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„Mit einer Zehe im echten Reich der Freiheit stehen“. Gespräch mit der Zeitschrift Psychologie heute [1982]

Herr Kofler, mit Ihrer These „Die Sozialpsychologie ist die Lehre von den Ideologien!“ provozieren Sie das Heer empirisch arbeitender Sozialpsychologen, für die der standardisierte Fragebogen, die Einstellungsmessung und das Laborexperiment das A und 0 ihrer Wissenschaft sind. Wie kommen Sie dazu?

Mir ist aufgefallen, dass so profilierte Köpfe wie etwa Klaus Horn oder Alfred Lorenzer oder – um einen Namen aus früheren Jahren zu erwähnen – Charlotte Bühler außerordentlich Interessantes zur Methodologie des Sozialpsychologischen beitragen. Und dies auf der höchsten Ebene theoretischer Reflexion – ich denke hier gerade an Klaus Horn, der versucht, die Psychologie mit dem historischen Materialismus zu koppeln. Aber in ihren Texten hatte ich Mühe, auch nur ein bis zwei Sätze von sozialpsychologischer Relevanz zu finden. Die Frage, wie man Sozialpsychologie betreiben soll und mit welcher Methode, ist zureichend behandelt, aber die Anwendung dieser methodologischen Aussage scheint mir gar nicht vollzogen zu sein, ja missglückt.

Was ist für Sie eine sinnvolle Sozialpsychologie?

Ich habe hier an der Bochumer Universität ein ganzes Semester lang versucht, eine Vorlesung über Sozialpsychologie zu halten, mit dem – auch für mich – überraschenden Ergebnis, dass es Sozialpsychologie im engeren Sinne außerhalb der Ideologiekritik gar nicht geben kann! Sondern dass Sozialpsychologie nur darin besteht, ideologische Prozesse zu begreifen als etwas, das sich über das Subjekt – also den einzelnen Menschen – und durch das Bewusstsein hindurch vollzieht. Im Gegensatz zur traditionellen dialektischen Soziologie legt eine so verstandene Sozialpsychologie ihr Augenmerk mehr auf das Subjekt und versucht, von der subjektiven Seite her ideologische Prozesse nachzuvollziehen. Dann kommt man allerdings zu neuen, erstaunlichen Ergebnissen.

Eines der Themen, mit denen Sie sich im Rahmen Ihrer sozialpsychologischen Arbeiten beschäftigt haben, ist das sich ausbreitende nihilistische Menschenbild, ist die dekadente Haltung: „Alles geht ohnehin zugrunde, es hat alles keinen Zweck, am liebsten würde ich in die Südsee auswandern.“ Ist diese Erscheinung etwas Neues oder kommt sie nur jetzt erst richtig zum Ausbruch?

Die Tendenz des bürgerlichen Bewusstseins, sich dem Nihilismus zu ergeben, setzte mit dem Ende des liberalen Optimismus des 19.Jahrhunderts ein. Mit dem Dekadent-Werden der bürgerlichen Gesellschaft, mit der Zunahme der Widersprüche und Schwierigkeiten, mit der sich immer mehr herauskristallisierenden Unlösbarkeit nicht nur der sozialen und ökonomischen, sondern auch der menschlichen Probleme auf dem Boden des Kapitalismus, hat sich die Ideologie gewandelt. Jetzt gilt der Mensch als „von Natur aus“ materialistisch und egozentrisch. Davon ausgehend werden dann alle übrigen Verhaltensformen und Seinsweisen der bestehenden Gesellschaft gerechtfertigt. Die Zerfallserscheinungen der bürgerlichen Gesellschaft, die sich natürlich in Verfallserscheinungen des öffentlichen und des privaten Lebens äußern – zu denen die konsumgerichtete Vermaterialisierung des Menschen wesentlich gehört –‚ werden zum menschlichen Sein überhaupt erklärt. Das Schlagwort heißt: So ist der Mensch! Ich habe gestern ein Reklameplakat gelesen für einen Film mit dem Titel „Das Tier“. Darunter stand: „In jedem Menschen steckt das Tier, und wehe, wenn es ausbricht“. In dieser Aussage ist die gesamte nihilistische Philosophie des bürgerlichen Bewusstseins zusammengefasst.

Sie haben einmal ein Beispiel gebracht für einen Bourgeois, der mit seinem Mercedes 600 liegenbleibt und die Straßenbahn benutzen muss. Dass dieser einen ungeheuren Ekel…

… gegenüber der Masse, den Mitfahrenden, hat.

Welche Funktion hat dieser Nihilismus, dieser Ekel vor der Welt, von der auch Arbeiterjugendliche sagen, dass sie sie „ankotzt“?

Man muss diesen Prozess auch den verschiedenen Klassen zuordnen; also er bekommt beim Proletariat eine andere Aussageform als beim Kleinbürgertum und beim Bürgertum. Für den Bourgeois gilt: Aufgrund seiner Verfügung über Muße, Geld, die Möglichkeit zu weiten Reisen und Vergnügungen versucht er, dieser Welt zu entrinnen, und in gewisser Weise gelingt ihm das auch. Schon Marx hat festgestellt: Der Bourgeois fühlt sich wohler, obwohl auch er der Entfremdung nicht entrinnen kann. Er fühlt sich wohler, sonst wäre jeder Wunsch, herrschen zu wollen, sinnlos. Dieser Versuch, aus dieser Welt zu entrinnen, vollzieht sich in der Weise, dass er sein Ich in den Vordergrund schiebt; er baut sich eine eigene subtile Welt der ichbezogenen Philosophie, Kunst, Weltanschauung, sogar politischer Anschauungsformen auf, in der er sich zu Hause zu fühlen versucht. Dieses Entrinnen (das, was ich von jetzt ab sage, gilt – wenn auch variiert – auch für die übrigen Schichten der heutigen Gesellschaft) ist auch verbunden mit einem Rückzug ins Privatleben und dem Versuch, der Politik zu entkommen.

Diese weitgehende Politikabstinenz trifft ja heute auch auf einen großen Teil der Jugend zu.

Ja. In einer neueren Umfrage bei deutschen Jugendlichen erklärten 90 Prozent, sie wollten mit Politik nichts zu tun haben. Dies trifft, wenn auch nicht ganz so krass, ebenfalls auf die Eltern zu. Auch sie begegnen der Politik mit größtem Misstrauen und beschäftigen sich mit ihr nur da, wo sie Grund haben, sich zu ängstigen. Dann aber auch nur, um zu überlegen, wie sie dem Verhängnis entrinnen können, etwa durch Auswanderung oder durch vermehrtes Sparen. Nur so kommt Politik heute noch an die Menschen in der Masse heran, und dieses Votum der Jugendlichen ist bezeichnend. Auch sie träumen von der Gründung einer Familie, von der gesicherten materiellen Grundlage, vom neuen Auto und von weiten Reisen und möglichst auch noch – wenn sie schon so weit sind – von einer Mätresse neben der Ehefrau. Genau das kennzeichnet die Tendenz der Reprivatisierung des Lebens. Die Leute merken nicht – und damit komme ich auf den Nihilismus zurück –, dass die Bausteine ihrer seelischen, weltanschaulichen und privaten Reflexionen keiner anderen Sphäre entnommen sind als der äußeren bestehenden Gesellschaft.

Welche Bausteine meinen Sie?

Ich meine solche Aussagen wie: „Der Mensch ist von Natur aus böse, egoistisch“ und so weiter. „Er ist sündig“, sagen die Theologen. Was der Mensch in seiner Masse heute will, ist die Absicherung seines Ich nach verschiedenen Seiten hin – also seines Privatlebens –, und was ihn bedrängt, sind Dinge, die aus der Außenwelt kommen; sie führen zu Sorge, Depression, misslungener Erotik, Schuldgefühlen und ähnlichem mehr. In Wirklichkeit entrinnt er also der äußeren Welt nicht; denn er entnimmt die Bausteine seiner Reflexionen der bestehenden äußeren Welt und ordnet sich ungewollt ein in den herrschenden Nihilismus.

Äußerlich gesehen leben wir trotz dieser Erscheinungen von Depression, Selbstmordneigungen, Verzweiflung oder auch nur Missbehagen in einer Gesellschaft, die so frei ist wie in der Geschichte Deutschlands noch nie eine war. Wir haben in diesem Land heute das höchste Ausmaß an persönlicher Freiheit. Wie ist dieser Widerspruch in Ihren Augen zu erklären?

Der Mensch lebt heute in der tiefsten Entfremdung, das heißt in der Entgeistigung, der Ent-Emotionalisierung. Unverschuldet fehlt ihm die Fähigkeit, seine vielfältigen Kräfte und schöpferischen Tendenzen zu gebrauchen. Der Mensch ist in seiner großen Masse ein armseliges Wesen geworden. Selbst diejenigen, die das reflektieren – etwa wir Professoren – entrinnen dem nicht. Unser einziger Vorzug ist der, dass wir das wissen und damit bereits mit einer Zehe im echten Reich der Freiheit stehen, mehr aber auch nicht… Indem der Mensch so geartet ist, vermag er die Freiheiten, die man ihm zu einer ganz bestimmten Zeit angeboten hat, nicht wahrhaft zu gebrauchen. Sie werden für ihn bloße Ventile, Surrogate und Gegenstände des Missbrauchs. Ein Beispiel: Neulich hat mir jemand begeistert erzählt, er sei in Berlin gewesen, habe sich da in der „halbseidenen Unterwelt“ aufgehalten, die ihn außerordentlich beeindruckt habe. Das ist einerseits eine reine ideologische Täuschung, denn diese Leute gebrauchen die Freiheit in einem menschlich nicht zureichenden Sinn; sie sind im Grunde arme Teufel. Andererseits schaffen sie eine Scheinkultur, in der sie versuchen, sich von der Alltagswelt abzusetzen. Dadurch erhält diese Kultur eine gewisse Farbigkeit, die sich von dem düsteren, ausgetrockneten, verdorrten Leben des Alltagsmenschen unserer Zeit bis hinauf zur Bourgeoisie unterscheidet. Dass diese Subkultur für jemanden, der von einem Tag auf den anderen dort hineingerät, eine gewisse Anziehungskraft hat, kann ich verstehen. Das Interessante ist aber, dass in solchen Subkulturen die allerletzten Reservate scheinbarer Freiheit zu finden sind.

Sie sprechen häufig davon, dass die Aufhebung von Tabus in der bürgerlichen Gesellschaft nur Scheinfreiheit bringt. Warum ist das so?

In der Situation der Entfremdung sind die Menschen so in ihren Fähigkeiten reduziert, dass sie diese Freiheiten gar nicht gebrauchen können. Würden sie diese Freiheiten ernsthaft ausnutzen, wäre das der wichtigste Ansatzpunkt zur Überwindung dieser Welt, in der wir leben. Die Herrschenden stellen diese Freiheiten zur Verfügung oder lassen sie zumindest zu, weil sie wissen, dass sie nicht wirklich gebraucht werden. Auch hierzu ein Beispiel: Dieselben Jugendlichen, die abends mit den Motorrädern herum rasen, um die Leute zu ärgern, die bei Rock-Veranstaltungen die Tische und Stühle zertrümmern und sich benehmen wie Irrsinnige; dieselben Jugendlichen auch, die auf Demonstrationen Händel mit der Polizei anfangen (es kann ja gelegentlich auch berechtigt sein, denn auch die Polizei kann provozieren), genau dieselben Jugendlichen sind interessanterweise die Bravsten am Arbeitsplatz.

Was ist Ihre Erklärung dafür?

Sie werden bezahlt, sie sind vermaterialisiert – und sie sistieren auch auf diesem Wege in gewissem Sinne das Schuldgefühl, das sich anhäuft. Denn sie wissen nicht ganz genau, ob sie mit ihrem „privat“ im Alltag gezeigten Verhalten recht oder unrecht haben; sie lassen sich treiben durch das Fatum ihrer Entfremdung. Das gleiche gilt auch für ihr Verhalten auf erotischem Gebiet, beispielsweise wenn sie ihre Freundin oder ihre Frau betrügen. Man weiß, dass nicht nur die Onanie tiefe Schuldgefühle beim jungen Menschen hinterlässt, sondern auch der Besuch eines Bordells. Die Aufhebung von Tabus schafft eine Scheinfreiheit, die wiederum zu Schuldgefühlen führt. Und dieses Schuldgefühl ist schließlich Ursache für eine freiwillige Anpassung an die Spießermoral.

Was ist der Unterschied zwischen der Scheinfreiheit, die Sie hier skizziert haben, und der wirklichen Freiheit?

Das ist eine wichtige Frage. Man kann nämlich über Freiheit und über Entfremdung nur diskutieren, wenn man einen Maßstab dafür hat. Und dazu bedarf es einer – wenn auch sehr vorsichtig und sehr exakt definierten – Anthropologie. Mir scheint, dass der Mensch im Letzten auch zu definieren ist als ein erotisches Wesen, nicht als ein bloß sexuelles. Unter Erotik verstehe ich diese Dreifalt von der Welt der Liebe, der Welt der Sympathie und Geselligkeit und der Welt der Kultur. Sie sind zueinander aufs engste vermittelt, ja letztlich identisch. Gemeinsam ergeben sie das, was bei Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung und bei Marx in den Grundrissen und im Kapital Spiel heißt. Nicht Spielerei, sondern Spiel, wovon Marx sagt, dass es etwas sehr Ernstes sei. Dieser Begriff deckt sich, wenn man ihn richtig verstanden hat, mit dem Begriff des Erotischen und dieser wiederum – womit sonst – mit dem Begriff des Menschen schlechthin. Indem wir den Menschen definieren als identisch mit Spiel und Erotik, können wir zugleich wissen, was dann der Mensch ist, der dieser Definition nicht entspricht. Selbstverständlich ist diese Definition eine abstrakte, über-geschichtliche, ganz im Sinne etwa von Lenins Definition der absoluten Wahrheit, die ein reines, absolutes Ideal darstellt. Ihm nähert sich der Mensch in asymptotischer Weise ständig an, aber er erreicht es niemals ganz. Würde der Mensch dieses absolute Ideal voll und ganz erreichen, würde die Geschichte aufhören.

Ist jemand freier als andere, wenn er die Scheinfreiheit durchschaut und etwa meint: „Konsumfreiheit ist für mich keine Freiheit. Ich verweigere mich“?

Man muss unterscheiden zwischen dem Wissen um diese Freiheit und dem Versuch, der tatsächlichen Unfreiheit zu entfliehen. Um mit dem letzteren zu beginnen: Diesen Versuch halte ich für eine ideologische Illusion – mit tragischen und gefährlichen Konsequenzen, nicht nur für den einzelnen, sondern auch für das politische Bewusstsein insgesamt. Man zieht nämlich aus dieser Haltung heraus den Schluss, dass auch eine künftige, fertige und vollendete sozialistische Gesellschaft den Konsum reduzieren muss, gerade im Dienste der Freiheit. Das ist eine große Täuschung. Wirkliche Freiheit ist nur möglich unter der Bedingung der Überflussgesellschaft! Nur wo der Mensch mehr hat, als er braucht, wo er mehr bekommen kann, als er braucht, vermenschlicht – entmaterialisiert – er sich. Unter der Bedingung von Armut ist eine Entfaltung der Persönlichkeit nur in Ausnahmefällen möglich.

Mit anderen Worten: Nur der Reiche kann sich frei entfalten?

Ja, aber in unserer Gesellschaft misslingt das auch ihm. Denn ein Mensch, der Sklavenhalter ist und dauernd den Abhängigen reproduzieren muss, kann selbst niemals wirklich frei sein, obgleich er in gewissem Sinne freier ist als andere. Der wichtigste Schritt für alle Menschen aber ist das Wissen um die Freiheit. Und da tun die Herrschenden alles, um uns diese Erkenntnis vorzuenthalten. Beispiel: Man genießt das Theater. Man genießt Die Räuber von Schiller, und dann geht man nach Hause und hat längst vergessen, dass im Jahre 1786 die Zuschauer bei der ersten Aufführung dieses Stückes in Tränen ausbrachen und einander um den Hals fielen, weil sie sich als Zeugen eines revolutionären Akts empfanden. Heute ist uns der tiefere Sinn dieses Stückes verlorengegangen, weil man uns dahin erzieht, das Gelesene, Gehörte oder Erlebte zu genießen und nicht nach dem letzten und wahren Sinn zu fragen, nach dem humanistischen Sinn zu fragen. Wir müssen uns schulen, um unter die Oberfläche der Dinge zu schauen, das ist der wirkliche Weg zur Freiheit. Das ist übrigens auch die Tragödie der Alternativen heute, dass sie keine Theorie mehr treiben, ja häufig nicht einmal mehr diskutieren.

Was frappiert – übrigens auch bei Leuten, die sich in ihrem Privatleben in der alternativen Szene bewegen – ist die totale Trennung zwischen der „Auflehnung“ im Privatleben und der Tatsache, dass sich dies nicht im Arbeitsbereich auswirkt. Hier scheint eine absolute Trennung zweier Welten stattzufinden, wo man doch erwarten sollte – und erwartet –‚ dass wenigstens ein Funke der Renitenz auf die Fabriken und Betriebe überspringt.

Dazu ist zweierlei zu sagen. Zum einen wollen ja dieselben jungen Menschen in dieser Welt zurechtkommen, sie wollen ja nicht heimatlos leben, das wäre ihr Untergang, ihr Tod. Da bliebe wirklich nur noch der Selbstmord übrig, und das wollen sie in ihrer großen Mehrheit ja nicht. Also ordnen sie sich da unter, wo sie etwas davon haben. Zum anderen ist es immer so gewesen, dass zwischen dem privaten und dem öffentlichen Leben ein Unterschied bestand. Im Privatleben erlaubt sich der Mensch mehr. Also: Wir beobachten, dass 90 Prozent der heutigen Menschen Spießer sind, die sich mit dieser Gesellschaftsordnung irgendwie – wenn es ihnen auch manchmal schwerfällt – identifizieren. Gleichzeitig meckern sie ununterbrochen. Sie müssen sich Luft machen, sie müssen Ventile suchen, sonst würden sie explodieren unter dem Druck von all dem, worunter sie leiden. Aber Meckern ist noch lange nicht Kritik! Dazu ist Aufklärung nötig. Ich habe so meine eigene Art vorzugehen, ich provoziere dauernd. Lassen Sie mich hierzu zwei Beispiele erzählen, die ich für charakteristisch halte. Ich gehe in Essen spazieren und sehe, wie ein junger Mann ein Papier wegwirft. Da sagt ein älterer Mann zu mir: „Wie der sich benimmt!“ Daraufhin sage ich: „Ich habe gehört, dass in Moskau die Straßen viel sauberer sind als bei uns. Das hängt irgendwie mit der Erziehung zusammen.“ Daraufhin guckte der mich so an und sagte: „Warum gehen Sie nicht hinüber?“ Derselbe Mensch also, der es bemeckerte, dass jemand die Straße beschmutzt, fand nicht den Weg zu der eigenen logischen Konsequenz, um etwa zu sagen: „Ja, wenn das also wahr sein sollte, dass in Moskau die Leute das nicht oder weniger tun als bei uns, dann weil sie da besser erzogen sind.“ Diesen einfachen Schritt konnte er nicht tun.

Ein weiteres Beispiel: Vor kurzem ging ich an einem Zeitungsstand vorbei, da kaufte so ein armes, verhärmtes Mütterchen dieses Nazi-Blatt, die Deutsche Nationalzeitung, die den Leuten einreden will, sie seien etwas Besseres, weil sie zur germanischen Rasse gehören. Die Frau war vielleicht 50 Jahre alt, und ich bin immerhin – das ist wichtig für die Geschichte – schon 74. Daraufhin sagte ich zu ihr: „Wie kann man nur so etwas lesen!“ Da sagte sie: „Das ist meine Sache!“ Sag ich: „Liebe Frau! Schauen Sie, ich bin mindestens ein Vierteljahrhundert älter als Sie und bin Jude, und wie ich aussehe und wie Sie aussehen, das haben Sie nötig!“ Offensichtlich erlebt sich diese Frau, die an ungeheuren Minderwertigkeitsgefühlen leidet, als Zugehörige zu einer höheren Rasse, und da ist es ja auch gleichgültig, dass sie aussieht wie ein verhutzelter Zwerg im Urwald. Und gerade aufgrund solcher in den Massen bestehenden Minderwertigkeitsgefühle, die die verschiedensten Formen annehmen können, könnte man gut Aufklärung tätigen. Es ist die Aufgabe von politischen Bewegungen, daraus ein revolutionäres Bewusstsein zu machen. Diese Bewegung fehlt aber gerade bei uns und in den USA – darin besteht die Ähnlichkeit zwischen den beiden Welten.

Diese Aufklärung hat es vielleicht deshalb besonders schwer, weil viele Menschen denken, dass die Freiheit, die sie erstreben – mit Ausnahmen vielleicht – , bereits vorhanden ist, nach dem Motto: „Wir haben die freieste aller Gesellschaften“. Die Konsumfreiheit suggeriert ja auch beispielsweise, dass es zwischen Arbeiter, Kleinbürger und Bürger der sogenannten „Oberschicht“ keinen Unterschied gibt; im Prinzip kann sich jeder seinen BMW kaufen. Eine Überflussgesellschaft, haben Sie vorhin gesagt, muss es auch im Sozialismus sein. Unter den jetzigen gesellschaftlichen Bedingungen sprechen Sie aber nicht von einem grenzenlosen Genuss, von einem vorherrschenden erotischen Prinzip, sondern Sie sagen: In dieser spätbürgerlichen Gesellschaft herrscht das Prinzip des asketischen Eros. Was verstehen Sie darunter?

Schon rein empirisch lässt sich in dieser Welt der scheinbar grenzenlosen Freiheit feststellen, dass der überwiegende Teil der Menschen dasselbe denkt, dasselbe will, dasselbe tut. Und weil die Menschen uniformiert sind in ihrem Bewusstsein, ihren Gefühlen und Bedürfnissen, diskutieren sie zum Beispiel nicht ernsthaft, denn Diskussion besteht ja in der Artikulation verschiedener, entgegengesetzter Meinungen. Manchmal mische ich mich im Gasthaus unter die Leute und höre zu, was sie reden. Sie reden entweder vom Fussball oder machen immer dieselben Witze oder sagen gar nichts, stundenlang. Die Uniformiertheit ist wirklich total. Und daraus ziehen Wissenschaftler dann den Schluss, dass wir in einer ent-ideologisierten Gesellschaft leben, weil die Leute ihren Unmut nicht artikulieren, nicht einmal mehr streiten. Ich habe schon darauf hingewiesen, dass die herrschende Ideologie gleichzeitig durch negative Momente des Bewusstseins bestimmt wird wie Schicksal, das Hässliche, der Egoismus, das Böse und so weiter. Solange das in der Bevölkerung vorherrscht, kann man nicht sagen, dass Freiheit herrscht.
Diesem Bewusstsein steht eine Welt vermeintlichen totalen Genusses gegenüber, eine Welt, in der es alles gibt. Aber die Fähigkeit zu konsumieren, der Eros auf diesem Gebiet, ist zugleich klassengebunden. Das krasseste Beispiel hierfür sind die USA, die über 50 Prozent der Gesamtwirtschaft in ihren Händen haben. Hier leben zwei Fünftel der Menschen unter dem Existenzminimum. Es gibt eine eigenartige dialektische Relation zwischen der Situation der Konsumfähigkeit der Gesamtgesellschaft und dem Zurückbleiben der großen Masse hinter diesen Konsummöglichkeiten. Will der Alltagsmensch hierzulande im Sommer nach Spanien fahren, muss er sparen. Und sparen heißt Verzicht. Um genießen zu können, muss der Mensch verzichten, verzichten und nochmals verzichten. Und wenn er sich den Genuss „geleistet“ hat, muss er wieder verzichten, um irgendwann wieder genießen zu können. Das ist die Dialektik des asketischen Eros.

Und dieses Prinzip des asketischen Eros wirkt sich bei den verschiedenen Klassen unterschiedlich aus, sagen Sie?

Natürlich. Ein kleiner Teil der Gesellschaft konsumiert so viel, dass dadurch ein Entzug entsteht gegenüber anderen Schichten. So dass die einen zugunsten der anderen arbeiten – und verzichten, mit anderen Worten, Askese üben müssen. Hinzu kommt die besondere Funktion des Eigentums für Arbeiter und Kleinbürger, also die Angestellten. Wenn sie sich mit Müh und Not ein Häuschen bauen, ihre Gesundheit aufs Spiel setzen, weil sie nach achtstündiger Arbeitszeit noch weiter arbeiten, dadurch weniger leben, erscheinen sie in der Statistik als Eigentümer. Aber in welcher Weise sind sie Eigentümer? Erstens sind sie in bestialischer Askese dazu gekommen, und zweitens müssen sie dauernd darauf achten, dass dieses bisschen Eigentum nicht wieder zerfließt. Sie müssen sich dauernd anstrengen, das Eigentum zu erhalten und möglichst noch zu vermehren. Hier entsteht also eine Dialektik von Genuss und Askese, die sich in repressiver Weise gegen die Menschen wendet.

In Ihrem Buch Der asketische Eros beschreiben Sie, wie in der Geschichte „aus dem den Genuss zum Gleichmaß zwingenden Apollinischen ein Prinzip des düsteren Arbeitszwanges“ wurde und aus dem „Schöpferisch-Genießerischen des Dionysischen … das Genießerisch-Eigensüchtige“. Das dionysische Prinzip wird Ihrer Ansicht nach unterdrückt und das Apollinische hat überhandgenommen. Was verstehen Sie darunter?

Es tobt ein ungeheurer Kampf im Alltag zwischen der Verdinglichung – im Sinne von Entfremdung –‚ in der der Mensch steht, und dem Streben nach Re-Erotisierung des Lebens. Die verdinglichten Momente dringen so tief in den Alltag ein, gegen den Willen und die Absicht des Menschen, dass er sich dem nicht entziehen kann. Das ist ein Kampf, der hin– und hergeht. Man fährt in Urlaub, in der Hoffnung, dann etwas zu erleben, ist enttäuscht und kommt wieder zurück in die Ordnung des Alltags – die man als Last erlebt. Der Drang auszubrechen wird rationalisiert durch eine strikte Sistierung auch des Alltags, die eindringt von der Arbeitswelt.

Ist es denn überhaupt möglich, die rationale Tätigkeit – das Apollinische –‚ mit dem irrationalen Eros – dem Dionysischen – wieder zu verbinden, oder ist das nur ein Traum?

Nein. Diese Dialektik von Apollinischem und Dionysischem ist über Jahrtausende die unbewusste und geheime Triebkraft menschlichen Handelns. Wenn beispielsweise die Sklaven im alten Griechenland bei Tag aneinander gekettet auf den Feldern arbeiteten, nachts dann in ihre unterirdischen Bunker zurückverwiesen wurden, wo man sie von ihren Ketten befreite und einsperrte, so haben sie Flöte gespielt, sie haben geliebt, sie haben gesungen und getanzt. Sie haben sich an die letzten Reste dessen geklammert, was Leben ausmacht. Und dieses Streben ist der eigentliche Impuls, die eigentliche Triebkraft, oder wie Marx sagt, die eigentliche „Dampfmaschine aller Geschichte“. Oder schauen Sie sich die Bilder von Breughel an, wie diese armseligen, gedrückten und verkrüppelten Bauern zusammensitzen, stampfen und springen, lachen, saufen und fressen – und man lässt sie auch. Die Herrschenden wissen ganz genau, dass man solche Reservate dem Volk lassen muss, sonst erhebt es sich. Nach vorwärts betrachtet, kann man sagen, das ist der Sinn der Geschichte: die Verwirklichung dieser Dialektik.

Damit verstehen Sie allerdings etwas anderes unter dem Sinn der Geschichte als andere Wissenschaftler.

Der Begriff des Sinns wurde von bestimmten Strömungen der modernen bürgerlichen Wissenschaft entschärft. Bei dem Systemtheoretiker Niklas Luhmann zum Beispiel heißt Sinn so viel wie: dass etwas in einem bestehenden System mit einer Aufgabe erfüllt wird. In dieser Bedeutung spreche ich auch gelegentlich von Sinn, aber das ist nicht der soziologisch-anthropologische und schon gar nicht der sozialpsychologische Sinn des Begriffs Sinn. „Sinn“ wird gebraucht im dialektischen Zusammenhang von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Sinn heißt, dass die Utopie, das Künftige, schon im Gegenwärtigen angelegt ist, rumort und arbeitet. Und zwar wesentlich, auch wenn die Menschen in bestimmten Epochen noch weit davon entfernt sind. Der Arbeiter, der im Urlaub nach Spanien fährt, weiß nicht, dass er damit eigentlich nichts anderes versucht, als ein Stückchen der Dialektik von Apollinischem und Dionysischem zu verwirklichen. Der Sinn der Geschichte liegt also darin, dass diesem unbewussten Ziel zugearbeitet wird. Mit anderen Worten: Der Sinn der Geschichte steht nicht außerhalb von ihr, wird nicht äußerlich an sie herangetragen, sondern ist in der Geschichte selbst vermittelt. Wenn wir den Begriff des Sinns ins Theoretische heben, so kommen wir zur Utopie. Die wirkliche, echte Utopie – möge sie auch noch so abstrus erscheinen, etwa für den bürgerlichen Kopf die marxistische Utopie – liegt ebenfalls in der Gegenwart begründet. Wobei jede Utopie sich, hintergründig und zentral zugleich, durch diese Dialektik von Apollinischem und Dionysischem definiert. Wo diese Dialektik als verwirklicht erscheint, haben wir den absoluten Begriff der Utopie. Wo diese Dialektik erscheint als etwas, das sich diesem Ziel annähert, was sich durch die Geschichte begründen und beweisen lässt, haben wir es zu tun mit der realen Utopie.

Und der Marxismus, glauben Sie, ist nach wie vor die Grundlage für eine humanistische, reale Utopie?

Deswegen ist er das, weil sein ganzes System durch strenge Durchrationalisierung auf den Menschen bezogen ist, und der Mensch sich nur definieren lassen kann durch die Dialektik von Apollinischem und Dionysischem. Deswegen im Kapital das Wort vom „Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte“.

Von Ihren dogmatisch-marxistischen Kritikern werden Sie gerade deswegen besonders angegriffen, weil Sie die Arbeit zum Spiel machen wollen!

Da kann man nur antworten: Das sind Narren. Wer das ablehnt, hat von Marxismus überhaupt nichts verstanden. Es ist ja klar, dass die Frage offenbleibt, ob es jemals gelingt, die gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit voll und ganz abzuschaffen. Es ist sehr wahrscheinlich ein sehr, sehr langer Weg dahin, bis wir Maschinen erfunden haben, die total den Menschen ersetzen. Wobei das Erfinden dieser Maschine ja auch Arbeit ist! Es bleibt also ein Rest von gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit. Aber möglich ist, dass wir eines Tages den Menschen ganz aus der gesellschaftlich notwendigen Arbeitszeit heraushalten können, weil auch das Erfinden schöpferisch wird. Aber davon sind wir noch sehr, sehr weit entfernt. Der Sinn des Begriffs Spiel ist der zu zeigen, dass der zentrale Lebenstag, der sich etwa dann auf 18 bis 19 Stunden erstreckt, so gestaltet werden muss, dass die schöpferische Selbstbetätigung des Menschen – oder das Spiel – relevant bleibt. Wenn das nicht der Fall ist, können wir den ganzen Sozialismus streichen. Sozialismus allein dafür, dass wir statt zwei Würsten drei Würste verschlingen, das ist zu wenig.

Erstveröffentlichung in: Psychologie heute 1/1982, S.43ff. [Nachdruck in Leo Kofler: Zur Kritik bürgerlicher Freiheit, Hamburg 2000].

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