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Ökonomie und Ideologie

Wes Geistes Kind ist der moderne Kapitalismus? (2001)
von Michael R. Krätke

1. Der moderne Kapitalismus und was daran „modern“ ist

Trotz der Aufforderung seitens der Altmeister, die ganze Geschichte „neu“ zu studieren, sich mit der herkömmlichen Geschichtsschreibung ebenso wenig zufrieden zu geben wie mit der herkömmlichen Ökonomie – die Marxisten waren an der Geschichte des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft kaum interessiert. Einzelne Versuche gab es wohl, sich mit der Geschichte und Vorgeschichte der bürgerlichen Revolutionen zu befassen und die Arbeiten zu tun, zu denen Marx und Engels nur erste Skizzen geliefert hatten, aber in ihrer großen Mehrzahl waren die Marxisten mit Tagespolitik bzw. dem jeweils gegenwärtigen Kapitalismus vollauf beschäftigt. Daher waren auch fünfzig Jahre nach Marx‘ Tod seine zahlreichen Anregungen nicht aufgenommen, geschweige denn ausgeschöpft worden. Den größten Erfolg hatte Marx bei dezidiert „bürgerlichen“ Gegnern des „Marxismus“ wie Weber, Troeltsch, Sombart und anderen, die sich von einigen seiner Anregungen inspirieren ließen, wie etwa von der in einer Fußnote im ersten Band des Kapital hingeworfenen Randbemerkung über den Zusammenhang von Protestantismus und Kapitalismus. Die Wirtschaftshistoriker kannten Marx und rieben sich ständig an ihm. Marxisten dagegen, soweit sie sich überhaupt mit der Geschichte der Produktionsweisen befassten, liebten es, soweit wie möglich in die Vor- und Frühgeschichte zurück zu gehen. Die Geschichte der kapitalistischen Produktionsweise selbst blieb weitgehend unbelichtet, obwohl es einige einflussreiche Versuche gab, die jüngste Phase der kapitalistischen Entwicklung auf den Begriff zu bringen (vgl. Krätke 1996). Erst in den 1950er Jahren gab es unter den „westlichen“ Marxisten zum ersten Mal eine ausführliche Debatte über die Ursprünge des modernen Kapitalismus. Den Anstoß gab damals eine historische Studie von Maurice Dobb, zuerst 1946 in englischer Sprache (unter dem Titel Studies in the Development of Capitalism) veröffentlicht. Ausgangspunkt der Debatte war die Frage, was eigentlich den Übergang zum Kapitalismus in Gang gebracht habe, die Entwicklung des Handelskapitals, die die bestehenden Strukturen des europäischen Feudalismus unterhöhlte, oder eine oder mehrere „Krisen“ der feudalen Ökonomie und Gesellschaft selbst. Das Handelskapital wie die Städte und das städtische Handwerk gehörten allerdings ganz und gar zur Struktur der spätmittelalterlichen „Marktwirtschaft“, über den „zersetzenden“ Einfluss dieser Elemente konnte man geteilter Meinung sein. Woher also kamen in der Struktur der europäischen Feudalgesellschaften die „Kräfte“, die zum Kapitalismus trieben? Kamen sie „von außen“ oder wurden sie durch die eigene Dynamik der Feudalgesellschaften hervorgebracht? Welche und wie viele „kapitalistische“ Elemente waren in der Gesellschaft des „späten“ europäischen Mittelalters schon vorhanden? Wann und wo kamen sie zum Durchbruch?

Die Debatte endete mehr oder weniger unentschieden. Nicht überraschend, wenn man die Komplexität des Themas bedenkt. Denn unweigerlich hatten die Beteiligten allesamt mehr oder weniger Recht. Der Kapitalismus entstand in Europa – aber an mehreren Orten, zu verschiedenen Zeiten und unter verschiedenen Umständen – in unterschiedlichen „historischen Milieus“, um mit Marx zu reden. Es gab daher von Anfang an verschiedene Kapitalismen, verschiedene Formen des Proto-Kapitalismus, verschiedene Typen von Proto-Kapitalisten, und die „Übergänge“ von den hergebrachten „feudalen“ zu den „proto-kapitalistischen“ Formen waren vielfältig. Man kann diese Vielfalt vergleichend studieren und entschlüsseln. Versuche, über die tradierten Grenzen der feudalen Ökonomie in Stadt und Land hinauszugehen, Widerstände gegen allerlei Formen des Proto-Kapitalismus, Allianzen und Kompromisse zwischen verschiedenen Protagonisten des Proto- und Frühkapitalismus spielen dabei die Hauptrolle.

In der Mitte der 70er Jahre begann eine erneute Debatte um die historische Entstehung des Kapitalismus, diesmal angestoßen durch den US-Amerikaner Robert Brenner, der in zwei Aufsätzen in Past and Present und in der New Left Review das angegriffen hatte, was er als eine Neo-Smithianische Verballhornung des Marxschen Begriffs vom Kapitalismus und von kapitalistischer Entwicklung ansah: Eine dem „Marxismus“ gehörende Konzeption, die den Kapitalismus als eine Art von fix und fertigem ökonomischen System betrachtet, das lediglich noch aus seinen „feudalen“ Hüllen befreit werden musste; und eine eher nicht- als anti-marxistische Konzeption, die die treibenden Kräfte des Übergangs in „exogenen“ Faktoren wie Seuchen, Wanderungsbewegungen und Bevölkerungswachstum sah. Gegen diese seinerzeit „herrschende Lehre“ versuchte er im Anschluss an die Arbeiten einer ganzen Reihe britischer Historiker zu zeigen, dass die Zersetzung der Feudalgesellschaft von innen heraus geschah. Nicht so sehr durch Revolten und Revolutionen, die allesamt fehlschlugen, sondern durch den tagtäglichen, alltäglichen, immerwährenden Widerstand der Bauern, der den Zugriff der Grundherren auf ihre Arbeitskraft und ihre Arbeitsprodukte wirksam begrenzte, bis hin zur schließlichen Auflösung der Leibeigenschaft in einer Vielzahl von halben oder Übergangsformen, die bis zur „Selbstbefreiung“ der Bauern in einigen Regionen Europas führten. Aus der Reaktion der Grundherrn auf diese langfristig erfolgreichen Emanzipationskämpfe der Bauern entstand ein „agrarischer Kapitalismus“ mit „privaten“ Grundeigentümern, Pächtern, freien Bauern und Landlosen (masterless men: herrenlosen Leuten), zuerst in England. Wie Brenner zu Recht betonte, haben wir nicht die eine kapitalistische Entwicklung, sondern deren mehrere, verschiedenartige in verschiedenen europäischen Ländern vor uns. Es ist daher nicht nur sinnvoll, sondern unumgänglich, die Entwicklung „des Kapitalismus“ als Entwicklung unterschiedlicher Kapitalismen zu studieren. Der vorindustrielle, agrarische Kapitalismus ist eine dieser Formen, dominant bis weit ins 19.Jahrhundert hinein, überaus wichtig in den „neuen Industrieländern“ des 19.Jahrhunderts wie Deutschland und den USA, wiederum in verschiedenen Varianten möglich, die mit dem späteren industriellen Kapitalismus ebenso wie mit dem kontemporären Handels- und Finanzkapitalismus durchaus in Konflikt kommen können.

Beide Diskussionen wurden auf Englisch und unter Wissenschaftlern geführt, gleichwohl unter starker Beteiligung von Marxisten oder Marx-Kennern, von Leuten also, zu deren kulturellem Marschgepäck eine wenigstens elementare Kenntnis der deutschen Sprache gehörte. Leo Koflers große Studie Zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft aus dem Jahre 1948, die seit ihrem ersten Erscheinen einige Male wieder aufgelegt wurde (1948 in zweiter Auflage, 1966 in gekürzter Neuausgabe, danach fünf weitere, immer weiter gekürzte Auflagen, und erst 1992 in einer zweibändigen Ausgabe, die den Originaltext einschließlich der späteren Vorworte und einige Erweiterungen enthält), spielte dennoch in beiden Debatten keine Rolle. Obwohl eine internationale marxistische Diskussion nach wie vor eine Fiktion ist – die Debatte findet heute wie vor fünfzig Jahren überwiegend in kleinen, manchmal auch transnationalen, immer aber geschlossenen Zirkeln statt – lohnt es, sich diese Fiktion auszumalen. Also Leo Koflers mit Stillschweigen übergangene bzw. in der Diskussion unbekannt gebliebene Studie auf diese zu beziehen.

Sein Beitrag hätte nicht schlecht gepasst. Denn er war den Diskutanten sehr nah und sehr fern zugleich. Sehr nah, wo er sich auf die Details der frühkapitalistischen ökonomischen Entwicklung einließ, etwa auf die Ausdifferenzierung des Manufakturkapitals, auf die nähere Bestimmung dessen, was „agrarischer Kapitalismus“ und „agrarische Kapitalisten“ in verschiedenen europäischen Ländern waren. Obwohl ihm die Sachkenntnis der späteren Diskutanten fehlte – er schrieb sein Buch in der Emigration, weitgehend ohne Zugang zu Quellen und Quellenwerken, ohne Kontakt zu Spezialisten der Wirtschafts- und Sozialgeschichte, als Autodidakt mit hauptsächlich philosophischer Vorbildung -, die Interpretation der „treibenden Kräfte“ und der sozialen Träger der bürgerlichen Revolutionen, die er gab, ist mittlerweile gut bestätigt worden. Sehr fern, da er etwas tat, was die Diskussionsteilnehmer der 1950er und 1970er Jahre unterließen: In beiden Runden spielte das, was Leo Kofler in erster Linie interessierte, kaum eine Nebenrolle. Koflers übergreifendes Thema ist der „Geist“ der aufsteigenden bürgerlichen Klassen, ihr „Rationalismus“ und „Humanismus“, der von den Eliten der neuen bürgerlichen Gesellschaft getragen und propagiert wird. Der „Aufstieg“ dieses einst rebellischen und revolutionären Geistes zur gesellschaftlichen Hegemonie, zum herrschenden Denken, zur Ideologie nicht nur des Bürgertums, sondern der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, ebenso wie sein Niedergang, seine Verwandlung in eine konservative, reaktionäre Ideologie – das ist es, was Kofler untersucht. Den Urhebern der beiden Debatten, Maurice Dobb und Robert Brenner, hätte das eigentlich gefallen müssen. Denn beider Beiträge zeichnen sich dadurch aus, dass sie die jeweiligen orthodoxen Ansichten ihrer Zeitgenossen angreifen, ganz gleich ob es dabei um „marxistische“ Orthodoxien ging oder nicht. Kofler tat das auf seine Weise ebenso.

Es gab jeweils gute Gründe für diese Debatten. Die Rückbesinnung auf die geschichtlichen Ursprünge des modernen Kapitalismus, der nun einmal eine der wesentlichen strukturbildenden Triebkräfte der Neuzeit (oder im Jargon: der Moderne) darstellt, kommt immer dann in Gang, wenn dieser im Bewusstsein der Beteiligten, der Akteure wie der Opfer, seine Selbstsicherheiten einbüßt und fragwürdig geworden ist. Also in Zeiten großer Krisen und „Umbrüche“, d.h. Perioden beschleunigten Strukturwandels, wenn vielen Zeitgenossen eine radikale Änderung ihrer Lebensweise aufgezwungen wird, sie sich einer unaufhaltsamen, unüberschaubaren „Entwicklung“ anpassen müssen, einer Veränderung, die sich scheinbar jeder Kontrolle entzieht, weder „machbar“ noch „beherrschbar“ erscheint. Die sogenannte „Globalisierung“ in der jüngsten Zeit bietet dafür ein ausgezeichnetes Beispiel.

Die Debatte in den vierziger und fünfziger Jahren fällt in so eine Umbruchphase, in der die Zukunft des Kapitalismus recht unsicher erschien. Nicht wenige waren in den vierziger Jahren davon überzeugt, dass dem „Sozialismus“ in der einen oder anderen Form die Zukunft gehöre, die der Kapitalismus nicht mehr habe. Ebenso die Debatte in den siebziger Jahren, die einsetzt, nachdem mit dem Beginn der dritten grossen Depression in der Geschichte des modernen Kapitalismus die damals bestgeglaubten Wahrheiten aus den Zeiten der „immerwährenden Prosperität“ ihre scheinbare Selbstverständlichkeit eingebüßt hatten. In beiden Debatten ging es um die langwierigen Transformationsprozesse der europäischen Wirtschaft und Gesellschaft, die zum Kapitalismus als vorherrschender Produktionsweise und zur „bürgerlichen“ Gesellschaft als vorherrschender Sozialordnung geführt hatten. Im Blick zurück hofften viele der Diskutanten, zum Verständnis der Gegenwart beizutragen. Kofler arbeitete an seinem Buch zu einer Zeit, in der die bürgerliche Gesellschaft in Westeuropa in Trümmern lag, in der Zweifel an ihren zivilisatorischen Leistungen wie ihren Grundlagen allgegenwärtig waren. Was war denn nach der Erfahrung mit den europäischen Faschismen vom bürgerlichen Humanismus und Liberalismus noch übrig außer einer fernen, verlorenen Utopie? War der Faschismus nicht das unausweichliche Ergebnis der kapitalistischen Entwicklung, das letzte Wort der „Moderne“, die mit dem bürgerlichen Rationalismus, mit der Renaissance und der Aufklärung verheißungsvoll begonnen hatte? Heute, wo die Selbstkritik der bürgerlichen Gesellschaft fast verstummt ist, wo undenkbar scheint, dass der Geist des Kapitalismus statt Freiheit, Gleichheit und Bentham auch totalitäre Monster gebären kann, heute ist die Besinnung auf die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft eben so notwendig wie damals.

2. Worum geht es in einer Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft?

Um allgemeine geschichtsphilosophische Thesen geht es nur am Rande. Sozialwissenschaftler, die keineswegs theorielos operieren, pflegen Prätentionen einer „Wissenschaft vor der Wissenschaft“ mit Skepsis zu begegnen. Auch der alte Marx hat sich dagegen gewehrt, als Vertreter einer Geschichtsphilosophie vereinnahmt zu werden. Was ihm die Philosophen des Marxismus bis zum heutigen Tage sehr übel nehmen. Marx waren die Umdeutungen seiner historischen Skizzen im Kapital in eine „geschichtsphilosophische Theorie des allgemeinen Entwicklungsganges (…), der allen Völkern schicksalsmäßig vorgeschrieben ist“ (MEW 19, 111), zumindest peinlich. In diversen Briefen und Entwürfen, geschrieben 1877 und 1881, also nach der Umarbeitung des ersten Bandes des Kapital für die französische Ausgabe von 1872 – 75, die ebenfalls in diese Richtung geht, hat er eine Selbstinterpretation gegeben, die sich eindeutig gegen die bis heute im „Marxismus“ dominante Lesart kehrt. Bereits im Manuskript von 1857/58 finden sich zahlreiche relativierende Überlegungen, die die Besonderheiten, mithin auch die Vielfalt der historischen Übergänge zur kapitalistischen Produktionsweise in Europa (England und Frankreich sind die Hauptbeispiele) betreffen (vgl. MEW 42, 404ff.). In den erwähnten Briefen (an die Redaktion des Otetschestwennyje Sapiski 1877, an Vera Sassulitsch 1881) betont Marx die Bedeutung der „unterschiedlichen historischen Milieu[s]“ (MEW 19, 112) oder der jeweiligen „geschichtlichen Umstände“ (MEW 19, 111). Von diesen hänge es ab, was aus den Möglichkeiten, den jeweils vorhandenen materiellen und geistigen Grundlagen einer ökonomischen und/oder technologischen Entwicklung jeweils gemacht werde. Nur aus gründlichen und vergleichenden Untersuchungen könne man erschließen, wie und warum eine bestimmte Form des Kapitalismus sich etabliere, warum die kapitalistische Entwicklung in den verschiedenen Ländern Westeuropas und anderswo so und nicht anders verlaufen ist, warum sie daher unter anderen „historischen Bedingungen“ anders verlaufen kann und muss. Vom „Universalschlüssel einer allgemeinen geschichtsphilosophischen Theorie, deren größter Vorzug darin besteht, überhistorisch zu sein“ (MEW 19, 112), hielt der alte Marx gar nichts. Dazu war er einfach zu weit gekommen auf seinem langen Weg von der Hegelei hin zu einer kritischen und empirischen, historisch wohlinformierten Sozialwissenschaft. Folglich bemühte er sich, die Missverständnisse über „meine sogenannte Theorie“ auszuräumen (MEW 19, 242), ohne sich auf eine bestimmte Aussage zur Entwicklung des Kapitalismus in Russland oder anderswo festlegen zu lassen.

Allerdings sind diese Marxschen Überlegungen und Richtigstellungen erst postum (1886/87) veröffentlicht worden. Allerdings hat er selbst, wenn auch verständlich, so doch einigermaßen inkonsequent den ersten Band des Kapital mit geschichtsphilosophischen Passagen ausgeschmückt, die dem „Marxismus“ wie dem „Antimarxismus“ allzu leichtes Spiel machten. Engels hat dafür in Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie (1886/1888) die Sache klar gestellt, was ihm die Verachtung der Berufsphilosophen bis zum heutigen Tage sichert: Nachdem die Naturwissenschaftler den mechanischen und unhistorischen „Materialismus“ faktisch überwunden hatten, so Engels, war jede weitere Form der Naturphilosophie unmöglich geworden, ein Rückschritt. Analog gilt das natürlich auch für die Geschichtsphilosophie. Und so sagt er es auch: Die Marxsche Konzeption der historischen Sozialwissenschaft, seine „Geschichtsauffassung“, macht „der Philosophie auf dem Gebiet der Geschichte ebenso ein Ende wie die dialektische Auffassung der Natur alle Naturphilosophie ebenso unnötig wie unmöglich macht“ (MEW 21, 306). Die „Marxisten“ behaupten jedoch das Gegenteil.

Einige Vorarbeiten zu einer Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft stammen von Engels. Seine Geschichte des deutschen Bauernkriegs (1851) enthält z.B. einen Ansatz zur Erklärung des merkwürdigen Faktums, dass die Klassenkämpfe im Europa des 15.Jahrhunderts – und noch lange danach – die Form von Religionskriegen annahmen, und die bürgerliche wie die plebejische Opposition gegen die herrschenden Zustände unvermeidlich als Ketzerei, also „der Form nach reaktionär“, auftreten musste, als eine Bewegung, die den Fortschritt als Rückkehr zum „alten Recht“ verkündete (vgl. MEW 7, 343ff.). In seinen Notizen und Manuskripten aus den 1870er und 1880er Jahren bezeichnet Engels die Renaissance (und die Reformation) als „die größte Revolution, die die Erde bis dahin erlebt hatte“ (MEW 20, 464). Er beschreibt sie als Epoche geistiger Umwälzungen, in enthusiastischen Wendungen, die so gar nicht zu dem bornierten Bild passen wollen, das sich „Marxismus“ wie „Antimarxismus“ im trauten Verein des Forschungsprogramms des historischen Materialismus zurecht gemacht haben. Es war eine „bürgerliche“ Revolution, allerdings eine vor allem geistige, eine „religiöse Revolution“ und eine des wissenschaftlichen Denkens. Es ist eine Revolution, die in Engels‘ Worten in der Tat von Männern, und zwar großen Männern, geprägt und gemacht wurde: Die „größte progressive Umwälzung, die die Menschheit bis dahin erlebt hat“, war eine Zeit, die – wie es in der etwa 1875 geschriebenen Einleitung zu dem geplanten Buch heißt – „Riesen brauchte und Riesen zeugte, Riesen an Denkkraft, Leidenschaft und Charakter, an Vielseitigkeit und Gelehrsamkeit. Die Männer, die die moderne Herrschaft der Bourgeoisie begründeten, waren alles, nur nicht bürgerlich beschränkt“ (MEW 20, 312). Die Männer, von denen Engels da spricht (Albrecht Dürer, Macchiavelli, Leonardo da Vinci, Jean Bodin und viele andere), sind Intellektuelle, Gelehrte, Künstler, es sind kritische und organische Intellektuelle ihrer Zeit, die „fast alle mitten in der Zeitbewegung, im praktischen Kampf leben (…), Partei ergreifen und mitkämpfen, der eine mit Wort und Schrift, der andere mit dem Degen, manche mit beidem“ (ebd). Diese frühen Bourgeois, so Engels, hatten Geist und „Fülle und Kraft des Charakters, die sie zu ganzen Männern“ machte. „Stubengelehrte“ waren die Ausnahme, denn die Gelehrten mussten der Wissenschaft, der Naturwissenschaft wie der Sozialwissenschaft, „das Recht der Existenz [erst] erkämpfen“ (MEW 20, 313). Nicht wenige haben den Kampf gegen die Theologie und Philosophie mit dem Leben bezahlt.

Da Engels kein „Marxist“ war, sah er das Problem sehr klar: Wie ist es möglich, dass es plötzlich, innerhalb eines Jahrhunderts zu einer Umwälzung des Weltbildes, zu einer gründlichen Revolutionierung der Köpfe kommt? Und wie ist es möglich, dass in der Periode der großen Transformationen und Revolutionen in der Tat große Persönlichkeiten auftreten und wirken können? Woher kommen die großen Geister, woher kommt das, was sie bewegt, worauf beruht ihre Wirkung auf ihre Zeitgenossen? Einige, die nach ihm kamen, haben diese Fragen zu beantworten gesucht, wie z.B. Borkenau (1934), Grossmann (1935), so auch Leo Kofler 1948.

Koflers Darstellung in der Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft ist ebenfalls keine geschichtsphilosophische. Er versucht, den diversen Vorarbeiten von Engels‘ und den frühen Versuchen der ersten „Marxisten“ wie Kautsky und Bernstein folgend, die große Linie der Umbrüche in dieser langwierigen Revolutionsperiode zu finden, dem Weg zu folgen, auf dem sich die bürgerliche Gesellschaft in Europa entwickelt hat. Ohne die Marxschen Überlegungen zur historischen Möglichkeit und Kontingenz der Entwicklung des Kapitalismus zu kennen, folgt Kofler mit richtigem Instinkt seiner durchaus offenen, alles andere als deterministischen Konzeption. Einer Konzeption, die die Brüche, die Diskontinuitäten der kapitalistischen Entwicklung, ihre Krisen und Katastrophen, auch die Möglichkeit von Stagnation und Rückschritt einschließt. Kofler folgt auch Engels‘ Grundgedanken: Es gibt nicht eine „bürgerliche Revolution“ in Europa, sondern eine ganze Reihe von bürgerlichen Revolutionen, die den Vorahnungen und Ahnungen der „guten“, d.h. bürgerlichen Gesellschaft stück- und schrittweise zum Durchbruch verhelfen – Revolutionen, die jeweils unter ganz unterschiedlichen „historischen Umständen“ stattfinden. Engels‘ diverse Bemerkungen dazu – vor allem die aus den Manuskripten zur Dialektik der Natur – werden von Kofler des öfteren zitiert oder kryptozitiert. Marx‘ Manuskripte dagegen, vor allem die Grundrisse, die 1939 und 1941 zuerst in der Sowjetunion erschienen und erst 1953 dank eines Nachdrucks in der DDR auch in Westeuropa zugänglich wurden, hat Kofler damals offensichtlich noch nicht gekannt.

Koflers Unternehmen kann man nur ehrgeizig nennen. Denn sein Thema ist viel weiter gefasst als die Entstehung und Entwicklung des Kapitalismus in Westeuropa, was ja schon unbescheiden genug wäre. Die „geistige Revolution“, die mit der Entstehung und Entwicklung des modernen Kapitalismus einher geht, will er vorführen. Der moderne Kapitalismus, so Kofler, setzt eine fundamentale Veränderung der Denkweise voraus, die neue Produktionsweise beginnt erst da, wo mit der Veränderung der Produktionsstruktur „sich auch die Struktur des gesellschaftlichen Bewusstseins zu verändern beginnt“ (Kofler 1966, 295). Genau genommen behandelt er weitgehend die Vorgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Das Bürgertum ist bis weit ins 19.Jahrhundert hinein, selbst noch in der Phase des sogenannten „Imperialismus“, keineswegs die politisch und gesellschaftlich unangefochten herrschende Klasse; der industrielle Kapitalismus befindet sich selbst in den Hauptländern Westeuropas und in den USA in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts noch im Aufstieg und hat sich keineswegs überall und generell durchgesetzt. Dennoch ist das Bürgertum bereits im 17. und 18.Jahrhundert, wo es nur ausnahmsweise herrscht und manchmal (mit)regiert, eine „geistige Macht“. Von einer „Hegemonie“ ist sie noch weit entfernt, auch wenn es bereits „bürgerliche“ Intellektuelle sind, die die geistige, die wissenschaftliche und die künstlerische Produktion beherrschen.

Koflers Darstellung beruht auf bekannten Fakten und richtet sich gegen gängige Lehrmeinungen und Interpretationen. So gegen Henri Pirennes Interpretation der europäischen Wirtschaftsgeschichte, so gegen Max Webers Lesart des Zusammenhangs von Frühkapitalismus und Protestantismus. Aber er polemisiert auch gegen die Marxisten, streitet mit Bernstein und Kautsky, mit Borkenau und Grossmann, mit Wittfogel. Seine ganze Darstellung ist eine implizite Kritik einer „rein wirtschaftsgeschichtlich vorgehenden, den gesellschaftlichen Prozess in unabhängige Akte zerreissenden und daher nur scheinbar marxistischen Geschichtsbetrachtung“ (Kofler 1966, 287). Er will Wirtschafts-, Sozial-, Politik- und Geistesgeschichte zugleich, in und aus einem Guss geben. Er will die bürgerliche Gesellschaft und ihre Entwicklung als Ganzes und im Ganzen betrachten – in dem „inneren Zusammenhang“, in den ihre Formen gehören. Das ist ein großer Anspruch. Formuliert hat er ihn schon 1944, in der Wissenschaft von der Gesellschaft. Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft soll die Probe des Puddings, die Einlösung der methodischen Ansprüche geben. In der Studie Geschichte und Dialektik kommt er 1955 noch einmal ausführlich auf die Frage zurück, wie sozialwissenschaftliche, theoriegeleitete Geschichtsschreibung im Anschluss an und belehrt durch Marx‘ Vorarbeiten eigentlich möglich sei. Dies ist seine ausgereifteste Arbeit zur „Methodenlehre“ und der Durchgang durch die Geschichte, auf die er dort immer wieder zurückverweist, hat sich gelohnt. Den historischen Gesamtprozess versteht man nur, wenn man die Logik dessen, was dabei herauskommt, bereits begriffen hat. Gemeint ist die Logik des Gesamtprozesses der kapitalistischen Produktionsweise, also das, was Marx mit allen drei Bänden des Kapital zusammen zu leisten versucht hatte. Allerdings, auch das ein Grundgedanke von Marx, die Struktur und Logik des „reinen“, vollentwickelten Kapitalismus ist etwas anderes als die Logik seiner historischen Genese, auch wenn das eine nicht ohne das andere zu begreifen ist.

Etwa die Hälfte des Textes, fast 300 Seiten, widmet er der Darstellung der „vorwärtsweisenden Faktoren“ in der Neuzeit, also der Untersuchung der mehr oder weniger bürgerlichen sozialen Bewegungen vom 15. bis zum 17.Jahrhundert. Ein gutes Drittel, fast 200 Seiten, ist der Darstellung des „Gegenstroms“ gewidmet, der den Aufstieg der bürgerlichen Gesellschaft verzögert, sogar aufhält und dem Ancien Régime eine lange Spätblüte beschert. Dazwischen schiebt er einen kurzen Essay, in dem er den Ursprüngen der Sozialwissenschaft aus dem Geist des revolutionären Bürgertums im 17. und 18.Jahrhundert nachgeht, also den Ursprüngen dessen, was Marx die Selbstreflektion und Selbstkritik der bürgerlichen Gesellschaft (in der politischen Ökonomie, in der beginnenden Geschichtswissenschaft, in der noch ihrer selbst keineswegs gewissen, geschichtsphilosophisch verkleideten Soziologie) genannt hat. Seine Gliederung ist weder besonders übersichtlich noch originell. Sie folgt der im 19.Jahrhundert entwickelten, konventionellen Einteilung in geistes- und religionsgeschichtliche Epochen: Renaissance, Humanismus, Reformation, Calvinismus, Gegenreformation, Aufklärung und Gegenaufklärung, Liberalismus. Untersucht werden verschiedene Großregionen Europas bzw. Länder, die nur zum kleineren Teil so etwas wie eine „staatliche“ Einheit kennen (Italien, Spanien, Frankreich, England und Deutschland in der Hauptsache mit gelegentlichen Ausflügen nach Skandinavien oder in die Niederlande). Die Darstellung endet mit dem Manchester-Liberalismus des 19.Jahrhunderts, mit dem der „bürgerliche Humanismus überhaupt sein Ende gefunden“ habe (Kofler 1966, 636).

Kofler folgt einem einfachen Grundgedanken: die Ideologien wie die Ideologen einer bestimmten Epoche sind jeweils sozialen Klassen zuzuordnen, aber historisch wirksame Ideologien greifen über die „soziale Welt“ einer Klasse hinaus. Um eine Ideologie zu verstehen, müsse man sich schon die Mühe machen, die „komplizierten Verhältnisse“ zu begreifen, unter denen ihre Träger gelebt haben, mithin das Ganze ihrer Beziehungen zu anderen sozialen Klassen, die Struktur der jeweiligen „Gesellschaft“ kennen. Also versucht er, die Entwicklung der verschiedenen Formen des Kapitalismus, der verschiedenartigen „Kapitalistenklassen“, mithin der Sozialstruktur der bürgerlichen Gesellschaft nachzuzeichnen. Seine Darstellung strebt dem Punkt zu, wo zum ersten Mal ein „revolutionäres Bürgertum“ als geschichtlich handelnde Kraft in Erscheinung tritt, ein Bürgertum, das „zur kompromisslosen Umgestaltung der ganzen Gesellschaft im bürgerlichen Sinne drängt“ (Kofler 1966, 316).

Wer sind die „revolutionären“ Bürger, die Träger des neuen, antifeudalen Geistes, die die Utopie der bürgerlichen Gesellschaft verkünden und zu realisieren suchen? Es sind nach Kofler die Manufakturkapitalisten oder -bourgeois, nicht die Handelsherren, die Bankiers und Finanziers, nicht die städtischen Handwerker. Woher kommt diese Manufakturbourgeoisie, in welcher Art von Gesellschaft lebt sie, gegen wen und was rebelliert sie? Wie unterscheiden sich die Manufakturunternehmer von den anderen bürgerlichen und mehr oder minder kapitalistischen Klassen, von den Handels- und Finanzkapitalisten, nicht zu vergessen von den agrarischen Kapitalisten, den Grundeigentümern? Sind sie überhaupt eine selbständige soziale Klasse, vergleichbar mit der Aristokratie? Was bedeutet es für die „Bourgeoisie“ und für die von ihr dominierte bürgerliche Gesellschaft, dass sie eben nicht eine einzige ist, sondern aus recht unterschiedlichen „sozialen Klassen“, aus einer Mehrzahl von bürgerlichen Klassen besteht? Warum sind gerade die Manufakturbourgeois die erste „revolutionäre“ Klasse in der Geschichte des Bürgertums, während sich die Grundeigentümer, die Händler und Bankiers sehr gut in einer vorbürgerlichen Gesellschaft einrichten und mit einem partiellen Kapitalismus ohne herrschende Kapitalistenklasse und ohne dominante „kapitalistische“ Produktionsweise leben können?

Koflers Gesamtbild der kapitalistischen Entwicklung ist recht einfach. Auf die Periode des Handelskapitalismus folgt die Periode des Manufakturkapitalismus. Die Renaissance gehört in die Epoche des Handelskapitalismus, die zugleich die erste Epoche der ursprünglichen Akkumulation darstellt, die Reformation, die Bauernkriege, die Revolten und Revolutionen des calvinistischen bzw. puritanischen Bürgertums gehören in die Epoche des Manufakturkapitalismus. Die lange Epoche des Manufakturkapitalismus, zugleich eine zweite Epoche der ursprünglichen Akkumulation, die bis zur beginnenden industriellen Revolution reichen soll, versucht Kofler noch weiter zu unterteilen: die frühe oder beginnende Manufaktur, ihre reifere Periode und schließlich die Periode der „vollendeten“ Manufaktur (Kofler 1966, 372ff.). Er versucht, die „Stufen“ der Herausbildung der Manufaktur innerhalb eines nicht-kapitalistischen Raumes (des städtischen und ländlichen Handwerks) von beträchtlichem Umfang zu umreißen. Nach Koflers Ansicht entsteht die Manufakturbourgeoisie nicht aus dem Handel, obwohl sie in den historischen Kontext des von Kaufleuten dominierten „Verlagssystems“ gehört. Es ist historisch richtig, dass sich aus dem Verlagssystem eine besondere Gruppe von Unternehmern herausbildet, die die städtische und ländliche Hausindustrie organisiert, zu größeren Einheiten zusammenfasst, und zwischen den kleinen Handwerkern (Kleinmeistern) und den Handelsherren steht. Diese Urform des kapitalistischen Industriellen oder Fabrikanten gibt es bereits im 16.Jahrhundert, vor allem in der flandrischen und englischen Leinen- und Tuch“industrie“ in voll ausgebildeter Form. Kofler plädiert für einen breiten Begriff der Manufaktur, will den strikten Unterschied zwischen Handwerk, Verlagssystem mit (städtischer und ländlicher Hausindustrie) und Manufaktur nicht gelten lassen, der sich am Bild der späteren, überwiegend staatlichen Manufakturen (zur Herstellung von Rüstungs- und Luxusgütern) in der merkantilistischen Periode orientiert. Scharf ist die Trennlinie zwischen den frühen kapitalistischen Manufaktur“unternehmern“, den Verlagskaufleuten und den Handwerkern auch nicht zu ziehen. Die Manufakturherren sind noch Unternehmer und Arbeiter zugleich, hoch spezialisierte Handwerker mit Meisterstatus, die einen Betrieb mit vielen Handwerkern leiten und deren Zusammenarbeit organisieren. Sie bilden allerdings lange eine Minderheit innerhalb der „Bourgeoisie“ der frühen Neuzeit. Neben der Manufakturbourgeoisie gibt es andere Sorten von „Kapitalisten“, die aber nicht sonderlich „bourgeois“, geschweige denn „revolutionär“ sind.

Koflers Stärke liegt darin, dass er sich mit dem simplen Bild „der Bourgeoisie“ bzw. des Kapitalismus, der sich immer weiter „entwickelt“, nicht zufrieden gibt. Einige Arten von „Kapitalisten“ und einige Formen des Kapitalismus können durchaus ohne bürgerliche Gesellschaft, ohne „kapitalistische Produktionsweise“ leben. Die großen Handelskapitalisten in den italienischen Handelsstädten wie Venedig, Florenz, Pisa, Genua können es. Diese neue soziale Klasse der Händler-Bankiers besteht zu einem großen Teil aus Aristokraten. Das ist möglich, solange der Handel noch ein Abenteuer, nur zum Teil ein Geschäft ist, und solange die Grenze zwischen Handel, Piraterie und Krieg nicht scharf gezogen wird. Daher sind die Händler, gerade die großen Welt- und Kolonialhändler, die „merchant adventurers“, wie sie im England des 16. und 17.Jahrhunderts heißen, keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft und in ihrer Lebens- und Denkweise keineswegs vorwiegend „bürgerlich“. Adlige können Handels- wie Kriegsunternehmer sein und zudem recht erfolgreiche. Nichtadlige Händler und Bankiers kaufen Land und oftmals Adelstitel und/oder heiraten in den Adel ein – wo möglich. Zwischen diesen „Patriziern“, den nobilitierten Handelskapitalisten und den Manufakturunternehmern, die aus dem Handwerk kommen und noch stets mit einem Bein selbst im Handwerk stehen, gibt es in der Tat eine tiefe soziale Kluft.

Die Grundeigentümer der englischen Gentry stellen das zweite historisch wichtige Beispiel einer sozialen Klasse dar, die nicht mehr der Feudalgesellschaft und noch nicht der bürgerlichen Gesellschaft angehört. Ihrer Lebensweise und ihrer Vorstellungswelt nach sind sie noch Aristokraten, aber ihren Grund und Boden betrachten und behandeln sie bereits als Privateigentum, der Tendenz nach als eine „Ware“, die einen „Preis“ hat. Ihr Grundbesitz ist Geld wert und soll ihnen ein regelmäßiges Geldeinkommen einbringen. Und zwar möglichst viel und immer mehr Geld. Das macht sie noch nicht zu Kapitalisten, wohl aber zu Leuten, die ihr Grundeigentum systematisch und kommerziell – an Märkten und Marktchancen orientiert – zu verwerten suchen und daher dem „agrarischen Kapitalismus“ Tür und Tor öffnen. Sie können mit ganz unterschiedlichen Formen und Graden des agrarischen Kapitalismus leben – als Pachtherren, als selbständige Agrarunternehmer, als Plantagenherren wie in den Kolonien, mit Pächtern, mit freien Lohnarbeitern, mit Sklaven. Allesamt sind sie „gentlemen“ und legen Wert darauf, es zu sein. Sie bilden eine besondere soziale Klasse gegenüber den übrigen sozialen Klassen, einschließlich der „Kapitalisten“. Ihnen geht es noch darum, Reichtum – vor allem in der Form von Grundbesitz – zu bilden und als Familienvermögen zu erhalten, ein Reichtum, der auch gezeigt und demonstrativ, der sozialen Stellung seiner Besitzer entsprechend, konsumiert, gelegentlich auch in Handelsunternehmungen und Geldgeschäften eingesetzt wird. Nichts charakterisiert die besondere Zwischenstellung dieser adligen Grundeigentümerklasse besser als ihr jahrhundertelanges, höchst widerspruchsvolles Bemühen darum, den Grund und Boden in eine Ware zu verwandeln und zugleich eben diese Verwandlung des Bodens in eine alltägliche Handelsware aufzuhalten. Adlige Grundherren sind es, die die „Einhegungen“, also die durchaus politischen Aktionen zur Beschränkung und schließlichen Aufhebung der „commons“, der Nutzungs- und Gebrauchsrechte Dritter am Grund und Boden, mithin dessen Verwandlung in Privateigentum betreiben. Dieselben Grundherren betreiben aber auch die künstliche Dekommodifizierung oder Beschränkung des Warencharakters ihres Grundeigentums, das nur bedingt ge- bzw. verkauft werden kann und dem „freien Marktverkehr“ zumindest zeitweilig entzogen bleibt. Es dauert in allen kapitalistischen Ländern Europas lange, bis die Verwandlung des Bodens in eine Ware gegen den Widerstand der Gentry durchgesetzt werden kann (vgl. Anderson 1974, 56f.).

Ohne sie in allen Einzelheiten zu kennen, hat Kofler der Marxschen These von der historischen Kontingenz der kapitalistischen Entwicklung, ihrer Abhängigkeit von unterschiedlichen „historischen Milieus“ Respekt gezollt. Sein ganzes Argument beruht auf der Disparität und Asynchronität der Entwicklung verschiedener Elemente des modernen Kapitalismus, welcher von Anfang an eine sehr „gemischte“ Ökonomie darstellt, die sich aus verschiedenen Arten von „Kapitalismen“ zusammensetzt. Dazu gehören jeweils verschiedene Mischungen von Manufaktur-, Handels- und Agrarkapitalismus. Englischer wie französischer Kapitalismus des 17. und 18.Jahrhunderts sind keineswegs homogen, es handelt sich in beiden Fällen um „gemischte“ Wirtschaften, in denen sich recht umfangreiche vor- bzw. nichtkapitalistische „Räume“ halten können, die von der kapitalistischen Welthandelsökonomie nur am Rande berührt werden. Koflers Darstellung der Vielfalt dieser frühmodernen Kapitalismen ist alles andere als vollständig – der Staatskapitalismus, die weitverbreitete Ausbeutung staatlicher Funktionen durch adlige bzw. bürgerliche (oft genug nobilitierte) Privatunternehmer fehlt, ebenso wie die weite Welt des Finanzkapitalismus -, aber der Grundgedanke ist richtig: Die aufsteigende bürgerliche Gesellschaft wird von einer Vielzahl von besitzenden Klassen geprägt, die nicht alle „bürgerlich“ sind. Die Gruppen, die zusammen das „Bürgertum“ bilden, werden von den Zeitgenossen in der Regel im Plural wahrgenommen und beschrieben – als „commercial classes“, „business classes“, „monied classes“. Einig sind sie nur gegen die „Unterklassen“, die in ihren Augen nicht zur guten, bürgerlichen Gesellschaft gehören, und gelegentlich auch gegen den grundbesitzenden Adel, dessen Lebensweise allerdings das gesellschaftliche Vorbild, ja das Ideal der aufstrebenden Bourgeois darstellt. Grundeigentümer werden und wie ein Herr leben (auf dem Lande wie in der Stadt) erscheint ihnen als der eigentliche soziale Endzweck eines Kapitalistenlebens. Nur diejenigen, die keine Chance zu einem solchen sozialen Aufstieg haben, die kleinen Verlagskaufleute und Manufakturunternehmer, bleiben ihr Leben lang kapitalistische Unternehmer. Ihr Ideal ist daher die bürgerliche Gesellschaft der Freien und Gleichen.

Der grundbesitzende Adel stellt in Koflers Darstellung eine formidable geistige, soziale und politische Macht dar, der im 17. und 18.Jahrhundert eine regelrechte „Refeudalisierung“ der Gesellschaft gelingt. Die Entwicklung des Kapitalismus in seinen diversen Formen, der soziale Aufstieg des Bürgertums lassen sich durchaus aufhalten und sie werden aufgehalten. Das ist eine bemerkenswerte Interpretation, die eine differenziertere Sicht auf das Phänomen des neuzeitlichen Absolutismus, d.h. des modernen Territorialstaats (noch nicht, wie Kofler fälschlich meint, des Nationalstaats), erlaubt: Der Absolutismus gehört in eine Phase des Rückschritts, der Stagnation, in der die Entwicklung des Kapitalismus erst künstlich, von Staats wegen wieder in Gang gebracht wird. Der sogenannte „Merkantilismus“ gilt Kofler als eine Periode, in der der Staat im wohlverstandenen Eigeninteresse selbst als Motor der kapitalistischen Entwicklung agiert, eine Entwicklung, die von den grundbesitzenden Klassen gestoppt wurde. Kofler sieht das ähnlich wie Marx. Bis ins 18., ja noch weit ins 19.Jahrhundert hinein bleibt der Adel, trotz aller „Verbürgerlichung“, „letzten Endes maßgeblich“ (1966, 400f.). Das sagt er für England, wo nach bis heute gängiger Ansicht die Verbürgerlichung des Adels am frühesten begann und sich am weitesten durchgesetzt hat. Arno Mayer hat diese These vom Fortbestand des „ancien régime“ in Europa auf die Spitze, mithin zu weit getrieben: Bis zum ersten Weltkrieg waren die europäischen Gesellschaften von agrarischen und/oder aristokratischen besitzenden Klassen beherrscht, mithin nicht vorwiegend „bürgerlich“ oder „kapitalistisch“ (vgl. Mayer 1981). Wie übertrieben das ist, darüber lässt sich streiten. Richtig bleibt, dass sich die bürgerliche Gesellschaft und der (industrielle) Kapitalismus erst nach einer langen Anlaufzeit im Laufe des 19.Jahrhunderts durchgesetzt haben.

Kofler hat später im Rückblick betont, dass es sich um eine „ideologiegeschichtliche“ Untersuchung gehandelt hat (1955). Das erklärt einige ihrer Schwächen. Zum Beispiel den erstaunlichen Umstand, dass er die erste bürgerliche Republik der Neuzeit, die Republik der Niederlande nämlich, nur ganz am Rande behandelt. Wie sieht eine Gesellschaft aus, in dem das Bürgertum, und zwar das städtische, überwiegend calvinistische Handelsbürgertum tatsächlich herrscht, ohne nennenswerten Einfluss von „Manufakturherren“ und/oder adligen Grundherren und in einer Welt, die aus noch weitgehend vorbürgerlichen, nichtkapitalistischen Agrargesellschaften besteht? Holland, die „kapitalistische Musternation“ des 16. und 17.Jahrhunderts, wie Marx sagt, kommt nur in einigen Nebenbemerkungen vor. Ebenso fehlen die Neu-England Staaten, die Kolonien, aus denen die Vereinigten Staaten von Amerika werden sollten, sowie die beiden bürgerlichen Revolutionen (der Amerikanische Unabhängigkeitskrieg und der Amerikanische Bürgerkrieg), aus denen die bürgerliche Gesellschaft der USA hervor gegangen ist. Beides sind unerlässliche Testfälle für eine Untersuchung der Entwicklungsdynamik der bürgerlichen Gesellschaft. Für einen historischen Materialisten schenkt Kofler der „Kommunikationsrevolution“, die der Renaissance und der Bewegung des Humanismus zugrunde lag, d.h. der Erfindung des Buchdrucks, der Entwicklung von Druckereien, Buchhandel, Büchern, Flugschriften bis hin zu den Zeitungen, erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Ebensowenig interessiert er sich für die soziale Lage und Stellung der neuen „Intellektuellen“, der Wissenschaftler, Künstler, Schriftsteller, die sich aus dem Klerus herauslösen und vom Verkauf ihrer Arbeitsprodukte bzw. ihrer Arbeitskraft zu leben beginnen. Für eine ideologiehistorische Arbeit wäre aber gerade dieser langwierige Prozess, in dem Wissen und Informationen in Waren und Wissensarbeiter in Unternehmer und/oder Lohnarbeiter verwandelt werden, ein wichtiges Mittelglied, um die Produktion und Verbreitung von „Ideologien“ zu verstehen.

Offenbar war sich Leo Kofler der Grenzen seiner eigenen Arbeit, trotz ihres Umfangs, wohl bewusst. Bereits im Vorwort zur zweiten Auflage von 1948 erklärt er seine Absicht, den Text umzuarbeiten, da „viele Stellen“ der Revision bedürften (vgl. Kofler 1992, 329). Dazu ist es auch später nicht mehr gekommen. In seiner Schrift Geschichte und Dialektik bemerkt er am Rande: „Die Renaissance ist vom historisch-materialistischen Standpunkt aus so gut wie gar nicht untersucht worden, obwohl die zahlreichen Hinweise und Anregungen, die uns Marx und Engels geben, Handhabe genug dazu bieten. Statt sich an die Arbeit zu machen, begnügen [sie] sich“ mit allgemeinen Redensarten (1970, 153). Gemeint sind die „Marxisten“.

3. Woher kommt der „Geist des Kapitalismus“?

Vom „Geist des Kapitalismus“ sprachen nicht erst Max Weber oder Werner Sombart. Angefangen hat damit Marx. Nicht nur einmal und gelegentlich, sondern immer wieder, in verschiedenen Kontexten. Dort, wo er im ersten Band des Kapital, in einem heroischen Vorgriff auf die Darstellung des Gesamtprozesses, auf den Zusammenhang von Sparen, Konsumieren und Akkumulieren, also auf das Geheimnis der Kapitalbildung zu sprechen kommt, verfällt er in alttestamentarischen Predigerton: „Akkumuliert, akkumuliert! Das ist Moses und die Propheten!“ (MEW 23, 621). Nicht zufällig, denn nur ein hochmoralisches Gebot, eine Norm der „Wirtschaftsethik“, vermag den „faustischen Konflikt zwischen Akkumulations- und Genusstrieb“, der dem „Kapitalindividuum“ die Brust zerreißt, im Sinne der Kapitalbildung zu lösen (MEW 23, 620). Akkumulation im spezifisch kapitalistischen Sinn ist etwas anderes als Sparen, etwas völlig anderes als Reichtümer aufhäufen, selbst dann, wenn es sich nicht mehr um den Erwerb von „ehrenvollem“ Besitz-, Grund- und Hausbesitz – handelt, sondern um Geldvermögen. Sie hat mit Schatzbildung oder Vermögensbildung ebenso wenig zu tun wie mit „genießendem Reichtum“ und „demonstrativem Konsum“, obwohl beides sehr wohl damit einhergehen kann.

Der „Geist des Kapitals“ zeigt sich in vielen Formen und er beherrscht keineswegs nur die Köpfe der „personifizierten“ Kapitalien, der Kapitalisten. Die meisten Marxisten, zumal die Philosophen, machten und machen es sich viel zu einfach, wenn sie diesen „Geist“ kurzerhand mit dem „Fetischismus“, der „Verdinglichung“ schlechthin gleichsetzen. Sie machen aus einer richtigen und sinnvollen Abstraktion Marx‘ eine durch und durch falsche, oberflächliche Abstraktion, in der Regel ohne zu bemerken, dass es sich in der Tat nur um die flachste, allgemeinste, mithin auch formellste und inhaltsloseste Bestimmung des bürgerlichen Bewusstseins handelt. Eine Bestimmung, die ohne ihre notwendigen Widerparte flach bleibt. Schon Marx‘ frühe Formel von der „Personifizierung der Sachen“ und der „Versachlichung der Personen“ zeigt, dass er auf viel mehr und vor allem Widersprüchliches aus ist. Was Marx liefert, sind in der Tat nur die Grundlagen, auf denen die Freiheitsillusionen, die Gleichheits- und Gerechtigkeitsvorstellungen der Mitglieder der bürgerlichen Gesellschaft beruhen. Vorstellungen also, die keineswegs nur „bürgerliche“ Köpfe beherrschen.

Dieser Geist kapitalistischer Produktionsweise fällt nicht vom Himmel, er entwickelt sich langsam, setzt sich erst allmählich durch. Mit dem Manufakturkapitalisten entsteht nach Koflers Ansicht zum ersten Mal „der vollendete homo oeconomicus“. Mit ihm auch eine „völlig neue, von aller bisherigen grundsätzlich unterschiedne Geisteshaltung“ (1966, 405). Wie sieht die aus und wie kommt sie zustande? Wie ist es möglich, dass eine Geisteshaltung, die zunächst nur den gehobenen Handwerkern, den kleinen Manufakturunternehmern, keineswegs der ökonomischen und politischen Elite, eigen sein soll, zur vorherrschenden, ja „normalen“ Denkweise des gesamten Bürgertums, sogar zum Ideal der bürgerlichen Gesellschaft wird? Der Geist des Manufakturkapitalismus ist ein anderer als der Geist des Handelskapitalismus. Aber verhalten sie sich tatsächlich wie zwei „Entwicklungsstufen“ ein und desselben bürgerlich-kapitalistischen Geistes oder sind es eher feindliche Brüder, ideologische Formen eines keineswegs sanften Gegensatzes zwischen der „abenteuernden“ Geld- und Handelsbourgeoisie oder besser -aristokratie und der „rationalen“ Manufakturbourgeoisie (vgl. Borkenau 1934, 155f.)?

Belege dafür, dass die patrizischen Händler und Bankiers der Renaissancezeit Künstler, Schriftsteller und Wissenschaftler förderten, deren Handschriften, Bücher und Gemälde bzw. Drucke kauften und nutzten, gibt es reichlich. Humanistische Erziehung der Kinder durch humanistisch gebildete, d.h. studierte Hauslehrer, gehörte zum Lebensstil des Patriziats in den großen Handelsstädten Europas. Aber die Fabrikanten? Humanistisch gebildet sind wohl die wenigsten Handwerker und Manufakturherren gewesen. Aber des Lesens und Schreibens kundig, in der Bibel belesen waren sie und religiös bewegt. Auf Schulbildung und religiöse Erziehung (auch der Mädchen) legten sie Wert. Wie das für die meisten europäischen Länder hinreichend belegt ist, waren sie in ihrer großen Masse Anhänger und Träger der Reformation. Calvinismus und Puritanismus sind am stärksten unter den „kleinen Meistern“ der städtischen und ländlichen Manufakturregionen in verschiedenen europäischen Ländern vertreten. Der wesentliche Unterschied: Renaissance-Kultur und Humanismus werden von einer kleinen Bildungselite getragen, ihr sozialer Ort sind die Stadtpaläste der Patrizier, Fürstenhöfe und Staatskanzleien, einige Universitäten, wo die lateinisch schreibenden und redenden Humanisten ein Publikum finden. Der Protestantismus ist dagegen eine Massenbewegung, eine Bewegung, die nicht nur die „kleinen Meister“ der frühen Manufakturen, sondern auch die städtischen Handwerker und die Bauern, das „Volk“ also erfasst. Adlige und städtische Patrizier, Angehörige der Bildungseliten gehören auch dazu. Gerade das macht die Stärke der protestantischen Bewegung aus.

Zum Weltbild der Renaissance-Herren (zum Teil auch ihrer Frauen) gehört der Individualismus. Die Entdeckung des einzelnen Menschen als handelndes Subjekt, das die soziale und natürliche Welt zu beeinflussen und zu gestalten vermag, begründet die spezifische Weltsicht der Renaissance. Das Bewusstsein des Renaissancemenschen, schreibt Kofler später, ist das „der uneingeschränkten Herrschaft der individuellen Ratio und Freiheit“, die nur von „Naturgewalten“ beschränkt werden (1955, 91). Zur Natur werden auch die sozialen Katastrophen und Krisen gezählt: Kriege, Bürgerkriege, Seuchen, Hungersnöte. Der „Markt“ gehört nicht dazu. Er gilt selbstverständlich als Teil der gesellschaftlichen und politischen Ordnung, als ein sozialer Ort, wo vernunftbegabte Individuen handeln, keineswegs als „Mechanismus“, der von anonymen „Marktkräften“ angetrieben wird. Das Bild, das sich die Calvinisten und Puritaner von der sozialen Welt machen, ist ganz anders. Deterministisch nämlich. In der Prädestinationslehre bleibt von der „Freiheit des Christenmenschen“ nicht viel übrig. Allerdings bewahrt der Protestantismus ein stark individualistisches Element: Das Recht auf ein eigenes Gewissen und auf die eigene Entscheidung, der Gemeinde der „guten Christen“ beizutreten oder nicht. Ein „guter Christ“ aber hat sich der neuen protestantischen Sozialmoral und Disziplin zu unterwerfen, d.h. rastlos zu arbeiten, ein ordentliches, wohl geordnetes Leben zu führen, Müßiggang wie Extravaganzen zu meiden, Verträge pünktlich und zuverlässig zu erfüllen usw. Jeder „ehrliche“ Arbeiter in jedem „ehrbaren“ Gewerbe ist den anderen gleichgestellt „vor Gott“. Dazu kommt ein Element, in dem die Utopie der bürgerlichen Gesellschaft am deutlichsten aufscheint: Die Gemeinde der guten Christen regiert sich selbst. In der Gemeinde herrscht Selbstorganisation und Selbstverwaltung, in Ansätzen sogar eine Art von demokratischer Öffentlichkeit mit Rede- und Mitbestimmungsrecht für alle Gemeindemitglieder. Die neue (presbyterianische, synodale) Kirchenordnung des Protestantismus stellt einen entscheidenden Schritt Richtung „bürgerlicher“ Gesellschaft dar. Reichtum zählt nicht in der Gemeinde, reich zu werden ist kein erklärtes Ziel der neuen Arbeitsdisziplin und Sozialmoral, fleißige Arme können durchaus „ehrbar“ und „gute Christen“ sein. Der mehr oder weniger radikale Protestantismus ist eher bürgerlich als kapitalistisch gesinnt und mit zahlreichen Elementen der vorkapitalistischen Wirtschaftsethik vereinbar. Allerdings nimmt er den frühen Kapitalisten das schlechte Gewissen: Christentum und Geschäft sind nicht unvereinbar, ein guter Christ kann ohne Sorge um sein Seelenheil seinen Geschäften nachgehen, vorausgesetzt er genügt den Ansprüchen der neuen Sozialmoral (vgl. Walzer 1965, 211ff.). Geldverdienen, solange es auf ehrbare Weise, mit rastloser Arbeit geschieht, ist kein Makel.

Wie geht Kofler damit um? Er hat aus dem langen Streit um Max Webers Thesen zum historischen Zusammenhang von protestantischer Ethik und „Geist des Kapitalismus“ gelernt, dass es nicht angeht, den „Geist des Kapitalismus“ sei es mit der Renaissance, sei es mit dem Calvinismus oder Puritanismus, sei es mit der Aufklärung oder dem Liberalismus zu identifizieren. Er sieht und betont die Entwicklungslinien, aber auch die historischen Brüche, die etwa die irreligiöse bzw. religiös indifferente Hoch- und Elitenkultur der Renaissance von der neuen Religiösität der Reformation scheidet, so wie diese wieder von der erneut religiös indifferenten Rationalität der Aufklärung geschieden ist. Bürgerliche Religiösität und bürgerliche Rationalität entwickeln sich neben- und miteinander. Also heißt es, sich auf historische Unterscheidungen einzulassen, ohne das Ganze und die historische „lange Sicht“ aufzugeben.

Um zu erklären, was sich da wie verändert, greift er auf ökonomische Kategorien zurück – den Betrieb bzw. die Manufaktur und den Markt. Beide haben ihre Geschichte, beide versucht Kofler auch in ihrer jeweiligen historischen Eigenart wie in ihrer Entwicklung zu fassen. Mit der Manufaktur gelingt ihm das nicht, denn die Unterschiede zwischen der Epoche der „entstehenden“ oder „beginnenden“, der sich „entwickelnden“ bzw. der „relativ vollendeten“ und schließlich der „vollendeten“ Manufaktur (so Kofler 1966, 314, 371ff.) sind alles andere als eindeutig und genau. Mit dem Markt, dessen geringere oder größere Stabilität und (Un)übersichtlichkeit er an die Fortentwicklung der Manufaktur koppeln will, gelingt ihm das noch weniger. Das ist misslich, weil dies genau die Grundlage ist, auf der Kofler die eigentümlich widersprüchliche Struktur des bürgerlichen Bewusstseins, insbesondere des bürgerlichen Gesellschaftsbildes und dessen historische Entwicklung erklären will. Als ideologisches Bewusstsein vereint es die widersprüchlichsten Elemente – Rationalität und Irrationalität, individuelle Handlungsfreiheit und Naturgesetzlichkeit des gesellschaftlichen Geschehens, soziale Gleichheit und natürliche Ungleichheit. Die Träger dieser Ideologie leben und denken in und mit diesen Widersprüchen.

Georg Lukács hat Kofler das Stichwort gegeben, leider das falsche. Es heißt „Verdinglichung“ und Kofler will diesen, der Marxschen Analyse der Waren- und Geldform entlehnten Teil- und Metabegriff nutzen, um das Neben- und Miteinander der widerstreitenden Elemente der bürgerlichen Ideologie in ihrer historischen Entwicklung zu verstehen. Das gelingt ihm nicht und für dies Misslingen gibt es Gründe. Erstens taugt dazu der Metabegriff nicht, der seit Lukács‘ Geschichte und Klassenbewußtsein (1923) die marxistischen Philosophen entzückt. Er erfasst nur einen Teilaspekt dessen, was mit Waren- und Geldform als „Gedankenform“ von Marx gemeint war. Ware und Geld – auch „als solche“ und ganz „im allgemeinen“ – sind mehr als Dinge, nämlich auch Symbole, bloße Formen; sie sind es so sehr, dass sie sich in einer vollentwickelten Waren- und Geldökonomie, wie es der moderne Kapitalismus ist, vollständig von jeder dinglichen, materiellen Grundlage lösen können. „Fetischismus“ – nicht das gleiche wie „Verdinglichung“ – wäre da schon ein besserer Kandidat. Zweitens wirft Kofler unter dem Titel „Verdinglichung“ alles mögliche zusammen, was nicht recht passen will. Die „Verdinglichung“ geht voran – in dem Maße wie sich die Warenproduktion ausbreitet und der Manufakturkapitalismus sich entwickelt. Die Manufaktur „revolutioniert vollständig das ökonomische Bewusstsein, indem sie es verdinglicht“ (Kofler 1966, 311). Gemeint ist damit die zunehmende Rationalität im manufakturellen Großbetrieb, gemeint ist auch die zunehmende Undurchschaubarkeit, die mehr oder minder neue Unübersichtlichkeit des Marktes, die mit dem Vordringen manufakturell erzeugter Massengüter einher gehen soll. Logisch und historisch stimmig ist das nicht. Denn beides, die Manufaktur in ihren diversen Formen wie der Markt in seinen diversen Gestalten, sind und bleiben politisch reguliert und begrenzt. Der freie Marktverkehr wie die freie Konkurrenz, das „Privatunternehmen“ ebenso wie der „freie Arbeitsvertrag“ sind und bleiben eminent politische Konzepte und Forderungen des aufsteigenden Bürgertums, das sehr viel weniger „verdinglicht“ denkt, als marxistische Philosophen meinen. Drittens operiert Kofler mit einer Vorstellung von ideologischer Entwicklung, die der von ihm immer wieder betonten „Kompliziertheit“ der Verhältnisse nicht gerecht wird. Erst in den „entwickelteren Stadien des Kapitalismus“ gebe es eine vollständige „Zerreißung“ zwischen Individualismus, individueller Freiheit und Rationalität, und einer als „äußere“ Natur und Sachzwang, als Gehäuse der Unfreiheit gedachten Gesellschaft (vgl. Kofler 1966, 311, 395 u.ä.). Das ist, so muss man Koflers Andeutungen verstehen, erst der Fall, sobald der traditionelle nichtkapitalistische, d.h. handwerkliche und bäuerliche Sektor, den er als Hort der Irrationalität betrachtet, marginalisiert worden ist und die ganze Gesellschaft der Bewegung des industriellen Kapitals, d.h. des industriellen Krisenzyklus, gehorcht (vgl. Kofler 1966, 375f.). Also nach 1825, gute fünfzig Jahre nach dem Beginn der ersten „industriellen Revolution“. Eine politische Ökonomie, die ökonomische Gesetze, Marktgesetze ebenso wie betriebliche Rationalitätsregeln aufstellte, gab es da allerdings schon seit mehr als zwei Jahrhunderten.

Ein paradoxer Sachverhalt: Die Schlüsselkategorien zum Verständnis der neuen Denkweise, Ware, Geld, Verdinglichung usw. holt Kofler aus der Kritik der Politischen Ökonomie. Aber das dort Kritisierte, die politische Ökonomie nämlich, obwohl durchdrungen von gerade den illusorischen, verdrehten, verdinglichten und fetischistischen Denkformen, die er zur Charakterisierung der neuen bürgerlichen Denkweise braucht, nimmt er als entwickelte Gestalt der Ideologie der bürgerlichen Gesellschaft kaum wahr. Die politische Ökonomie, nicht die Philosophie, ist die eigentliche, systematisch durchgearbeitete Sozialwissenschaft des Bürgertums, die bereits die „Selbstkritik“ der bürgerlichen Gesellschaft enthält, an die die Kritik der Politischen Ökonomie anknüpft. Wenn die Sozialphilosophen des Bürgertums (wie Hobbes, wie Locke, wie Montesquieu, wie Adam Smith) sich ihre neue Welt erklären wollen, dann treiben sie politische Ökonomie. Will man diese Sozialphilosophie verstehen, kommt man an der Ökonomie nicht vorbei, Anti-Ökonomismus hin, Anti-Ökonomismus her.

4. Wes Geistes Kind ist eigentlich der moderne Kapitalismus?

Marx hat nicht die Geschichte des modernen Kapitalismus geschrieben, sondern seine ökonomische Grundstruktur untersucht, und dabei den Geist des Kapitalismus nicht vergessen. Er schildert die Denkformen, die gewöhnlichen Vorstellungen des bürgerlichen Alltagslebens, beschränkt sich keineswegs nur auf die Kategorien der Politischen Ökonomie, sondern behandelt „Volksvorurteile“, „gesellschaftlich gültige“ Gedanken- und Denkformen der bürgerlichen Gesellschaft. Nicht umfassend natürlich, aber eben doch so, dass das „ökonomische Weltbild“ der Protagonisten der bürgerlichen Gesellschaft in seinen Grundzügen zutage tritt. Es ist eine „verkehrte Welt“, eine Welt, in der „Madame la Terre“ und „Monsieur le Capital“ das Szepter schwingen, eine auf den Kopf gestellte Welt, in der „das Geld“ bzw. „der Markt“ über alles und jeden herrscht. Im Alltagsgewand kommen uns diese Denkweisen selbstverständlich vor – wer wüsste nicht, dass „die Preise steigen“, dass uns „die Technik“ bzw. „der Weltmarkt“ oder „die Konkurrenz“ beherrscht, wer würde nicht der Weisheit „Geld regiert die Welt“ zustimmen, wer wäre nicht von der Macht, sogar der „Allmacht“ des sogenannten „großen Geldes“ überzeugt? Gleichzeitig glauben die Protagonisten dieser verkehrten Welt, frei zu sein. Sie halten sich sogar für „freie Individuen“, die ihr Schicksal selbst bestimmen können. Diese „Freiheitsillusion“ gibt es keineswegs nur in den USA, sondern überall. Bei den zeitgenössischen Ideologen der Marktwirtschaft wird der Zusammenhang von „Kapitalismus“ und „Freiheit“ ganz unverblümt ausgesprochen. In der aktuellen Gestalt des „Neoliberalismus“ ist die Politische Ökonomie wieder zu ihren Anfängen zurückgekehrt und hat sich in Moralphilosophie zurück verwandelt. Eine Moralphilosophie, die auf dem Mythos des Marktes beruht und vorbehaltlos die Tugenden des Marktes predigt. Das sind aber wie eh und je Tugenden der „Disziplin“, der Beherrschung und Selbstbeherrschung, der Ordnung und Unterordnung, die im gleichen Atemzug angemahnt werden.

Kofler beschreibt und analysiert den „Geist des Bürgertums“ als den Geist des Humanismus. Er beginnt mit dem utopischen Bild einer Gesellschaft der Freien, Gleichen und Tugendhaften, dem Idealbild einer bürgerlichen Gesellschaft. Dieses Bild allerdings verträgt sich schlecht mit dem „Geist“ des Kapitalismus. Hochmoralisch und utopisch kommt das bürgerliche Denken daher. Sein Ideal, die bürgerliche Gesellschaft, verträgt sich mit dem Kapitalismus nur bedingt. Dieser Ansatz ist bemerkenswert. Vergleichbare Studien wie die von Borkenau (1934) behandeln nicht den Humanismus, sondern die „Mechanisierung“ des Weltbildes, die sich mit der Utopie der bürgerlichen Gesellschaft schlecht verträgt. Wer bei der Utopie beginnt, stößt unweigerlich darauf: Der Geist des Bürgertums ist durchaus kapitalismuskritisch. Allerdings nicht durchgehend, nicht unter allen Umständen, aber dafür immer wieder. Erasmus wütet im Lob der Torheit (1511) gegen die Kaufleute als die „ehrlosen Reichen“; die guten Bürger Genfs waren durchaus dafür, die Spekulation, den „unehrlichen Handel“, den Zins- und Preiswucher zu unterbinden; die calvinistischen Synoden in Frankreich und in den Niederlanden befassten sich während der Religionskriege immer wieder mit ökonomischer Moral. Die puritanischen Regenten der Neu-England Staaten waren alles andere als Freunde einer enthemmten Marktökonomie: sie versuchten sogar, eine „reasonable“ Profitrate für alle Arten von Geschäften festzulegen und „Profiteure“ dementsprechend zu ächten, sogar zu strafen. Die Angriffe auf die Händler und Bankiers, ebenso wie die auf die „Projektemacher“, die kapitalistischen Unternehmer sind Legion. Nichts schlimmer als diese Brut, die ihren privaten Profit auf Kosten des Gemeinwesens und -wohls machten, so heißt es wieder und wieder in der Pamphletistik des 15. bis 18.Jahrhunderts. Der Wucher, im breiten Sinne einer rücksichtslosen Ausnutzung von Marktchancen, wird nahezu einhellig kritisiert, bis weit ins 19.Jahrhundert hinein (vgl. Tawney 1950, 105-130; Walzer 1965, 204ff.). Adam Smith betrachtet die Geschäftsleute, die Kapitalisten zumal, als eine Brut von Verschwörern, die gegen das Gemeinwohl agieren. Im 18. und 19.Jahrhundert, im Gefolge größerer und kleinerer Finanzkrisen, wird die Börsenspekulation, das Treiben der „Finanzmärkte“ immer wieder heftig kritisiert. Die Großkapitalisten oder „Monopole“ sind ebenfalls ein beliebtes Kritikobjekt, wie auch das „unproduktive“, „raffende statt schaffende“ Geld- und Finanzkapital. Heute könnte man George Soros oder Madame Viviane Forrester als Vertreter der gut-bürgerlichen Kapitalismus-Kritik nennen. Sie sind – ganz im Sinne Koflers – Humanisten, die sich Sorgen über die Zukunft der guten bürgerlichen Gesellschaft unter der Herrschaft des Kapitals machen. Grund dazu haben sie.

Die Utopie der bürgerlichen Gesellschaft und die kapitalistische Wirklichkeit passen nicht zusammen. Sie stoßen sich allerdings nicht so unvermittelt, wie Kofler meint (1966, 611) und mit ihm die marxistischen Philosophen bis zum heutigen Tag. Gerade die politische Ökonomie schafft vielerlei gedankliche Eselsbrücken und Mittelglieder, ohne die keine bürgerliche Ideologie, heutzutage nicht einmal mehr die Schulphilosophie, auskommen kann. Kofler, darin eben doch Philosoph, kannte die politischen Ökonomen schlecht und hat sie gemieden. Das ist seine größte Schwäche, keine Dummheit, sondern ein Fehler, den die „Marxisten“ unter der Flagge des Anti-Ökonomismus bis heute machen. Koflers Abneigung gegen die reinen Stoffhuber, die auf die Quellen und nichts als die Quellen schwören, ist verständlich. Wohl begründet ist sie nicht und seiner Geschichte hat sie eher geschadet als genutzt. Denn gerade der Blick auf das „Ganze“, den „Gesamtzusammenhang“, sollte uns lehren, welche „Fakten“ wichtig und welche „Quellen“ bedeutsam sein können. Obwohl er seinem Ansatz gemäß eigentlich sehr genau wissen müsste, wonach er suchen muss, begnügt sich Kofler fast ausschließlich mit dem, was er ohnehin schon kennt, mit den Philosophen nämlich. Die Schriften der politischen Ökonomen aber, in denen der neue kapitalistische Geist, der Geist des aufsteigenden Bürgertums, seine deutlichsten literarischen Spuren hinterlassen hat, nimmt er nicht zur Kenntnis. In der Pamphletistik und Utopistik, in der Hausväterliteratur, in den Kunstlehren für Händler und Bankiers, in den Wörterbüchern ebenso wie in den theoretischen Abhandlungen zur neuen Ökonomie des 16., 17. und 18.Jahrhunderts hätte er sie im Übermaß gefunden. Marx hätte ihm als zuverlässiger Wegweiser dienen können.

Stattdessen verlegt sich Kofler auf die politische Theorie. Er betont zu Recht die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Ideologie in ihren verschiedenen historischen Formen. Gerade der Calvinismus, die religiöse Form des Selbstbewusstseins des revolutionären Manufakturbürgertums in seiner Sicht, wird als höchst inkonsistentes, „widerspruchsvolles“ Gebilde dargestellt (vgl. Kofler 1966, 305, 318, 326 u.ä.), ähnlich wie der wieder erwachte Rationalismus der Aufklärung und der spätere Liberalismus. Auf dieser Widersprüchlichkeit, auf dem überschießenden, utopischen Gehalt der bürgerlichen Ideologien beruht gerade ihre Anziehungskraft für andere, Adlige, Kleriker, aber vor allem Handwerker und Bauern, die das Fußvolk, die unerlässliche „Masse“ in allen bürgerlichen Revolutionen stellen. Am leichtesten lässt sich diese Widersprüchlichkeit fassen, indem man sie auf die Lage der aufstrebenden Manufakturbourgeoisie zwischen den etablierten Mächten der alten Gesellschaft und den nachdrängenden Volksbewegungen der Unterklassen bezieht (vgl. Kofler 1966, 326). Kofler geht entschieden so weit – zu weit – zu behaupten, der Jahrhunderte währende Kampf zwischen Adel und Bürgertum sei in der Hauptsache nicht um die unterschiedliche „ökonomische Stellung“ der Beteiligten gegangen, sondern „um den Staat und dessen Beherrschung“ (1966, 404). Was ganz und gar nicht stimmt. Schon deshalb nicht, weil es den „modernen Staat“ noch keineswegs fix und fertig gibt, er wird erst gemacht und institutionalisiert – ebenso wie der moderne Kapitalismus, der genauso wenig schon einfach da ist. Um den Kapitalismus und dessen Basisinstitutionen (Ware, Geld, Märkte, insbesondere die Märkte für fiktive Waren wie Boden, Arbeitskraft, Geld, Information usw.) werden ebenso viele und nicht weniger heftige politische Kämpfe geführt wie um den „Staat“. Auch deshalb nicht, weil die wesentlichen Funktionen des frühmodernen Staats (Krieg, Polizei, Besteuerung, Infrastruktur usw.) in vielen Ländern Europas bis weit ins 18.Jahrhundert hinein in Händen von Privatunternehmern liegen und eine wesentliche Sphäre des vorindustriellen Kapitalismus und der „ursprünglichen Akkumulation“ bilden. Jeder politische Kampf ist daher ein Kampf um Geschäfte, um Investitionen, um Eigentum und Erwerbs- bzw. Gewinnchancen. Nicht zuletzt deshalb nicht, weil „ökonomische Stellung“, Besitz (teilweise auch Religion und moralische Reputation) und politischer Einfluss bzw. Beteiligung an politischen Entscheidungen direkt aneinander gekoppelt sind, und zwar bis weit ins 19.Jahrhundert hinein. Kofler weiß das und stellt den Sachverhalt (z.B. die Beschränkungen der bürgerlichen Demokratie, die die Besitzlosen ganz selbstverständlich ausschließt) richtig dar. Der Preis für den leichteren, „klassenkämpferischen“ Zugang zur Ideologiegeschichte ist hoch: Man verliert die innere Widersprüchlichkeit des bürgerlichen Weltbildes, mithin die Grundlage der Selbstkritik des Bürgertums, schnell aus dem Blick. Außerdem liegt der Einwand nahe: Was aber, wenn das Bürgertum sozial wie politisch unangefochten herrscht, was wenn die kapitalistische Produktionsweise sich auf der ganzen Linie und weltweit durchgesetzt hat? Was bleibt dann von der inneren Widersprüchlichkeit bürgerlicher Ideologie? Was bleibt vom Konflikt zwischen humanistischem Ideal des Bürgertums und kapitalistischer Wirklichkeit, wenn es einmal gelungen ist, auch den unteren Klassen „kapitalistischen Geist“, bürgerliche Alltagsmoral, bürgerlichen Habitus beizubringen?

Koflers Darstellung endet mit dem krönenden Abschluss des „heroischen Zeitalters“ der bürgerlichen Gesellschaft. Was danach kommt, wie sich das Bürgertum als sozial und politisch herrschende Klasse breit macht und in seiner neuen Herrschaftsposition einrichtet, wie der industrielle Kapitalismus sich einen neuen Weltmarkt schafft, das behandelt er nur in Ansätzen. Was wird aus dem bürgerlichen Humanismus nach dem Sieg des Bürgertums und des Kapitalismus? Das ist das große Thema, das ihn bis zu seinem Lebensende beschäftigt. Alle seine späteren Arbeiten, seine zahlreichen Studien zur Ideologie wie zu den Ideologen des reifen bzw. späten Kapitalismus sind gleichsam Fortsetzungen, notwendige Nachträge zur Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft. Nach und mit dem Sieg des Bürgertums beginnt, kurz gesagt, eine Verfallsgeschichte. Der bürgerliche Humanismus muss entschärft, die Utopie der bürgerlichen Gesellschaft muss ihres utopischen Gehalts beraubt, der real existierende Kapitalismus zur besten aller möglichen Welten verklärt werden. Liberalismus heißt das, was übrig bleibt, wenn der bürgerliche Humanismus den Geist der Utopie verloren hat. Das Erbe des einstmals revolutionären bürgerlichen Humanismus liegt bei der sozialistischen Arbeiterbewegung wie bei den neuen sozialen Bewegungen (vgl. Kofler 1968). Aber ist es da in guten Händen? Das ist die Sorge, die Kofler in seinem letzten Lebensjahrzehnt umtreibt.

Es spricht für die Klarheit des Theoretikers Leo Kofler, dass er genau dort, wo er ans vorläufige Ende der Geschichte vom Aufstieg des Bürgertums kommt, wieder auf seine „esoterische“ Erklärung der inneren Widersprüchlichkeit bürgerlichen Denkens zurück greift, auf die „Verdinglichung“ nämlich (vgl. Kofler 1966, 606ff.). Damit will er das „Wunder“ erklären, dass nicht nur die Bourgeois selbst die ihnen eigentlich undurchsichtige und unbegreifliche Welt des Kapitalismus für eine gute, harmonische und gerechte Ordnung halten können, sondern auch die Masse derer, die unter den Verhältnissen der kapitalistischen Ökonomie tagtäglich zu leiden haben, diesem Weltbild Glauben schenken können. Leider schließt der Philosophenschlüssel nicht, denn er ist nur an einer Seite geschliffen. Marx‘ Kritik dagegen galt von Anfang an dem groben „Materialismus“ der bürgerlichen Vordenker der politischen Ökonomie ebenso wie ihrem „Fetischismus“ oder „Idealismus“, der die notwendigen, aber illusorischen Fiktionen der kapitalistischen Waren- und Geldökonomie für bare Münze nimmt. Die marxistischen Philosophen können in der Regel mit diesen höchst unanschaulichen, übersinnlichen und ganz und gar nicht dinglichen „Fetischen“ (der berühmte „shareholder value“ ist ein aktuelles Beispiel dafür) nichts anfangen. Zugegeben, Marx‘ Schlüssel ist komplizierter, feiner geschliffen, daher schwieriger zu handhaben als der Generalschlüssel der Verdinglichung. Dafür leistet er auch mehr.

5. Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft – wozu?

Die Geschichte der bürgerlichen Gesellschaft scheint uns ganz fern zu liegen. Dabei könnte heute, in der Gegenwart des „globalen“ oder sich globalisierenden Kapitalismus, die Erinnerung an den äußerst langsamen, immer wieder sehr aufhaltsamen Aufstieg des Bürgertums durchaus von einigem pädagogischem Nutzen sein. Historisch betrachtet ist die heutige bürgerliche Gesellschaft eine realisierte Utopie, eine Gesellschaft, in der der Adel nur noch schmückendes Beiwerk, Stoff für die Regenbogenpresse ist, aber sozial und politisch keine Rolle mehr spielt. Unvorstellbar für die Zeitgenossen des 16. und 17.Jahrhunderts. Ebenso unvorstellbar die Wertschätzung, die der „Unternehmer“, der „Kapitalist“, selbst der „Börsenspekulant“ in heutigen bürgerlichen Gesellschaften fraglos genießt. Den Kapitalismus in seiner Geschichte zu denken, könnte uns auch dabei helfen, das Phänomen der europäischen Sozialdemokratie im 20.Jahrhundert, den Aufstieg der Arbeiterklasse zu einer nicht herrschenden, aber voll in die bürgerliche Gesellschaft integrierten, zeitweilig auch (mit)regierenden Klasse zu verstehen.

Damit noch nicht genug. Historische Rückbesinnung kann in der Auseinandersetzung mit heutigen Ideologemen und Ideologen sehr nützlich sein. So gut wie alles, was die Theoretiker der „Postmoderne“ heute behaupten, beruht auf Annahmen über die früheren Brüche zwischen Prämoderne und Moderne, die einfach alle nicht stimmen. Ergo: ein wohl informierter Rückblick auf die Geschichte und Frühgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft immunisiert das eigene Denkorgan gegen postmodernes Gerede. Die meisten der Märchen und Legenden, die heute die Sozialwissenschaften dominieren und dort als letzter Stand gelten, ob Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ oder Hardins „Tragödie der Gemeingüter“, sind historisch falsch und leicht zu widerlegen. Nonchalance gegenüber der stärksten ideologischen Macht der Gegenwart, dem Weltbild, das die herrschende Lehre der Ökonomie verbreitet, können sich heute selbst marxistische Philosophen nicht mehr leisten. Die neoklassische Ökonomie, die ihre eigenen Probleme nicht mehr lösen kann, ist schon längst in politische Theorie umgeschlagen. Marktideologien beherrschen nicht nur den Alltag, sondern sind auf dem besten Wege, die Provinzen der Sozialwissenschaft und der Philosophie, oder das, was davon noch übrig ist, zu erobern. Wo immer im Geiste des Humanismus dagegen gehalten wird, rufen die liberalen Ideologen: Wir sind schon da. Ethik, Geschichte, Politik, Kultur – es gibt nichts, was wir nicht mit der einen Universallogik der Marktrationalität erklären und deuten könnten. Wer da in den Anti-Ökonomismus flüchtet, hat schon verloren.

Trotz ihres Alters lässt sich daher aus der Koflerschen Geschichte bis heute einiges lernen: Skepsis vor allem gegenüber den allgegenwärtigen, flotten Pseudoerklärungen, die der „Marxismus“ für heutige ideologische Phänomene, etwa den „Neoliberalismus“ parat hat. Wie Kofler zeigt, beruht die Anziehungskraft historischer Ideologien des Bürgertums auf ihrer inneren Widersprüchlichkeit. Nur als „widerspruchsvolle Gebilde“ können Ideologien zeitweilig zu „herrschenden Ideologien“ aufsteigen. Sie werden dadurch zugleich angreifbar. Heute gilt es, auf der inneren Widersprüchlichkeit neoliberaler Weltbilder zu bestehen: extrem individualistisches Freiheitspathos und allgewaltiger Sachzwang Weltmarkt – das geht eben nur ideologisch, nicht logisch zusammen. Die Logik geschichtlicher Phänomene versteht aber nur, wer ihre Geschichte kennt.

Literatur:

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Erschienen in Christoph Jünke (Hrsg.): Am Beispiel Leo Koflers. Marxismus im 20.Jahrhundert, Münster: Verlag Westfälisches Dampfboot 2001, S.46-75.