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» Die Gesellschaftsauffassung des Historischen Materialismus [1956]

Die Gesellschaftsauffassung des Historischen Materialismus [1956]

Der soziologische Charakter des vorliegenden Problems ist erst von Marx und Engels erkannt worden. Zwar hat schon die Gesellschaftsphilosophie des 18.Jahrhunderts Ansätze gezeigt, besonders Helvetius, der bereits über die damals vertretene These der Abhängigkeit der Gesellschaft von außermenschlichen Faktoren, wie Klima und Geographie, hinausging und den innergesellschaftlichen Faktor „soziales Milieu“ als bestimmend annahm. Andere Denker haben schon vor Marx dem „ökonomischen Faktor“ Bedeutung zugemessen (z.B. Schlözer und Kant); ebenso haben französische Historiker die Bedeutung der Klasse vor Marx unterstrichen (Mignet, Thiers, Thierry, Guizot). Aber erst Marx und Engels haben die geschlossene innere Bezüglichkeit des gesellschaftlichen Prozesses, der sich ihrer Meinung nach primär aus der zwischenindividuellen Bezüglichkeit im ArbeitsProzess ableitet, erkannt, d.h. die Frage der Totalität des gesellschaftlichen Prozesses zum Problem erhoben und zu lösen versucht.

Hierbei hat ihnen Hegel mit seiner philosophischen Methodik der Durchleuchtung jener allseitigen Zusammenhänge, die sich als Totalitäten begreifen lassen, entscheidende Dienste geleistet. Für die Gesellschafts- und Geschichtsauffassung hat sich als besonders fruchtbar die Hegelsche Subjekt-Objekt-Theorie erwiesen. Zusammengefasst lässt sie sich folgendermaßen charakterisieren: In seinem Tun „produziert“ das menschliche Individuum (das Subjekt) Handlungen und Gegenstände, die sich in ihrer Gesamtheit zu einem geordneten System verdichten (Objekt), das seinerseits dem Menschen als etwas Selbständiges (wiederum als Subjekt) gegenübertritt. Das vom Menschen „erzeugte“ Objektive seiner „Umwelt“ wird also seinerseits zum Subjektiven, indem es einen bestimmenden Einfluss auf den Menschen (sein Wollen und Tun) ausübt und ihn zum Objekt degradiert. Doch erreicht der Mensch kraft seiner Fähigkeit zu denken und mit Bewusstsein zu handeln (also Subjekt zu sein), immer höhere Formen der Freiheit und bleibt so das wahre Subjekt der Geschichte. Geschichte erscheint hier als Selbstverwirklichung des Menschen auf dem Wege der Verwirklichung immer höherer Stufen der Freiheit. Damit hat Hegel den historischen Fortschrittsbegriff begründet, den Marx übernommen hat.

Marx bemerkt einmal, dass es seiner Geschichtsauffassung wesentlich um die „Selbstkritik der bürgerlichen Gesellschaft“ geht.(1)

Die bürgerliche Gesellschaft zeichnet sich nach Marx vor allen übrigen vorangegangenen Gesellschaftsformationen durch ihr formales Prinzip der individuellen Freiheit aus, das seinerseits eine unvermeidliche Begleiterscheinung der kapitalistischen Warenstruktur ist. In der Warengesellschaft erscheint jedes Individuum gesellschaftlich als Besitzer irgendwelcher, von den einfachsten Arbeitsprodukten über geistige Erzeugnisse, die es „anbietet“, bis zur bloßen Arbeitskraft reichender Waren und in dieser Gestalt als autonomer, d.h. „gleicher und freier“ Vertragspartner. Diese formelle Gleichheit und Freiheit, die im bürgerlichen Recht ihren prägnantesten Ausdruck findet, wird zur Grundlage der Entfaltung des gesamten gesellschaftlichen Prozesses, allerdings nicht im luftleeren Raume, sondern unter der Bedingung der kapitalistischen Eigentums- und Klassenverhältnisse. Individuelle Freiheit bedeutet aber die relative, d.h. nur noch durch strukturelle Momente behinderte Loslösung des einfachsten Bausteins des gesellschaftlichen Gefüges, nämlich des Individuums, von jeder äußerlichen Bindung und damit die methodische Ermöglichung der Beobachtung des allem Gesellschaftlichen eigenen Vorgangs des Umschlagens des Subjektiven ins Objektive in seiner ungestörten Reinheit.

Aber dieser Konstituierung eines verhältnismäßig reinen und damit einfachen Prozesses der gesellschaftlichen Subjekt-Objekt-Beziehung auf der Grundlage der individuellen Freiheit steht gleichzeitig, durch einen komplizierten und widerspruchsvollen Vorgang vermittelt, jene höchst differenzierte und nicht ohne weiteres durchschaubare Totalität des gesellschaftlichen Geschehens gegenüber, die sich unter den Begriff der Entfremdung subsumieren lässt. Entfremdung ist hier zu verstehen als das Beisammensein von Komplizierung, Undurchschaubarkeit, Verselbständigung gegenüber dem individuellen Tun, Unbeherrschbarkeit und Feindlichkeit, womit das eigene gesellschaftliche Produkt des Menschen, nämlich der gesellschaftliche Prozess, dem Menschen als etwas Fremdes, als selbsttätige Macht, gegenübertritt. Durch die Dunkelheit der Entfremdung in der bürgerlichen Gesellschaft hat sich das Problem dem forschenden Geiste überhaupt erst ernsthaft gestellt und ist die moderne, das letzte Wesen des Gesellschaftlichen enthüllende, Gesellschaftslehre möglich geworden. Dieses Wesen liegt in dem die Totalität des gesellschaftlichen Seins „erzeugenden“ Zusammenhang von „Basis und Überbau“, von „Praxis“ und „Theorie“, von gesellschaftlichem Sein und gesellschaftlichem Bewusstsein. Der Erfolg dieser Gesellschaftslehre ist aber gleichzeitig nur gesichert, weil die einfachste Voraussetzung des gesellschaftlichen Aufbaus, nämlich das Individuelle innerhalb der allgemeinen Subjekt-Objekt-Beziehung, in der Gestalt der bürgerlichen Freiheit ungestört heraustritt und damit die Durchschaubarkeit des entfremdeten Prozesses seinerseits überhaupt möglich macht. Der dialektische Widerspruch zwischen der konkreten Reduktion des gesellschaftlichen Prozesses auf seine einfachsten Kategorien und der gleichzeitigen Entfaltung seiner verworrensten und spannungsreichsten Problematik wurde zur Geburtsstätte der dialektischen Sozialtheorie. Dass zur tatsächlichen Ermöglichung der Erkenntnis noch subjektive Momente, wie Standort des Betrachters, Interesse an bestimmten Enthüllungen, Unbefangenheit gegenüber der Frage des gesellschaftlichen Fortschritts u.a., hinzukommen müssen, sei nur nebenbei bemerkt.

In allen seinen Gestalten, besonders augenfällig in der modernen bürgerlichen Gesellschaft, ist gesellschaftliches Sein synthetisches, d.h. alle Momente in seinen Prozess hineinziehendes und hier zur „Einheit“ knüpfendes Sein. Die Einheit besteht in der unaufhebbaren Abhängigkeit der Momente voneinander und ihrer gegenseitigen Bestimmtheit durcheinander. Das Wesen des Prozesses besteht darin, dass infolge der steten Veränderung der „Umstände“ und „Bedingungen“ des konkreten gesellschaftlichen Seins sich die Erscheinungen, aus denen sich dieses Sein zusammensetzt, mitverändern, ohne dass die Einheit durch diese Veränderung zerstört würde. Die Gesellschaft in einem bestimmten Augenblick ihrer Entwicklung festgehalten und als etwas statisches gesetzt, kann leicht als totale Einheit begriffen werden; es bedarf dazu nur einer Deskription der Rangordnung der gegenseitigen Abhängigkeit der Momente. Die Schwierigkeit beginnt erst da, wo eingesehen wird, dass Gesellschaft niemals Statik ist. Es gehört vielmehr zum Begriff der Gesellschaft, ununterbrochene Bewegung, Selbsterzeugung in immer neuer Gestalt zu sein. Ist dem aber so, so muss das Prinzip aufgedeckt werden, durch das die Bewegung, der Prozess sich als jene Kraft erweist, die Totalität als „Vermittlung“ des Gegensätzlichen und sich scheinbar Ausschließenden zur Einheit möglich macht. Das heißt: Um den Prozess, durch den das gesellschaftliche Ganze als Ganzes erzeugt werden soll, in seinem Wesen zu entdecken, bedarf es vorerst der Entdeckung jenes Prinzips, das seinerseits den Prozess erzeugt.

Dieses Prinzip erkennt der historische Materialismus in der Tatsache der Arbeit. Die umfassende Bestimmung der Arbeit, ihrer Bewusstseinsbestimmtheit, des Umschlagens ihres Subjektcharakters in Objektcharakter, ihrer sozialen Funktionalität usw., zieht sich durch das gesamte Werk von Marx.

Der Sachverhalt liegt so, dass der Mensch in und durch die Arbeit nicht nur Dinge zur profanen Bedürfnisbefriedigung, sondern auf dem Umwege über diese profane Tätigkeit sich selbst als Mensch erzeugt, dies aber nicht „schlechthin“, sondern als gesellschaftliches Wesen. Mit anderen Worten, die Arbeit ist es, die das erzeugt, was wir „Gesellschaft“ nennen. Marx grenzt sich mit dieser Auffassung deutlich gegen die flach materialistischen Ansichten ab, die die Gesellschaft aus der Familie, also biologistisch erklären – wobei die historische Anknüpfung an die Familie nicht geleugnet zu werden braucht – oder aus den geographisch-klimatischen Bedingungen.

Das erstaunliche Werk der Arbeit, ununterbrochen Gesellschaftlichkeit zu produzieren, beruht auf der Tatsache, dass Arbeit als solche nur sein kann, wenn sie sich eines Mittels bedient, das dem Tier fremd ist, des Bewusstseins. Nur der arbeitende Mensch hat bewusstes Sein, und nur der mit Bewusstsein begabte Mensch arbeitet. Arbeiten heißt also nicht bloß Muskeln und Schweißdrüsen in Tätigkeit setzen zu einem bestimmten Zweck, sondern mit Bewusstsein tätig sein. Der moderne Marxsche Materialismus lehnt die Vorstellung einer „tierischen Arbeit“ strikt ab, weil ihm Arbeit unaufhebbar an Bewusstsein geknüpft ist.

Ist einmal diese Einsicht gewonnen, so wird klar, dass das bewusste Sein des arbeitenden Individuums etwas Grundlegendes für das Verhältnis der Individuen untereinander bedeutet. Die Tiergattung ist wesentlich biologisch bedingt, sie ist daher keine „Gesellschaft“; die Gesellschaft der Menschen ist durch bewusste Tätigkeit geformt. Das biologisch-familienmäßige Sein des Menschen verliert hier seine Priorität und wird zum Objekt des gesellschaftlichen Vorrangs.

Im bewussten Tun der Arbeit gerät der Mensch in ein „Verhältnis“ zum Mitmenschen in einer einem bestimmten Zweck entsprechenden Weise. Zwar ist der Mensch ein zugleich konsumierendes und produzierendes Individuum. Es ist aber nur das Produzieren, die produktive Tätigkeit, die Gesellschaftlichkeit hervorbringt. Jedoch bezieht sich Produktion, entsprechend der Notwendigkeit, dem lebenserhaltenden Konsum zu dienen, auf das Gegenständliche, in das der Mensch, indem er die rohen Materialien der Natur nach seinen Zwecken formt, seine Kräfte, Anlagen und Fähigkeiten „entäußert“. Die „Entäußerung“ macht die Trennung von Produktion und Konsum, d.h. die Aneignung der Produkte seitens der Nichtproduzenten, und damit die Klassengesellschaft möglich.

Das Wesen des gesellschaftlichen Prozesses von der sachlichen Seite betrachtet besteht darin, dass die subjektiven Akte eine ständige Wechselwirkung untereinander aufweisen und daher aus der Vielfalt der subjektiven Bestrebungen etwas entsteht, was vom einzelnen Individuum weder beabsichtigt war noch vorausgesehen werden konnte: das Objektive, das dem Individuum nunmehr in seiner überindividuellen Gewalt gegenübertritt. Dieses Umschlagen der bewussten Tätigkeit in nicht vorausgesehenes Objektives meint Marx vornehmlich, wenn er von der Rolle des „Unbewussten“ in der Geschichte spricht. Das Objektive bildet in seiner Gesamtheit das, was man die „Umstände“ oder „Bedingungen“ des gesellschaftlichen Seins, das in seiner Totalität die institutionellen und ideologischen Erscheinungen mit einschließt, zu bezeichnen pflegt. Dieses ständige Umschlagen des Subjektiven in das Objektive und umgekehrt, das gleichzusetzen ist mit der ständigen Veränderung der „Umstände“ und „Bedingungen“, bildet die grundlegende Bestimmung der Geschichte, denn dadurch wird Geschichte, d.h. das ständige Hinüberwechseln von einem Zustand des gesellschaftlichen Seins in einen anderen, was auch innerhalb einer „Gesellschaftsordnung“ der Fall ist, überhaupt erst möglich. Wie in der Arbeit lässt sich auch hinsichtlich der geschilderten Herausbildung des Objektiven im gesellschaftlichen Prozess von „Entäußerung“ sprechen: hier in diesem erweiterten Sinn heißt „Entäußerung“ soviel wie die Tatsache, dass die Tätigkeit des Menschen sich in das Produkt der überindividuellen gesellschaftlichen Verhältnisse, in das Objektive, „entäußert“.

Die „Entäußerung“ wird im Verlaufe der Geschichte zur „Entfremdung“, wenn die subjektiven Zwecke mit den objektiven Gegebenheiten in Widerspruch geraten. Unter solchen Verhältnissen verfehlt dann der Mensch auch den letzten Zweck aller seiner Tätigkeit, nämlich den der „Selbstverwirklichung“; in Leben und Kultur gerät er in Widerspruch zu den gegebenen Möglichkeiten eines sinnvollen, d.h. seiner „Selbstverwirklichung“ dienenden Gebrauchs seiner Kräfte, Anlagen und Fähigkeiten, wobei gleichzeitig dieser Zustand des Verlustes der Fähigkeit der Selbstverwirklichung in allen seinen vielfältigen geschichtlichen Formen wiederum zu einem unvermeidlichen Durchgangspunkt werden kann auf dem widerspruchsvollen Wege der menschlichen Gattung und damit des Individuums zu Selbstverwirklichung und Freiheit.

Sofern aber Arbeit zunächst im Dienste der Bedürfnisbefriedigung steht, fällt ihr die Aufgabe zu, sich mit der Natur auseinanderzusetzen. Aber kraft der Bewusstseinsbegabtheit der Arbeitenden heißt Arbeit nicht, aus der unendlichen Vielfalt der Naturgegenstände, Naturkräfte und beider äußerst differenzierten Eigenschaften nach Zufall und Willkür wählen und verändern, sondern sowohl die Wahl als auch die Art der Behandlung einem gesetzten Zweck zu unterwerfen. Der Arbeitende, sagt Marx im Kapital, benutzt die mechanischen, physikalischen, chemischen Eigenschaften der Dinge, um sie als Machtmittel auf andere Dinge seinem Zweck gemäß wirken zu lassen.(2) Entgegen einer vulgären und mechanistischen Unterstellung verweist Marx darauf, dass selbst der schlechteste Baumeister, zum Unterschied von der besten Biene, seinen Plan vorher im Kopfe fertig haben muss, bevor er ihn in Wirklichkeit durchführt.(3) Und: „Am Ende des Arbeitsprozesses kommt ein Resultat heraus, das beim Beginn desselben schon in der Vorstellung des Arbeiters, also schon ideell vorhanden war. Nicht dass er nur eine Formveränderung des Natürlichen bewirkt; er verwirklicht im Natürlichen zugleich seinen Zweck.“(4) Im ArbeitsProzess bewirkt also die Tätigkeit des Menschen eine durch das Arbeitsmittel von vornherein bezweckte Veränderung des Arbeitsgegenstandes.(5) Es ist damit ausgesagt, dass es im Menschlichen keine einfache Bestimmtheit seitens der Natur wie im Tierischen gibt. Der Mensch tritt vielmehr der Natur als selbständige Macht gegenüber, in seinem Tun sich selbst als dem tätigen Subjekt als Objekt gegenüber.

Diese Gewalt über sich selbst verdankt er wiederum seiner Begabtheit mit Bewusstsein. Aber dieses Bewusstsein gibt ihm auch Gewalt über den Mitmenschen. Mit Hilfe des in der Arbeit zur praktischen Kraft werdenden Bewusstseins unterwirft der Mensch nicht nur die Naturgegenstände und Naturkräfte seinen Zwecken, sondern auch sich selbst und den Mitmenschen, der seinerseits sich ebenso verhält, wodurch zunächst diese Unterworfenheit keine solche der Knechtung, sondern der einfachen gegenseitigen Abhängigkeit, der schlechthin gegebenen sozialen Beziehung ist. Nur dass diese Beziehung nicht abstrakt zustande kommt, nicht im leeren Raum und willkürlich, sondern wiederum den Zwecken entsprechend, die sich die Menschen „in der Produktion ihres Lebens“ und unter bestimmten selbst geschaffenen Bedingungen setzen. Nirgends wird der Kreis des Bewusstseinsmäßigen und damit der menschlichen „Tätigkeit“ Unterworfenen durchbrochen, aber innerhalb dieses Kreises, in welchem nach Engels alles „durch den menschlichen Kopf hindurch“ muss, herrscht als der bestimmende Faktor nicht etwa die abstrakte Idee, sondern „Praxis“.

Es liegt im Begriff der Arbeit beschlossen, „Tätigkeit“, d.h. Bewegung, Veränderung zu sein; deshalb kann die Arbeit als das Gesellschaftlichkeit konstituierende Prinzip verändernd auch auf die gesellschaftlichen Beziehungen einwirken. An diesem Punkte pflegt das Missverständnis aufzutreten, dass wenngleich nicht die Gegenstände und Kräfte der äußeren Natur, so doch die Produkte der Arbeit gesellschaftlich bestimmend werden. Schon Marx verwahrt sich gegen diese Interpretation, indem er bemerkt: „Nicht was gemacht wird, sondern wie … unterscheidet die ökonomischen Epochen.“(6) Aber diese ökonomischen Epochen werden, sobald sie in bestimmter Form existieren, ihrerseits zur primären gesellschaftlichen Bedingung für die Weiterentwicklung der Arbeit, genauer, der in der Arbeit verwendeten Mittel, der „Produktionsmittel“, der Formen der in diesen verwendeten Naturkräfte, der „Produktivkräfte“.

Die Gesamtheit der im geschilderten Prozess des Umschlagens von Subjektivität in Objektivität und umgekehrt sich herausbildenden gesellschaftlichen Verhältnisse heißt in der marxistischen Theorie Produktionsverhältnisse deshalb, weil ihre Verwurzelung sich im Bereiche des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses findet und von hier die Impulse zur gesellschaftlichen Weiterentwicklung erhalten. Inhaltlich oder strukturell erscheinen diese gesellschaftlichen Verhältnisse stets geordnet nach der durch die Entwicklung der Produktivkräfte bestimmten historischen Form der Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel. Die gesamtgesellschaftliche Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel ergibt die primitive urkommunistische und die auf der höchsten Stufe der bisherigen Entwicklung stehende sozialistische Gesellschaft der Zukunft; wo die Verfügungsgewalt über die gesellschaftlichen Produktionsmittel nur einem Teil der Gesellschaft vorbehalten bleibt, haben wir es mit Klassengesellschaften zu tun. Also nicht der verschieden große Besitz an Gebrauchsgütern, den es schon in gewissen Epochen der Urgesellschaft gegeben hat und auch im Sozialismus, allerdings unter Voraussetzung der reichsten Versorgung aller mit allem Lebensnotwendigen, geben wird, scheidet die Gesellschaft in Klassen, sondern die Gewalt einer Klasse über die wichtigen Produktionsmittel unter Ausschluss einer anderen.

Setzt der historische Materialismus die „Klassenverhältnisse“ mit den „Eigentumsverhältnissen“ gleich, so ist dies in diesem eingeschränkten Sinne gemeint. In den Formulierungen von Marx und Engels selbst findet der Begriff der „Produktionsverhältnisse“ allerdings keine ganz eindeutige Bestimmung, was mit der Methode der Dialektik zusammenhängt. Man kann ihnen einen engeren und einen weiteren Begriff entnehmen: Je nach dem gemeinten theoretischen Zusammenhang wird unter den „Produktionsverhältnissen“ ebenso im engeren Sinne verstanden die Gesamtheit der Eigentums- und Klassenverhältnisse zuzüglich der sich sichernden Mittel der staatlichen Organisation und der juristischen Festlegung, wie auch im umfassenden Sinne diese Tatbestände erweitert bis in die vielfältigen ideologischen Formen hinein. Auf bestimmten Reifestufen der gesellschaftlichen Entwicklung geraten nach Marx die inzwischen reichhaltiger gewordenen und weiterentwickelten Produktivkräfte in Widerspruch zu den bestehenden Produktionsverhältnissen, die nunmehr zu Fesseln für die weitere geschichtliche Entwicklung werden. Die Gesellschaft tritt in solchen historischen Augenblicken in ein Stadium der immer offener zutage tretenden Widersprüche, Spannungen, heftigen politischen und ideologischen Auseinandersetzungen und daraus sich ergebenden revolutionären Erschütterungen.

Schon aus dem Bisherigen lässt sich klar einsehen, dass im marxistischen System ausnahmslos alles, was im geschichtlichen Raume den Menschen betrifft, als „Erzeugnis“ des Menschen selbst begriffen wird. „Die Theorie … demonstriert ad hominem, sobald sie radikal wird. Radikal sein ist, die Sache an der Wurzel fassen. Die Wurzel für den Menschen ist aber der Mensch selbst.“(7) Diesen Satz nimmt Marx mit aller Konsequenz ernst. Nirgends verwickelt sich Marx in den Widerspruch, „hinter“ der Sphäre des menschlich-gesellschaftlichen Seins etwas zu suchen, was den Menschen von da her bestimmt. Nach Marx ist der Mensch ein „tätig-leidendes“ Wesen in dem Sinne, dass er einerseits nur solchen Bindungen unterworfen sein kann, die er selbst „macht“, andererseits aber die „bestimmenden“ Erscheinungen niemals gegenständlicher Natur sind, sondern immer nur gesellschaftliche. Aber für Marx stehen die dinglichen Erzeugnisse des Menschen nicht als schlechterdings „solche“ neben den gesellschaftlichen, sondern es gibt der Wahrheit nach nur gesellschaftliche Erzeugnisse des Menschen. Die „Produkte“ sind als Vergegenständlichung menschlicher Kräfte und Verhältnisse zu verstehen und müssen als solche von der Wissenschaft entschleiert werden. Das dingliche Sosein der Produkte, wie es sich dem Alltagsverstande als solches darbietet, ist bloßer Schein; in ihm steckt das sein Wesen ausmachende gesellschaftliche Verhältnis arbeitender Individuen. Marx will damit sagen, dass die Produkte nur gesellschaftliche Bedeutung erlangen als Ausdruck menschlich-gesellschaftlichen Verhaltens und keineswegs für sich, d.h. in ihrer bloßen Gegenständlichkeit, ganz in dem Sinne etwa, wie er einmal bemerkt, dass ein Neger bloß ein Neger ist, d.h. ein bloßes Naturding, und erst unter bestimmten gesellschaftlichen Verhältnissen zum Sklaven wird.(8) Also nicht nur das schlechthin Naturhafte oder Naturgegenständliche schließt Marx aus dem Umkreis jener Faktoren aus, denen er eine bestimmende Wirkung auf das gesellschaftliche Sein zuspricht, sondern auch jene gegenständlichen Erzeugnisse des Menschen selbst, die als Objekte und Mittel zwischenmenschlichen Tuns Bedeutung erhalten.

Dieser einzigartige Radikalismus, die Rolle und die Wesenheit ausnahmslos aller im Bereiche des gesellschaftlichen Geschehens anzutreffenden Faktoren auf reine zwischenindividuelle Sozialität zurückzuführen, entspricht in der ökonomischen Theorie von Marx das wissenschaftliche Unterfangen, solche „dinglichen“ Kategorien, wie Kapital, Ware, Wert, Preis, Geld usw., geradewegs als Potenzen nachzuweisen, die nichts als Ausdruck gesellschaftlichen Verhaltens der Individuen oder Gruppen sind, eines Verhaltens allerdings, das sich um Dinge dreht und das wir aus diesem Grunde „ökonomisch“ nennen. Marx schreibt z.B.: „Aber das Kapital ist kein Ding, sondern ein bestimmtes gesellschaftliches, einer bestimmten Gesellschaftsformation angehöriges Produktionsverhältnis, das sich in einem Ding darstellt und diesem Ding den spezifisch gesellschaftlichen Charakter gibt. Das Kapital ist nicht die Summe der materiellen und produzierten Produktionsmittel, … die an sich so wenig Kapital sind, wie Gold und Silber an sich Geld sind.“(9) Oder: „Die (ökonomischen) Kategorien sind nur der theoretische Ausdruck der Produktionsverhältnisse“, der Totalität der gesellschaftlichen Verhältnisse. Sie drücken „die Mystifikation der kapitalistischen Produktionsweise, die Verdinglichung der gesellschaftlichen Verhältnisse (aus) … die verzauberte, verkehrte, auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Capital und Madame la Terre als soziale Charaktere und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk treiben.“(10) Und als wichtige Bestimmung: Die ökonomischen Kategorien erscheinen als feste „Naturformen“ wo sie in Wahrheit nur „Gedankenformen“ darstellen, d.h. ideologisch die Form der Gegenständlichkeit vortäuschen.(11) Dem Einwand gegenüber, dass sich hier der Materialismus auflöse, sei auf einen Ausspruch von Marx selbst verwiesen, in welchem er Feuerbach zugute hält, dieser habe den „wahren Materialismus“ begründet, indem er „das gesellschaftliche Verhältnis des Menschen zum Menschen“ „zum Grundprinzip der Theorie“ machte. Der Materialismus der marxistischen Gesellschaftslehre begründet sich in der Tatsache, dass hier in der aus dem Phänomen der Arbeit sich ableitenden gesellschaftlichen „Praxis“ die Wurzel der Totalität des gesellschaftlichen Geschehens und der Erklärungsgrund für die Wesenheit der Erscheinungen dieser Totalität, auch der ideologischen, gefunden ist.

In seiner konkreten Untersuchung lässt Marx zeitweilig ungeachtet seiner kritischen Auflösung der verdinglichten Kategorien theoretisch das Individuum in einer der Welt der Entfremdung und Verdinglichung eigenen Weise agieren, um jeden seiner Schritte bis selbst in die entferntesten Verzweigungen seines Bewusstseins hinein verfolgen zu können, allerdings wiederum nur, um dieses dem Individuum selbst undurchschaubare und unverständliche Verhalten – das das Individuum deshalb als „natürlich“ erlebt – als dem entfremdeten und verdinglichten Schein unterworfen nachzuweisen. Wenn Marx z.B. den „Widerspruch zwischen Versubjektivierung und Verdinglichung“ in der Bewusstseinslage der kapitalistischen Individuen untersucht, so bezeichnet er zunächst zwei Pole im praktischen Verhalten dieser Individuen, die aber gleichzeitig Verzerrungen in ihrer gedanklichen Widerspiegelung sozialer Tatbestände bedeuten. Aber indem er den verdinglichten Schein der den Individuen entgegentretenden Objektwelt zum Zwecke der Beschreibung der faktischen Reaktionsweise der Individuen auf sie als solchen hinnimmt, d.h. die verdinglichte Struktur des Kapitalismus als Bühne der praktischen Bewegung der Menschen nicht sofort zerstört, sondern als Moment eines totalen Prozesses bestehen lässt, kann bei nicht genügender Beachtung der Besonderheit der Marxschen Untersuchungsweise die irrige Meinung entstehen, als ob gerade bei Marx nicht wie erforderlich die „Technik“ von der „Person“ her begriffen würde.

Unter den beiden geschilderten „letzten“, d.h. nicht mehr weiter ableitbaren Voraussetzungen der ständig sich umwälzenden Selbsterzeugung des Menschen in der Arbeit und der damit zusammenhängenden ständigen Veränderung der gesellschaftlichen Grundlagen enthüllen sich Mensch und Gesellschaft als einer fortwährenden Veränderung unterworfen, oder, was dasselbe bedeutet, als durch und durch historische Phänomene. Für die Auffassung des historischen Materialismus gibt es ebensowenig „den Menschen“ schlechthin oder ein unveränderliches „Wesen“ des Menschen, wie es eine überhistorische „Gesellschaftlichkeit schlechthin“ geben kann. Menschlich existieren heißt hier wesentlich im konkreten und veränderlichen Verhältnis zum Mitmenschen im konkreten gesellschaftlichen Raume, und das heißt wiederum als geschichtlich tätiges Wesen, ausgestattet mit einer veränderlichen Vorstellungs- und Denkweise existieren. Was der Mensch in dieser Hinsicht geschichtlich ist, das ist er wirklich, das macht seine eigentliche Existenz aus.

Hier ist zu beachten, dass der historische Materialismus nicht allgemeine, für alle menschliche Existenz geltende Merkmale leugnet. Aber sie gewinnen hier die Geltung bloß formaler Bestimmungen, d.h. solcher, die die allgemeinen Voraussetzungen menschlichen Seins überhaupt ausdrücken und deshalb nicht unmittelbar bestimmend in die sachlichen Voraussetzungen eingehen. Man kann das auch so ausdrücken: Die formalen Voraussetzungen ermöglichen menschliche Existenz, ohne in ihre Eigentlichkeit einzugehen oder mit ihr zusammenzufallen. Zu den formalen Voraussetzungen gehören: 1. Dass der Mensch ein Naturwesen ist, in der Natur lebt und sich mit ihr ständig auseinandersetzen muss. 2. Die körperliche Organisation des Menschen. 3. Die seelische Struktur des Menschen, wohl zu unterscheiden von den umweltbedingten Inhalten des seelischen Prozesses. 4. Die grundsätzliche Vernunftbegabtheit des Menschen, die ein natürliches Entwicklungsprodukt darstellt und als Naturtatsache zu werten ist.

Unter diesen allgemeinen, formellen Voraussetzungen entfaltet sich konkrete menschliche Geschichte, d.h. konkretes menschliches Sein in seiner Bewegung, die allein menschliches Sein ausdrückt. Diese Bewegung kennzeichnet sich durch Epochen, die sich durch eine auseinander entstandene, aber wesentlich sie unterscheidende Struktur charakterisieren. Konkrete, d.h. das wahre „Wesen“ des menschlichen Seins ausdrückende Geltung haben nur die inneren, aus der Totalität der zwischenmenschlichen Beziehungen einer strukturell geordneten Epoche einsehbaren „verstehbaren“ und daher „gesetzlichen“ Zusammenhänge einzelner Epochen. Dass sich in ihnen gleichzeitig solche grundlegenden, abstrakten Gegebenheiten, wie sie die allgemeine Theorie des historischen Materialismus bezeichnet, wiederholen, hängt damit zusammen, dass unter den aufgezählten formalen Voraussetzungen der menschlichen Existenz sich bestimmte Formen der konkreten Existenz wiederholen, weil sie aus den unaufhebbaren konkreten Bedingungen des historischen Seins (Arbeit, Umschlagen von Subjektivität in Objektivität, Entwicklung der Produktivkräfte und deren stets von neuem entstehender Widerspruch zu den Produktionsverhältnissen usw.) erfließen. Diese Wiederholung bestimmter Formen der konkreten Existenz bedeutet aber nicht, dass sich die konkreten historischen Inhalte wiederholen: und diese allein machen das eigentliche und wirkliche Sein des Menschen aus; das Sein befindet sich in einem ununterbrochenen Veränderungsprozess.

Was die nicht formalen, sondern auf das konkret-historische Sein bezogenen allgemeinen, d.h. zur abstrakten Geltung zusammengefassten Bestimmungen betrifft; drücken sie, sofern sie selbst wiederum zu allerletzten abstrakten Bestimmungen verengt werden, das aus, was man nach dem modernen Begriff „anthropologisch“ nennen könnte. Die „anthropologischen“ Merkmale unterscheiden sich sehr deutlich von jenen, die wir einerseits formal genannt, andererseits der engeren Theorie des historischen Materialismus zugeordnet haben. Während die formalen Aussagen die allgemeinsten naturgegebenen Voraussetzungen der menschlich-gesellschaftlichen Existenz überhaupt umfassen, und während der historische Materialismus die allgemeinsten Aussagen über das Wesen des gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesses selbst macht, so bezeichnen die „anthropologischen“ jene Merkmale, durch die sich der Mensch unter den formalen und historischen Bedingungen als ein Eigenwesen ausprägt, womit allerdings wiederum nur sehr abstrakte und erst durch den konkreten geschichtlichen Prozess selbst verifizierbare Einsichten gewonnen sind. Die „anthropologischen“ Bestimmungen, hier in einem sonst unzulässigen rationalistischen Hintereinander aufgezählt, sind demnach die folgenden: 1. Der Mensch ist ein arbeitendes Wesen. 2. Der Mensch ist in einer durch die Tatsache der Arbeit bestimmten Weise ein auf den Mitmenschen notwendig bezogenes, als soziales (vergesellschaftetes) Wesen. 3. Der Mensch ist ein gleichzeitig ichbezogenes (individuelles) und sozialbezogenes (vergesellschaftetes) Wesen: er ist ein widerspruchsvolles Wesen. 4. Die Arbeit und in weiterem Sinne alle Tätigkeit des Menschen äußert sich in gegenständlichen oder geistigen Erzeugnissen; der Mensch „entäußert“ sich in ihnen kraft seiner Fähigkeit zu arbeiten. 5. Im Zusammenhang mit der Tatsache der „Entäußerung“ in der Arbeit ergibt der Widerspruch zwischen der Ich- und der Sozialbezogenheit der Menschen das dialektische Vermögen, im konkreten historischen Raume in Übereinstimmung miteinander oder in Gegensatz zueinander zu treten, was die „anthropologische“ Voraussetzung für die grundsätzliche Möglichkeit der historischen Herausbildung antagonistischer (klassengespaltener) oder harmonistischer Formen gesellschaftlichen Zusammenlebens bildet. Aber nur unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen wird aus dieser Möglichkeit konkrete Wirklichkeit in den diesen Bedingungen entsprechenden vielfältigen Formen. Man achte hier auf den Unterschied zwischen Voraussetzung und Bedingung! 6. Der Mensch verwirklicht sich nur im geschichtlich-gesellschaftlichen Raume, so dass seine bisher aufgezählten wichtigsten „anthropologischen“ Merkmale, obgleich sie die unaufhebbare Voraussetzung aller menschlichen Existenz bilden, ihrerseits ständig im geschichtlichen Prozess hervorgebracht werden müssen. Eine „reine“ anthropologische Existenz des Menschen unabhängig von seinem geschichtlichen Sein ist daher für den dialektischen Begriff eine nicht durchführbare Vorstellung.

Die dialektische Vermittlung zwischen Allgemeinheit und Besonderheit macht verständlich, dass Geschichte einerseits allgemein Geltendes enthält, andererseits sich ausschließlich in Besonderheiten äußert, zu „Epochen“ und „Gesellschaftsordnungen“ konkretisiert. Die Besonderheit einer Gesellschaftsordnung kennzeichnet sich durch ihre „Produktionsverhältnisse“. Daher kann Marx sagen: „Die Produktionsverhältnisse in ihrer Gesamtheit bilden das, was man die gesellschaftlichen Verhältnisse, die Gesellschaft nennt, und zwar eine Gesellschaft mit eigentümlichem, unterschiedlichem Charakter.“(12) Dementsprechend zerlegt der historische Materialismus die Geschichte in verschiedene, voneinander unterschiedene Epochen, und dies zu dem Zweck, um jede dieser Epochen in ihrer durch die Produktionsverhältnisse strukturierten und bestimmten Totalität begreiflich zu machen; seine Betrachtungsweise ist eine konsequent historische und „individualisierende“. Diese Historisierung und Individualisierung des Prozesses bleibt aber nicht bei der Epoche stehen, sondern ergreift auch alle inhaltlichen Gegebenheiten jeder Epoche. Gleichzeitig ist diese „Individualisierung“ keine einseitig rationalistische, sondern eben dialektische: Das „Individuelle“, d.h. die Einzelerscheinung wie eine Persönlichkeit, eine Handlung, eine Gedankenform oder ein Ereignis, als Element einer bestimmten gesellschaftlichen Formation betrachtet, wird hier nicht etwa nach dem Begriff der Naturwissenschaft unter ein „Gesetz“ subsumiert; vielmehr behält es seine Individualität, indem es den in seiner inneren Dynamik verstehbaren Zusammenhang – das was hier gesellschaftliches „Gesetz“ heißt und sich vom naturwissenschaftlichen Gesetz grundlegend unterscheidet – mit erzeugt und sich seinerseits von diesem Zusammenhang her eben als unwiederholbare und qualitativ reichhaltige Individualität wesenhaft bestimmt.

Sofern also auch die Epochen nach der marxistischen Lehre „Individualitäten“ darstellen, werden sie doch der Übersicht halber in Hauptepochen der Menschheit zusammengefasst, denen eine allgemeine „ökonomische Struktur“ zugrunde liegt. Es werden fünf solcher Epochen unterschieden, die in ferner Zukunft liegende und nicht erkennbare „eigentliche Geschichte der Menschheit“, wie Marx sagt, ausgenommen. Die Urgesellschaft „Urkommunismus“, in der es zwar schon individuelles Eigentum, aber kein Eigentum an dem, wovon die ganze Gesellschaft lebt, nämlich an den grundlegenden Produktionsmitteln (Boden, Wald, Gewässer, Wild) geben kann, folgt die Epoche der Sklaverei. Diese entspringt der Steigerung der wirtschaftlichen Produktivität aus anfänglicher Arbeitsteilung, wobei die Anwendung von Gewalt bei der Unterwerfung fremder Stämme das äußere Hilfsmittel abgibt. Sie stellt die erste Form der Klassengesellschaft dar. Aus der nächstfolgenden feudalen entwickelt sich die bürgerliche oder kapitalistische Gesellschaft, die in sich wiederum sehr verschiedene historische Epochen aufweist. Die Epoche des industriellen Kapitalismus ist die höchste innerhalb der Klassengesellschaft. Sie ist charakterisiert durch zahlreiche Widersprüche, die aus dem Widerspruch zwischen der Herstellung allgemeiner individueller Freiheit und der gleichzeitigen Beibehaltung der ökonomischen Abhängigkeit erfließen. Kapitalistische Warenstruktur bedeutet beides und bildet die Grundlage für eine ungeahnte Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums, aber auch zum ersten Male in der Geschichte für eine seitens der Teilnehmer nicht mehr schlechthin durchschaubare Komplizierung des gesellschaftlichen Prozesses. Ökonomisch, und in bestimmten Zeiten des Aufstiegs auch kulturell, erfüllt die herrschende bürgerliche Klasse eine gewaltige, alle bisherigen Verhältnisse umstürzende und großartige Möglichkeiten für die Zukunft eröffnende Aufgabe, wenngleich auf dem Rücken des Proletariats, das den höchsten Grad der menschlichen, sittlich-geistigen Entfremdung aufweist, der in der modernen Kultur möglich ist, und durch seinen tragischen Zustand alle übrigen Klassen in die Entfremdung hineinzieht, wobei wiederum der diesen Prozess betreffende Zusammenhang sich als außerordentlich kompliziert erweist. Über die wirtschaftliche Rolle der Bourgeoisie sagt Marx: „Die Bourgeoisie hat bewiesen, was die Tätigkeit des Menschen zustande bringen kann. Sie hat ganz andere Wunderwerke geschaffen als ägyptische Pyramiden, römische Wasserleitungen und gotische Kathedralen, sie hat ganz andere Züge angeführt als Völkerwanderungen und Kreuzzüge.“(13) Zugleich wird diese großartige Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte auf einem bestimmten Punkte zu einem Hemmnis; die Bourgeoisie „wird die Geister nicht los, die sie rief“. Aber selbst von der verheerenden menschlichen Situation des Proletariats abgesehen, hat der arbeitende Mensch keinen ausreichenden Anteil an der ungeheuren Reichtumsentfaltung der Gesellschaft; d.h. dass auch einseitig ökonomisch beurteilt, welche Urteilsweise Marx strikt ablehnt, der moderne Arbeitnehmer zu kurz kommt: „Ein Haus mag groß oder klein sein, solange die es umgebenden Häuser ebenfalls klein sind, befriedigt es alle gesellschaftlichen Ansprüche an eine Wohnung. Erhebt sich aber neben dem kleinen Haus ein Palast, schrumpft das kleine Haus zur Hütte zusammen. Das kleine Haus … mag im Laufe der Zivilisation noch so sehr in die Höhe schießen; wenn der benachbarte Palast in gleichem oder in höherem Maße in die Höhe schießt, wird der Bewohner des verhältnismäßig kleinen Hauses sich immer unbehaglicher, unbefriedigter, gedrückter in seinen vier Pfählen finden. … Obgleich also die Genüsse des Arbeiters gestiegen sind, ist die gesellschaftliche Befriedigung, die sie gewähren, gefallen im Vergleich … mit dem Entwicklungszustand der Gesellschaft überhaupt. Unsere Bedürfnisse und Genüsse entspringen aus der Gesellschaft; wir messen sie nicht an den Gegenständen unserer Befriedigung.“(14) Wir sehen übrigens auch hier, dass Marx das Dingliche auf das Gesellschaftliche zurückführt und nicht umgekehrt.

Jedoch geht es Marx nicht allein um die wirtschaftliche Lage des Arbeiters, die ihn nur als Voraussetzung für die Befreiung des ganzen Menschen interessiert, möge diese Voraussetzung bei ihm auch als unaufhebbare und grundlegende begriffen werden, wie übrigens bereits bei den großen bürgerlichen Humanisten des 18.Jahrhunderts bis hin zu Lorenz von Stein und den Kathedersozialisten. Die in ihrer Totalität begriffene menschliche Situation des Arbeiters bezeichnet er, in radikalem Gegensatz zu der üblichen rein ökonomischen Begriffsauffassung, als „Pauperismus“, was für ihn nicht etwa Armut heißt, sondern soviel wie Armseligkeit, d.h. das von der Entfaltung und Verwirklichung der menschlichen Kräfte, Anlagen und Begabungen entfernte Sein des Menschen, also das der menschlichen Armseligkeit unterworfene Sein. Dieser Zustand des „Pauperismus“ verschärft sich durch das Nichtwissen um die eigene menschliche Situation, woran selbst die ökonomische Besserung nichts ändern kann. Die Befreiung des Menschen vom „Pauperismus“ kann nur eine solche des ganzen Menschen sein. Wie sehr es Marx um die Ganzheit und nicht etwa bloß um das „ökonomische Wohl“ des Menschen geht, beweist die herbe und immer von neuem ansetzende Kritik an der verheerenden Wirkung der Arbeitsteilung, durch die der Mensch zu einem „einseitigen“ und seiner reichen Kräfte nicht mehr mächtigen und in diesem Sinne auch „geknechteten“ Wesen wird. Die verheerende Wirkung der Arbeitsteilung soll durch die Verkürzung der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit gemildert und der „Pauperismus“ durch die erzieherische und kulturelle Ausgestaltung der verlängerten Freizeit überwunden werden.

Aus der gesellschaftlich entstehenden Tendenz zur Lösung der Widersprüche der kapitalistischen Ordnung erwächst auf der vom Kapitalismus selbst geschaffenen günstigen ökonomischen Grundlage der Drang zum Sozialismus. Der Sozialismus ist somit die fünfte der bisher erkennbaren Hauptepochen der Menschheit. Weil der Mensch nach Marx wegen seiner bisherigen wesentlich ökonomischen (materiellen) Bestimmtheit halb Tier, halb Mensch war, ist die bisherige Geschichte als bloße „Vorgeschichte“ der Menschheit zu betrachten. Mit der klassenlosen Gesellschaft beginnt „die eigentliche Geschichte“, in welcher die Gesellschaft Herr ihrer „Gesetze“ wird und der Mensch sich in voller Freiheit entfaltet. Klassenlos ist diese Gesellschaft nicht, weil alle in ihr ungefähr „gleich leben“ – eine solche aus der kapitalistischen Denkweise Marx unterlegte Vorstellung ist ihm fremd – sondern weil der Mensch nicht mehr zum Mittel des Menschen werden kann.

Im gesamten besehen, lässt sich die geschichtliche Entwicklung als solche des Fortschritts erkennen. Zwar bringt innerhalb der Klassengesellschaft jede Epoche neue Formen der Unmenschlichkeit hervor, gleichzeitig aber verwirklicht sich in ihr, von der Gesamtentwicklung her beurteilt, eine stets höhere Form der Freiheit.

Die Geschichte als die fortschreitende Selbstverwirklichung der menschlichen Freiheit zu betrachten, liegt nicht ohne weiteres auf der Hand. Das äußere Bild der Geschichte bestätigt eher das Gegenteil. Aber diese Bestätigung ist Schein, wenn auch die meisten historischen Subjekte ihm unterliegen und ihn für das Wesen nehmen. Sie begreifen nicht, dass selbst die negativen, tragischen, düsteren Momente im geschichtlichen Prozess, die subjektiven und objektiven Irrtümer, Zusammenbrüche und Rückfälle in vielen Fällen unvermeidliche, aus der konkreten Widersprüchlichkeit geborene Durchgangsmomente der Fortentwicklung der Geschichte zu einem Neuen, Höheren darstellen. In den Anfängen war der Mensch noch stark der Zufälligkeit des von der Natur Gebotenen unterworfen. Den entscheidenden Schritt über die unmittelbare Naturgebundenheit hinaus konnte der Mensch erst tun, als er unter der Voraussetzung einer gewissen Teilung der Arbeit sich des Menschen selbst zu bedienen vermochte. Das heißt, dass die Sklaverei, die furchtbarste aller Formen der Klassenunterdrückung, ein zwar höchst widerspruchsvolles, aber unvermeidliches Durchgangsmoment auf dem Wege der Geschichte zu immer höheren Stufen der Freiheit darstellt. Sie ist gleichzeitig die tiefste Stufe der Unfreiheit in der Klassengesellschaft, so dass von hier aus sich jede künftige Stufe als eine relativ fortschrittliche bestimmen lässt. Die Schwierigkeit in der Bestimmung des geschichtlichen Begriffs der Freiheit resultiert daraus, dass es in der Klassengesellschaft keine schlechthin für alle Gesellschaftsmitglieder geltende Form der Freiheit gibt und somit nicht der einheitliche Maßstab gefunden werden kann, durch den alle gleicherweise in die Lage kommen, einen Zustand als frei oder nicht zu bezeichnen. Diese Schwierigkeit ist aber eine subjektive, d.h. aus der falschen Sicht auf die Totalität des Geschehens entspringende.

Im Sinne des historischen Materialismus stellt sich der Sachverhalt folgendermaßen dar. Weil es in der Klassengesellschaft keine für alle gleicherweise geltende Form der Freiheit gibt, stellt jede Stufe der Freiheit in dieser ein höchst widerspruchsvolles Gebilde, oder was dasselbe ist, ebenso eine Stufe der Unfreiheit dar. Die Widersprüchlichkeit äußert sich darin, dass stets nur die herrschende Klasse das historisch mögliche volle Maß der Freiheit genießt, dagegen die beherrschten Klassen nur innerhalb des Bereichs der historischen Form des Beherrschtseins eines gewissen Grades der Teilnahme an dieser Freiheit teilhaftig werden. Die Entwicklung der Menschheit zu immer höheren Stufen der Freiheit geht also nicht ganz an den unterdrückten Klassen vorbei. Je höher aber die Stufe ist, die die Gesellschaft erklommen hat, und je mehr die beherrschten Klassen vom Aroma der Freiheit geschmeckt haben, desto heftiger dürstet sie nach deren Vollendung, und desto höher rückt die Menschheit – die entsprechenden ökonomischen, geistigen und politischen Bedingungen vorausgesetzt – an jenen Punkt heran, auf welchem die relative in die (relativ) absolute Freiheit, die höchste Form der Klassengesellschaft in die unterste, nach Marx mit großen „unvermeidbaren Missständen“(15) behaftete Form der klassenlosen Gesellschaft umschlägt. Die Absolutheit dieser sozialistischen Freiheit besteht in der wirklich allgemeinen Geltung für alle Gesellschaftsmitglieder.(16) Der Sklave erinnert sich nur sehr selten seiner Menschenwürde, der Leibeigene, ihm hierin nahe, bedarf erst der Erweckung durch die städtische Gesellschaft, um seine gleichzeitig armseligen wie großartigen Erhebungen zu wagen, das Klirren der Waffen der handwerklichen Bünde und Stadtviertelorganisationen im Mittelalter will bereits kein Ende nehmen, das aufsteigende, aber unterdrückte Bürgertum vollzieht die größten Revolutionen, die die Welt je gesehen, hierin der modernen Gesellschaft ein Beispiel gebend, in welcher die gewaltigen Organisationen der Arbeitenden das Gefüge bis in die Grundfesten zu erschüttern drohen.

In diesem Prozess spielt nach Marx das Denken, das „Bewusstsein“ in allen seinen Gestalten, des „richtigen“ und „falschen Bewusstseins“, eine entscheidende Rolle. Es steht nicht „außerhalb der Welt“. Die Auffassung von Marx grenzt sich radikal gegen den mechanistisch-materialistischen Standpunkt ab, wonach das Denken nur nachträglich (kontemplativ) das bereits „gesetzlich“ Vollzogene anzusehen in der Lage ist, also keinen Einfluss auf den „naturgesetzlichen“ Ablauf zu gewinnen vermag. Die Teilnahme des Denkens am geschichtlichen Prozess wird hier zur Selbsttäuschung des Subjekts; z.B. bei Hobbes, Spinoza und den französischen Materialisten.

Es ist bezeichnend, dass Marx gerade in Abgrenzung gegen die Vernachlässigung der subjektiv-tätigen und damit auch geistigen Seite in der Beurteilung des Wesens des Geschichtsprozesses sogar Hegel vorwirft, er lasse den absoluten Geist die wirkliche Bewegung der Geschichte nicht bewusst-tätig vollbringen, sondern unbewusst,(17) d.h. auf eine gleichsam naturgesetzlich-mechanische Weise. Marx sagt hier – und später wiederholt er seinen Gedanken, dass der Mensch die Geschichte mit Hilfe seines Denkens macht, in den verschiedensten Variationen – dass Hegel den „absoluten Geist nur zum Schein Geschichte machen lässt“. Ebenso aufschlussreich für die Theorie des historischen Materialismus ist die Begründung, die er gibt: Unter der Voraussetzung der richtigen Einsicht, dass Geschichte mit Bewusstsein gestaltet, denkend-tätig „gemacht“ werden muss, ist vom Geschichtsphilosophen zu zeigen, wie der geistige Prozess (auch als Hegelscher absoluter Geist) auf jedem seiner Schritte in Objektivität umschlägt, also selbst zum Werkzeug, zum Subjekt innerhalb der historischen Subjekt-Objekt-Beziehung, des dialektischen Sichselbstmachens der Geschichte oder, was dasselbe ist, der „Praxis“ wird. Demgegenüber lässt Hegel aber den Philosophen, in dessen Kopf der absolute Geist sich zum Bewusstsein seiner selbst oder des geschichtlichen Seins kommen lässt, erst nachträglich dieses Selbstbewusstsein erlangen; der absolute Geist hat bis dahin nur „mechanisch“-unbewusste Geschichte „fabriziert“. „Da der absolute Geist“, schreibt Marx, „nämlich erst post festum als schöpferischer Weltgeist zum Bewusstsein kommt, so existiert seine Fabrikation der Geschichte … nur in der spekulativen Einbildung“ und nicht in Wirklichkeit.

Was Hegel den absoluten Geist nennt, d.h. dass das Tätige im geschichtlichen Prozess ausdrückende Prinzip, wird in der Marxschen Kritik nicht nur als etwas schlechthin Praktisches, sondern gleichzeitig Gedankliches, als denkendes Handeln oder handelndes Denken begriffen. Daraus wird erkennbar, wie Marx, ungeachtet der sonstigen Anerkennung des grundlegenden Unterschiedes beider Verhaltensweisen, auch das Denken als Element der Tat, als Faktum im Prozess des Selbstmachens der Geschichte durch den Menschen begreift. Dieses Machen der Geschichte durch das Denken besteht aber nicht darin, dass es von außen her auf die Geschichte „einwirkt“, sondern es stellt selbst eine unaufhebbare Bedingung geschichtlichen Seins überhaupt dar. Das Denken verhält sich nicht bloß „teilnehmend“, sondern Geschichte überhaupt ermöglichend, d.h. es ist ein so entscheidendes Moment des geschichtlichen Prozesses, dass dieser ohne Denken nicht möglich ist. Dass das Denken diese Aufgabe übernehmen kann, resultiert daraus, dass es seine Gedanken nicht im „Raume“ des Nichts produziert, um sie von da in den Raum des geschichtlichen Seins herabsteigen zu lassen, sondern dass es der Gedanke dieses Seins selbst ist, mit ihm „identisch“: es ist nichts anderes als die dem Sein und seiner Bewegung notwendig zugehörige, richtige oder falsche „Selbsterkenntnis“ dieses Seins.

Welche weitreichende Bedeutung Marx dem Denken zuspricht, erkennt man auch daran, dass er ihm sogar die Kraft der Subjektveränderung zuspricht. Das historisch wirkende Subjekt (Individuum, Gesellschaft, Klasse usw.) ist jeweils ein anderes, je nachdem, welches Denken ihm eignet. Auf dieser Einsicht beruht wesentlich die marxistische Klassentheorie mit ihrer bedeutsamen Unterscheidung zwischen Klasse „an sich“ und Klasse „für sich“. Sie besagt, dass die ökonomischen Bedingungen einer Klasse, ihre Stellung im ökonomischen Gesamtgefüge der Gesellschaft erst zu einer historisch aktiven und damit Geschichte „machenden“ Potenz wird, sobald ein diese Lage (richtig oder falsch) erkennendes „Bewusstsein“ zur Entwicklung kommt, womit bereits eine faktische Veränderung im Verhältnis der Klassen zueinander bewirkt ist. Die strukturelle Veränderung der Gesellschaft pflegt die weitere Folge zu sein. Das Denken macht, wie Georg Lukács im Sinne von Marx lehrt, den jeweils nächsten historischen Schritt überhaupt erst möglich.(18) Ein besonders hervorzuhebendes Faktum ist die Möglichkeit der subjektiven Entscheidung im Raume der Herausbildung der „Ideologien“ einer gesellschaftlichen Epoche, einschließlich der Nachwirkung geistiger Traditionen, also das, was man „geistige Freiheit“ nennt. „Die allgemeine Theorie des gesellschaftlichen Bewusstseins kann sich natürlich nur auf den typischen Durchschnitt richten. Jedoch ist der Marxismus keine „Soziologie“, die diese Bestimmung als fatalistische Determination oder – wie es bei den Modernen zu sein pflegt – als eine abstrakte, registrierende Typologie auffassen würde. Er gibt im Gegenteil die bewegliche Struktur dieser Zusammenhänge, den realen gesellschaftlich-geschichtlichen Spielraum, in dessen Grenzen die individuelle Bewusstseinsentwicklung individuell vor sich geht und sich gleichzeitig dieser Typik einordnet.“(19)

Das so genannte „falsche“, d.h. die Wirklichkeit nicht richtig widerspiegelnde ideologische Bewusstsein beruht keineswegs auf dem bloßen „Interesse“ einer Klasse, sondern umgekehrt kann sich dieses sich ideologisch manifestierende Klasseninteresse nur durchsetzen auf dem Boden der vorangehenden Nichtbewältigung des Subjekt-Objekt-Prozesses und der daraus entstehenden ideologischen Verzerrung der Wirklichkeit. Das ideologische Bewusstsein, das Resultat einer bestimmten Stellung in der Gesellschaft und beschränkten Blickrichtung auf die Gesellschaft ist, betrügt unter dem Drucke der widerspruchsvollen und gedanklich nicht bewältigten Realität zunächst sich selbst, und erst wenn dies geschehen, kann es an den Vorrang und an die „für alle Menschen“ geltende Bedeutung seines Interesses glauben. Die Gleichsetzung des kapitalistisch-egoistischen mit dem allgemeinen Interesse hat hier seine Wurzel. Deshalb stellt Marx in der Deutschen Ideologie die Frage, auf welche Weise sich das Interesse gegenüber der Realität verselbständigen kann. Und in den Theorien über den Mehrwert bemerkt er: „Hodgskin fasst dieses als reine subjektive Täuschung auf, hinter der sich der Betrug und das Interesse der ausbeutenden Klassen versteckt. Er sieht nicht, wie die Vorstellungsweise aus dem realen Verhältnis selbst entspringt, wie das letztere nicht Ausdruck der ersteren ist, sondern umgekehrt.“ Das allerdings unter dieser einmal existierenden Voraussetzung der phantasmagorisch verzerrten Widerspiegelung der realen Verhältnisse dann auch der Raum gewonnen ist für bewussten Betrug und für das Geltendmachen eines bewusst egoistischen Interesses, verdeutlicht nur das Problem, hebt es aber nicht auf.

Gesellschaftliche Entfremdung ist stets auch Entfremdung des Bewusstseins, beide sind im spezifisch Marxschen Sinne identisch. So wahr es ist, dass sich der objektive Prozess nicht bloß zum Schein, sondern wirklich den Individuen gegenüber als etwas ihnen Fremdes verselbständigt, so wahr ist auch, dass dieser Prozess infolge der Widersprüchlichkeit der individuellen Funktionalität in ihm weder in seinem gesellschaftlichen Ursprung, d.h. als Produkt der subjektiven Tätigkeit, noch in seiner Totalität der dialektischen Subjekt-Objekt-Beziehung begriffen wird, daher sich dem Denken verzerrt darbietet. Sobald vorhanden, wird dieses scheinhafte Bewusstsein zur Bedingung, einmal für das den realen Verhältnissen (der Warengesellschaft) sich „sinngemäß“ anpassende praktische Handeln, zum anderen für eine weitere Entfaltung des ideologischen Stromes bis zu den wissenschaftlichen Systemen hinauf. Im Konkreten ist dieser Prozess allerdings von Fall zu Fall neu zu untersuchen.

Man erkennt, dass der Prozess der Herausbildung des gesellschaftlichen Bewusstseins zwei ineinander übergehende Ströme zeigt. Die entfalteteren ideologischen (philosophischen, politischen, juristischen usw.) Gebilde gelten nicht mit Unbedingtheit und Notwendigkeit, d.h. nicht in der Weise, dass sie in einer ganz bestimmten Gestalt sich manifestieren müssen; sie befinden sich in einem steten Flusse, sind individuell gestaltbar und stets gegen verwandte Ideologien austauschbar. Dagegen zeigen die der untersten Stufe des gesellschaftlichen Seins entspringenden ideologischen Gebilde eine festere, unwandelbare Gestalt. Der Grund liegt darin, dass sie die Form darstellen, in welcher sich die ökonomischen Kategorien darbieten. Sie entstehen daher spontan und zeigen eine nicht veränderbare Eindeutigkeit: Ware, Wert, Preis, Kapital, Geld, Profit, Rente usw. erscheinen als dingliche Gegebenheiten, wo sie doch nur ideologische Formen bestimmter gesellschaftlicher Produktionsverhältnisse darstellen, wie wir bereits zeigten. Das Verständnis der Bezüglichkeit zwischen der Totalität der gesellschaftlichen „Praxis“ und dem gesamten ideologischen Prozess – in der Analyse der modernen kapitalistischen Epoche vermittelt durch das Zwischenglied der eben bezeichneten verdinglichten (oder wie Marx auch sagt „fetischistischen“) Seins- und Vorstellungselemente – macht das aus, was als die Ideologielehre des historischen Materialismus bezeichnet wird.

Anmerkungen:
(1) MEW 13, S.636f.
(2) MEW 23, S.194.
(3) Ebd., S.193.
(4) Ebd.
(5) Ebd., S.195.
(6) Ebd., S.194f.
(7) MEW 1, S.385.
(8) MEW 6, S.407.
(9) MEW 25, S.822 f.
(10) Ebd., S.838.
(11) MEW 23, S.90.
(12) MEW 6, S.408.
(13) MEW 4, S.465.
(14) MEW 6, S.411f.
(15) MEW 19, S.21.
(16) Vgl. L.Kofler: Stalinismus und Bürokratie, Neuwied 1970.
(17) MEW 2, S.90f.
(18) G.Lukács: Geschichte und Klassenbewusstsein, Berlin 1923.
(19) G.Lukács: Existenzialismus oder Marxismus, Berlin/DDR 1951, S.109f.

Erstveröffentlichung in: Handbuch der Soziologie (Hg. W. Ziegenfuß u.a.) 1956, S.512ff. Nachdruck in Zur Dialektik der Kultur. Sechs Beiträge (1972), in Geistiger Verfall und progressive Elite. Sozialphilosophische Untersuchungen (1981) und in Zur Kritik bürgerlicher Freiheit (2000).