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» Der aufklärerische und der sozialistische Humanismus [1951]

Der aufklärerische und der sozialistische Humanismus [1951]

Der Staatsbürger, dem das öffentliche Interesse vorangeht, und der Bürger als auf sich gestelltes Individuum, dem die Befriedigung des egoistischen Interesses alles ist, waren für die bürgerlich-revolutionären Denker der Aufklärung noch nicht im Verhältnis des Widerspruchs zueinander stehende Begriffe. Zwar kommt die Unterscheidung zwischen dem citoyen und dem bourgeois im 18.Jahrhundert schon vor – z.B. bei Rousseau – aber sie steht zumeist ganz in Übereinstimmung mit der harmonistischen Vorstellung, dass gerade das Ausleben der egoistischen Motive der Individuen die Grundlage für das Sichdurchsetzen jenes „Naturgesetzes“ bilde, dessen Ergebnis die gesellschaftliche Harmonie sein müsse. In dieser Vorstellungsweise lag sowohl die Stärke als auch die Schwäche des aufklärerischen Humanismus der Zeit der Enzyklopädie. Es spiegelt sich zunächst in ihr die kapitalistische Warenstruktur, wie sie sich seit der Entstehung der Städte im 11. und 12.Jahrhundert allmählich über die europäische Gesellschaft ausgebreitet hatte. Im Gegensatz zur feudalen Welt, in der die Beziehung zwischen den Individuen und Klassen eine ständisch-gebundene war und die gegenseitigen Verpflichtungen auf einem, allerdings durch ein „traditionelles Recht“ beschönigten Zwangsverhältnis beruhte, agiert in der bürgerlichen Gesellschaft das Individuum als völlig freier Vertragspartner, dessen Freiheit aus seiner Eigenschaft resultiert, Warenbesitzer wie jeder andere auch zu sein. Es ist hierbei völlig gleichgültig, ob die Waren, die das um seine Existenz besorgte Individuum anzubieten hat, Schuhe, Geistesprodukte oder die bloße Arbeitskraft sind. Das bürgerliche Recht hat sich dieser Tatsache voll angepasst und eine Form entwickelt, die sowohl individualistisch als auch freiheitlich in dem Sinne ist, dass es sich in die Belange des freien Vertragsabschlusses, wie er millionenfach „auf dem Markte“ zustande kommt, nicht einmischt. Aber diese Respektierung der Freiheit schließt auch die Anerkennung der Gleichheit der Individuen in sich. Das bürgerliche Recht ist daher individualistisch, freiheitlich und gleichheitlich in einem. Die bürgerliche Demokratie ist die politische Inkarnation der kapitalistischen Warenstruktur und ihres Rechtsausdrucks. Solange die bürgerliche Revolution gegen die feudale Gesellschaft noch nicht vollzogen war, traten vor allem die französischen Aufklärer des 18.Jahrhunderts für die staatliche Anerkennung des bürgerlichen Rechts und für die Einführung der Demokratie ein. Beides erschien ihnen als die unerlässliche Garantie für die unumschränkte Handlungsfreiheit des Individuums, die wiederum jenen Ausgleich der Interessen, und das bedeutet für sie die aus der Gegensätzlichkeit der Interessen herauswachsende gesellschaftliche Harmonie, zur Folge haben würde, wie sie dann notwendigerweise allen (!) Gesellschaftsmitgliedern zugute kommen müsse. Die aufklärerischen Humanisten dachten hierbei keineswegs einseitig ökonomistisch. Zwar lag ihnen das wirtschaftliche Wohl nicht zuletzt auch der Besitzlosen, die ihrer Meinung nach durch die künftige freiheitliche Entwicklung der Gesellschaft zu Eigentum kommen würden, sehr am Herzen. Was sie aber noch mehr bewegte und als revolutionäre Individualisten bewegen musste, war ihr Traum, dass auch der Grundlage der wirtschaftlichen Harmonisierung der Gesellschaft sich der Mensch nicht nur der Freiheit und des Wohlstandes erfreuen, sondern darüber hinaus und unter Ausnützung dieser Gegebenheiten seine individuellen Kräfte und Anlagen in ungeahnter Weise zur Entfaltung bringen werde. Es ging also letzten Endes den großen Humanisten und Enzyklopädisten der Aufklärungszeit um die Wiederherstellung der im Laufe der Geschichte zerstörten menschlichen Individualität, um die Entwicklung dessen, was sie „Persönlichkeit“ nannten. Ihre optimistische Vorstellung von der künftigen Entwicklung des Menschengeschlechts litt aber vornehmlich daran, dass sie sich zum kapitalistischen Eigentum, das sich vor ihren Augen entfaltete und dessen Bewunderer sie verständlicherweise als Verteidiger des bürgerlichen Aufstiegs gegen den feudalen Verfall sein mussten, völlig unkritisch verhielten. Ihre Idee von der künftigen Teilnahme aller Menschen am wirtschaftlichen Wohlstande der Gesellschaft war daher abstrakt und unbestimmt. Ebenso wie sie in der Arbeitsteilung nur die reichtumsvermehrende Kraft erkannten – Adam Smith hatte sie bekanntlich theoretisch gerechtfertigt – aber ihre unmenschliche, weil die Totalität der Persönlichkeit zerstörende und den Menschen deformierende Wirkung übersahen, genau so übersahen sie im gesamten die in der Entwicklung des kapitalistischen Betriebs liegenden, für die große Masse der Arbeitenden verhängnisvollen Folgen. Sie sahen nur die formale Gleichheit des in der Form des „freien Vertrags“ über sich selbst verfügenden Individuums (des Warenbesitzers), aber nicht, dass „die Republik des Marktes die Despotie der Fabrik deckt“ (Paschukanis). Dieses Sichabfinden mit den unmenschlichen Wirkungen der kapitalistischen Entwicklung stand in einem offenbaren Widerspruch zu den optimistisch-humanistischen Vorstellungen, die die Aufklärer um den Menschen woben. Aus dem Dilemma zwischen dem blinden kapitalistischen Materialismus und dem weit blickenden humanistischen Idealismus konnten jedoch die Denker der Aufklärung begreiflicherweise noch nicht heraus. Immerhin bleibt es unbestreitbar ihr Verdienst, einen optimistischen Humanismus begründet zu haben, der auf den drei Pfeilern des Wohlstandes, der Freiheit und der Persönlichkeit ruht. Das wunderbare Menschenbild, das die bürgerlichen Humanisten malten, zerschellte nach der Revolution an den inneren Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung. Die bürgerliche Klasse, längst einem einseitig praktizistischen Egoismus verfallen, hat es verstanden, auch die Masse der bürgerlichen Ideologen in ihre Niederungen zu ziehen. Über das 18.Jahrhundert wird als über das „vernünftlerische“, „unhistorische“ und im „Aufkläricht“ versinkende Zeitalter gehöhnt, um sich desto besser gegen dessen Humanismus abschirmen zu können. Es ist hier nicht der Ort darzulegen, dass dieses Jahrhundert durchaus nicht so unhistorisch gewesen ist, wie es die Verleumdung wahr haben will – wir erinnern nur an solche Namen wie Bayle, Buffon, Montesquieu, Turgot, Voltaire, Condorcet -, und dass der methodische Standpunkt der Ratio nicht nur eine großartige kritische Waffe jener Zeit darstellte, sondern wesentlich heute noch in Philosophie und Wissenschaft herrschend ist. Das Erbe des alten bürgerlichen Humanismus hat nicht das heutige Bürgertum, sondern der wissenschaftliche Sozialismus und seine politische Verkörperung, die sozialistische Bewegung angetreten. Wir unterstreichen diese Behauptung gegen die stalinistischen Verfälscher der sozialistischen Lehre, die eine solche Kontinuität zwischen dem alten bürgerlichen und modernen sozialistischen Humanismus verleugnen. So scharf in theoretisch-methodischer Beziehung der „alte Materialismus“ durch Marx kritisiert wird (z.B. in der ersten These über Feuerbach), so wahr ist es doch, dass das Menschenbild, das er geprägt hat, in die Grundvorstellung des marxistischen Sozialismus übergegangen ist. Hier sei nur darauf hingewiesen, dass der Marxismus sich keineswegs mit der Lösung des ökonomischen Problems allein, wie vielfach angenommen wird, begnügt, sondern diese Lösung nur als allgemeine, wenn auch unerlässliche Voraussetzung für die „Verwirklichung des Menschen“ betrachtet. Wenn Marx z.B. an John Bellers (einem Quäker des ausgehenden 17.Jahrhunderts) lobt, er habe bereits den Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Erziehung in kritischer Weise erkannt, wenn er mit Engels die verheerende Wirkung der Arbeitsteilung im kapitalistischen betrieb immer wieder schärfstens kritisiert, und wenn er in völliger Übereinstimmung mit Schiller im Kapital vom Spiel der physischen und geistigen Lebenskräfte als Ausdruck des Zusichkommens des Menschen und der Widerherstellung seiner „Totalität“ spricht, so wird es klar, dass es hierbei um nichts anderes als um die Freiheit und Befreiung der allseitig entwicklungsfähigen menschlichen Individualität, um das Menschsein des Menschen im höchsten und besten Sinne geht. Marx sagt einmal, dass unsere Gesellschaft eine Klasse von Menschen hervorgebracht hat, „welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann“. Damit hat er nicht minder den großen bürgerlichen Aufklärern der Vergangenheit aus dem Herzen gesprochen. Er hat aber auch nachgewiesen, dass nur „innerhalb der kommunistischen Gesellschaft, der einzigen, worin die originelle und freie Entwicklung der Individuen keine Phrase ist“, das über die Jahrhunderte hinweg wirkende große humanistische Ideal verwirklicht werden kann.

Zuerst erschienen in: Aufklärung Heft 5/1951, 113-116.