich ernstlich bemüht hat, die subtile Eigenart des kleinbürgerlichen Menschen, z.B. dessen Hang zum Träumen und zu einer „idealen“ Lebensauffassung, zu analysieren, der wird wissen, dass bei keiner Gruppe kraftvolle welt- und gesellschaftsanschauliche Ideen besser ansprechen als beim Kleinbürgertum. Die Frage ist nur, welche Idee es sein soll, die an die Stelle der marxistischen treten kann?

Anmerkungen

1 Alf Ross: Kritik der sogenannten praktischen Erkenntnis, 1933.

2 Leonhard Nelson: System der philosophischen Ethik und Pädagogik, Nachgelassene Schrift 1932, S.4.

3 Für die grundsätzliche Problematik der Ethik ändert sich nichts, auch wenn das Bewusstsein des Einzelindividuums, mit dessen Vorstellungen von Gerechtigkeit, Bösem, Gutem usw. es die wissenschaftliche Ethik zu tun hat, „philosophisch“ zum „Bewusstsein überhaupt“ aufgebauscht wird. Denn das Gerechte, Böse und Gute sind nicht formale Gegebenheiten dieses „Bewusstseins überhaupt“, sondern konkrete Inhalte des praktischen Bewusstseins. Dass dieses praktische Bewusstsein seinerseits nur richtig zu begreifen ist als zwischenindividuelles, also soziales Bewusstsein und dass daher die Beschränkung der Betrachtung auf das Einzelbewusstsein von vornherein die Verfehlung des Weges der Untersuchung bedeutet, werden wir nachweisen.

4 Nelson: Drei Schriften zur kritischen Philosophie, 1949, S.77f.

5 ebenda, S.69 (Hervorhebung: L.K.).

6 Willi Eichler: „Sozialismus als ethischer Realismus“, in: Geist und Tat, August 1952, S.225.

7 Th. Steinbüchel: Sozialismus, 1950, S.308 (Hervorhebung: L.K.).

8 Paul Tillich: Der Protestantismus, 1953, S.306.

9 Nelson: Drei Schriften zur kritischen Philosophie, S.80.

10 Vgl. meine populärwissenschaftliche Schrift Menschlichkeit, Freiheit, Persönlichkeit. Eine Einführung in den sozialistischen Humanismus, Düsseldorf 1954.

11

Prozentsatz der erwerbstätigen Bevölkerung in den USA:

1800 1890 1900 1910 1920 1930 1939 1946
selbständige Unternehmer einschließlich freie Berufe  36,9 33,8 30,8 26,3 23,3 20,3 18,8 17,1
Angestellte und Arbeiter 62 65 67,9 71,9 73,9 76,8 78,8 82,9

Prozentsatz der Kleinbetriebe mit 1-10 Beschäftigten:

1895 1905 1925 1933 1950
54,5 45 39,4 46,8 24,6

Prozentsatz der Betriebe mit 200 und mehr Beschäftigten:

1895 1905 1925 1933 1950
15,7 20,3 23,5 24,6 37,1

 

Erstveröffentlichung in: Die Neue Gesellschaft, Nr.1/1955, S.44f. [Nachdruck unter dem Titel „Ethischer oder marxistischer Sozialismus? Zur Kritik einer neueren sozialdemokratischen Ideologie“ in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, Hamburg 2000].

Keine Kommentare

Bisher keine Kommentare.

RSS feed for comments on this post. TrackBack URI

Leave a comment