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» Zur Tragik der „Grünen“ und „Alternativen“ [1989]

Zur Tragik der „Grünen“ und „Alternativen“ [1989]

Im Kommunistischen Manifest bemerkt Marx, dass der „kleinbürgerliche Sozialismus“ „die modernen Produktions- und Verkehrsmittel in den Rahmen der alten Eigentumsverhältnisse einsperren“ will, weshalb er – und wer denkt da nicht gleich an die „Grünen“ (die auch die „Alternativen“ umfassen) – hinzufügt, dass sie „reaktionär und utopisch“ zugleich sind. Von „Sozialismus“ ist mit Ausnahme eines kleinen, längst einflusslosen Teils ohnehin nicht mehr die Rede! Auch ist nicht mehr die Rede vom konkreten Menschen, sondern nur vom Menschen, wie er, so Marx, „keiner Klasse angehört“, sondern nur dem „Dunsthimmel der philosophischen Phantasie“. Wirft Marx andererseits dem „konservativen Bourgeois-Sozialismus“ vor, er setzt sich nur „administrative Verbesserungen“ zum Ziel, so trifft auch dies auf die „Grünen“ zu. Zusammenfassend kann man sagen, sie sind die Straßenkehrer des Kapitalismus.

Aber mit solchen Charakterisierungen ist wenig erreicht, wenn nicht die Theorie zu ihrer Begründung herangezogen wird; erst durch sie wird die Frage zureichend beantwortet, ob die „Grünen“ sich von den bürgerlichen Parteien, einschließlich der sozialdemokratischen (die wir anderweitig ausführlich als eine heute bürgerlich-liberale gekennzeichnet und nachgewiesen haben) überhaupt unterscheiden und ob sie an Veränderungen überhaupt etwas bewirken können. Ihr eigenes, von Hegel und indirekt auch von Marx weidlich verhöhntes Steckenbleiben im „gesunden Menschenverstand“, der nichts anderes darstellt als den Alltagsverstand des Philisters, wissenschaftlich ausgedrückt, im dialektikfeindlichen „Positivismus“, beruht in ihrem geringen Verständnis für eine gründliche theoretische Schulung, woraus jene platte, ja vulgäre Redeweise erfließt, die für die „Grünen“ so charakteristisch ist. (Vor dem Stalinismus brauchen sie sich allerdings nicht zu schämen, dessen hölzern-dürftige Redeweise allgemein bekannt ist.) Da aber schlechthin alle Menschen naturgemäß Angst haben vor den naturfeindlichen ökologischen Folgen der modernen Technik, finden die „Grünen“ Anklang bei den Wahlen und die Möglichkeit, ins Parlament einzuziehen. Aber eine Partei, die für alle eintritt, tritt im letzten Effekt für niemanden ein, es sei denn, dass sie gewissen Interessen widerspricht, die aber genau zu definieren sind – und damit sind wir bei dem oben angekündigten theoretischen Problem angelangt. Diese Theorie, die herangezogen werden muss, um eine solche Bewegung wie die „Grünen“ zu verstehen, d.h. in diesem Falle, ihr scheinoppositionelles Wesen zu ergründen, ist: die Theorie der in jeder Klassengesellschaft geltenden Dialektik von subjektivem und objektivem Interesse der jeweils herrschenden Klasse oder, was auf dasselbe hinausläuft, des dialektisch-widerspruchsvollen Verhältnisses von herrschender Klasse und dem sie öffentlich vertretenden Staat.

Da dies nicht so ohne weiteres zu verstehen ist, sei zunächst ein historisches Beispiel zur Illustration dieses Sachverhalts vorgeführt.

In der Mitte des 16.Jahrhunderts erhob sich der französische Adel in den sogenannten „Fronden“ gegen seinen König, was mit seiner Niederlage endete. Aber diese Niederlage wirkte sich nicht etwa gegen das Interesse der Angehörigen der französischen Adelsklasse aus, sondern im Gegenteil. Wie bei jeder herrschenden Klasse denken und handeln die einzelnen ihrer Mitglieder naturgemäß im egoistischen Interesse stets so, wie sie es subjektiv für richtig halten. Ihr Egoismus pflegt sich aber bei einer bestimmten Reife und beginnenden Dekadenz der betreffenden Gesellschaft zu Disharmonien und Widersprüchen in der Selbstartikulation der ganzen Gesellschaft zu verdichten, durch die der Bestand dieser Gesellschaft insgesamt gefährdet wird. Denn die vielfältigen Interessen der für sich handelnden einzelnen Mitglieder der Herrschenden, die rein egoistischen Interessen, fallen in ihrer Gesamtheit keineswegs immer mit dem objektiven Gesamtinteresse, das auf die ungestörte Erhaltung der bestehenden Ordnung ausgerichtet ist, zusammen. Es entstehen gesellschaftliche Konflikte, in unserem Falle zwischen dem inzwischen erstarkten Bürgertum und dem traditionalistischen Adel, die den Gesamtbestand der Ordnung zu sprengen drohen. In einem solchen Fall greift der Staat ein, um die einzelnen Mitglieder der herrschenden Klasse zur Räson zu bringen und ihnen eine Verhaltensweise aufzuzwingen, durch die die Bedrohung des gesellschaftlichen Ganzen gemildert oder beseitigt wird. Wenn wir in unseren Tagen, den Tagen der Bedrohung des gesamten Lebens auf der Erde und selbstverständlich ihrer Teile, der einzelnen Nationen und sozialen Ordnungen, uns umsehen, so erkennen wir mit Hilfe des oben erwähnten Beispiels aus der Geschichte, dass wir es zwar mit völlig anderen historischen Inhalten zu tun haben, aber mit dem gleichen Problem. Die einzelnen Kapitalisten oder die ihnen verantwortlichen Manager oder kurz die „Betriebe“ (welch‘ verdinglichter Ausdruck die Tatsache verdeckt, dass sich dahinter stets egoistische Interessen einzelner Subjekte verbergen) haben, getrieben von der Sucht, möglichst viel Gewinn zu erzielen, naturgemäß nur dieses ihr egoistisches Interesse im Auge und handeln danach: Sie helfen auf vielerlei Weise mit, die natürliche menschliche Lebenswelt bis in die privatesten Bereiche hinein zu zerstören und zu vergiften. Das bedeutet, auf eine theoretische Formel gebracht, dass sie nur ihr subjektives Klasseninteresse vertreten, dies aber ohne Rücksicht nicht nur auf die Gesamtgesellschaft, sondern makaberer Weise auch ohne Rücksicht auf das objektive Interesse ihrer eigenen Klasse als einer herrschenden, das sie durch ihr Verhalten selbst in Frage stellen, womit sie ihre eigene Herrschaft bedrohen.

Der Staat ist es nunmehr, der kapitalistische Staat selbst, der sich gezwungen sieht, sich des objektiven Interesses der herrschenden Klasse gegen ihr bloß subjektives anzunehmen, was auf die Weise geschieht, dass er sich per Gesetz und verwandter Methoden in die Belange der einzelnen „Unternehmen“ einmischt und sie – wenn auch vielfach nicht immer mit der nötigen Konsequenz und auf verschlungenen Wegen – zwingt, im Interesse des Weiterbestandes der bestehenden Klassenordnung ihre Verhaltensweise zu ändern.

Auch wenn es keine „Grünen“ gäbe, wofür wir der Beispiele genug haben, könnte der Staat nicht anders sich verhalten. So ist leicht zu erkennen, dass die „Grünen“, auch wenn sie sich ideologisch etwas anderes einbilden, im Grunde kein anderes Programm vertreten als das dem bestehenden Staate ohnehin aufgegebene; mit anderen Worten, sie stellen eine Bewegung dar, die nichts anderes vertritt als das objektive Interesse der herrschenden Klasse, wenn auch gegen das bloß subjektive. Im Prinzip heißt dies nichts anderes, als dass sie in den Kapitalismus integriert sind – wenn auch, ohne es zu wissen, was noch viel schlimmer ist.
Das eigentliche Problem, das unseren Tagen – von der gesellschaftskritischen Seite her besehen – sich stellt, ist das Problem der dialektischen Einheit von praktischen Einzelfragen, wie z.B. den ökologischen, und dem gesellschaftlichen Gesamtprozess, den es heute revolutionär in Frage zu stellen gilt. Das Herausreißen des ökologischen Fragekomplexes aus dem Zusammenhang mit der klassengesellschaftlichen Totalität – z.B. und vordergründig mit der Frage nach jenem Menschen, wie er sich heute im „sozialdarwinistischen“ Egoismus, in verblödendem Sektentum (Religionsgruppen, Aberglauben, Spiritismus, Okkultismus, Satanismus, Fussballchaotismus usw.), in „modern“-nihilistischer Kunst (z.B. Rock und Malerei) und Wissenschaft niederschlägt – kennzeichnet überwiegend jenen auf dem Niveau des „gesunden Alltagsverstandes“ stehengebliebenen „Grünen“, wie er sich heute als Retter der Menschheit anbietet. Die Abtrennung der ökologischen Frage von der Menschenfrage erinnert an das prophetische Wort von Marx, der die gegenwärtigen Verfallserscheinungen noch nicht kennen konnte und sich deshalb sehr allgemein ausdrückt:
Entfremdet „ist die politische Demokratie, indem in ihr der Mensch als souveränes, als höchstes Wesen gilt, aber der Mensch in seiner unkultivierten, unsozialen Erscheinung, der Mensch in seiner zufälligen Existenz, der Mensch, wie er durch die ganze Organisation unserer Gesellschaft verdorben, in sich verloren, veräußert, unter die Herrschaft unmenschlicher Verhältnisse und Elemente gegeben ist, mit einem Wort, der Mensch, wie er noch kein wirkliches Gattungswesen ist.“

Nicht nur, dass die Verinnerlichung der ideologisch-nihilistischen Verfallserscheinungen einen zutiefst pessimistischen Trend im Denken hervorruft, sondern auch das Verhalten zur Welt und das Handeln werden davon bestimmt. Wie in allem pessimistischen Denken wird der Drang nach „Veränderung“ aktiviert unter der Bedingung der Hinnahme des Bestehenden: Es soll nicht mehr radikal überwunden, sondern nur verbessert werden, was darauf hinausläuft, es zu retten. Die verbale Deklamation, die erfließt aus der theoriefremden Akkomodation an den äußeren Schein, mag dem ungeübten Ohr anders klingen, verdeckt aber nur den reformerischen Eifer zu retten, was nicht mehr zu retten ist. Die „Grünen“ als Linksradikale zu klassifizieren, mag der Begriffsverwirrung der Politiker überlassen werden; sie sind es nicht.

Kein Wunder, dass die durch Renitenzaktionen verschiedenster Art (Alkoholismus, Drogensucht, Kriminalität, Rowdytum, hohlen Rockfanatismus und an die Flagellanten des Mittelalters erinnernde Tanzakrobatik wie auch durch vielfach (glücklicherweise nicht immer) unästhetisch geschnittene und mit dummdreisten Sprüchen beschmierte Kleidung usw.) sich kennzeichnende Jugend gleichzeitig zu 80 Prozent „unseren Staat“ bejaht, wie eingehende Befragungen belegen. Aber es ist ebenso kein Wunder, dass aus dieser selben Jugend die Bewegung der „Grünen“ überwiegend ihre Anhänger schöpft – wobei gegen die Häuserbesetzer, Friedensverteidiger oder Demonstranten verschiedenster Art unter anderen ideologischen Bedingungen nichts einzuwenden wäre. Wie die große Französische Revolution durch die Enzyklopädie eingeleitet wurde, so ist die Enzyklopädie unserer Zeit der dogmenfreie Marxismus, ohne den kein einziger Schritt auf dem Wege der gesellschaftlichen Veränderung getan werden kann. Der ideologische und praktische Problemumkreis der „Grünen“ gewinnt nur da an wirklicher welthistorischer Bedeutung, wo ihm eine gründliche theoretische, die Totalität der Sicht nicht verletzende Aufklärung vorausgeht. In diesem Sinne kann Marx, die lutherische „Aufklärung“ gegen den damaligen reaktionären Katholizismus zum Vergleich nehmend, sagen: „Wie damals der Mönch, so ist es heute der Philosoph, in dessen Hirn die Revolution beginnt.“

Erstveröffentlichung in: Kultur & Gesellschaft. Zweimonatszeitschrift für demokratische Kultur, Nr.4, Juli/August 1989, S.11f. [Nachdruck unter dem Titel „Die Straßenkehrer des Kapitalismus. Zur Tragik der ‚Grünen‘ und ‚Alternativen‘“ in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, Hamburg 2000].

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